Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 121 V 1



121 V 1

1. Auszug aus dem Urteil vom 9. Februar 1995 i.S. Ausgleichskasse des
Kantons Bern gegen D. und Verwaltungsgericht des Kantons Bern Regeste

    Art. 5, 8 und 9 AHVG, Art. 39 AHVV.

    - Für den Wechsel des Beitragsstatuts in jenen Fällen, wo über die
in Frage stehenden Sozialversicherungsbeiträge bereits eine formell
rechtskräftige Verfügung vorliegt, bedarf es eines Rückkommenstitels
(Wiedererwägung oder prozessuale Revision).

    - Geht es nicht um einen rückwirkenden, sondern um einen für die
Zukunft wirkenden Wechsel des Beitragsstatuts, greift grundsätzlich
die freie erstmalige Prüfung der Statutsfrage Platz unter Beachtung der
gebotenen Zurückhaltung in Grenzfällen.

    - Betrifft die Frage des Statutswechsels sowohl Entgelte, auf welchen
bereits Sozialversicherungsbeiträge erhoben wurden, als auch solche,
die noch nicht Gegenstand einer Verfügung waren, ist für jenen Teil,
über den eine formell rechtskräftige Verfügung vorliegt, zu prüfen, ob
die Voraussetzungen für eine Wiedererwägung oder für eine prozessuale
Revision gegeben sind, während das Beitragsstatut für die übrigen bisher
nicht erfassten Entgelte frei zu prüfen ist.

Auszug aus den Erwägungen:

                     Aus den Erwägungen:

Erwägung 5

    5.- a) Die Ausgleichskasse Basel-Stadt hat mit in Rechtskraft
erwachsenen Verfügungen vom 14. März 1990 vom Beschwerdegegner persönliche
Sozialversicherungsbeiträge aus selbständiger Erwerbstätigkeit von
Fr. 309.-- für das Jahr 1987, Fr. 3'600.40 für 1988 und Fr. 312.--
für das Jahr 1989 gefordert. Dabei ging sie, gestützt auf eine Meldung
der Steuerverwaltung des Kantons Basel-Stadt vom 19. Dezember 1989,
von einem 1987 erlittenen Verlust von Fr. 37'642.-- und einem 1988
erzielten Einkommen von Fr. 38'172.-- sowie einem am 1. Januar
1989 im Betrieb investierten Eigenkapital von Fr. 31'284.-- aus und
setzte die Beiträge für 1987 und 1988 aufgrund des im jeweiligen Jahr
erzielten Verlustes respektive Einkommens und jene für 1989 aufgrund
des Durchschnittseinkommens aus den Jahren 1987 und 1988 fest. Die der
Steuermeldung zugrunde liegende Erfolgsrechnung für das Jahr 1988 zeigt
ferner, dass der Beschwerdegegner unter dem Titel "Einnahmen Computer"
die ihm in diesem Jahr von der Firma H. ausbezahlten Fr. 114'155.--
als Einnahmen verbucht hatte.

    Daraus ergibt sich, dass über die Sozialversicherungsbeiträge auf
den durch die Firma H. dem Beschwerdegegner im Jahr 1988 ausgerichteten
Zahlungen von Fr. 114'155.-- durch die Ausgleichskasse Basel-Stadt am
14. März 1990 rechtskräftig verfügt worden war. Es fragt sich daher, ob
und unter welchen Voraussetzungen die Ausgleichskasse des Kantons Bern
die gleichen Entgelte zum Gegenstand einer erneuten, anderslautenden
Verwaltungsverfügung machen durfte.

    b) Die bisherige Rechtsprechung zu dieser Frage ist uneinheitlich. In
EVGE 1960 S. 312 Erw. 1 in fine hat das Eidg. Versicherungsgericht unter
Hinweis auf EVGE 1956 S. 35 (recte S. 41) und 1959 S. 29 ausgeführt,
dass mit der Änderung des Beitragsstatuts frühere rechtskräftige
Verfügungen über persönliche Beiträge hinfällig werden, "d.h. die neu
verfügte Qualifikation hebt die früheren Verfügungen zwangsläufig auf,
soweit diese damit in Widerspruch stehen".

    In der nicht publizierten Erwägung 5 von BGE 104 V 126 hat das Eidg.
Versicherungsgericht an dieser Rechtsprechung, welche inzwischen in der
Wegleitung des BSV über den Bezug der Beiträge (in der Fassung von 1974)
Niederschlag gefunden hatte, im wesentlichen festgehalten und ergänzt,
rechtlich könne es keinen Unterschied machen, ob die sich widersprechenden
Verfügungen von einer und derselben oder von verschiedenen Ausgleichskassen
stammen, weil die AHV-Verwaltung hinsichtlich der Beitragsbestimmung als
Einheit aufzufassen sei. Weiter hat es indes hinzugefügt: "Im Interesse der
Rechtssicherheit ist aber auch zu beachten, dass die Ausgleichskassen nur
dann auf ein durch rechtskräftige Verfügung geregeltes Beitragsverhältnis
zurückkommen dürfen, wenn sich jene Verfügung als zweifellos falsch
erweist und ausserdem ein praktisch ins Gewicht fallender Betrag auf
dem Spiele steht, wobei dem Umstand, dass die Berechnungsjahre für die
paritätischen Beiträge und die persönlichen Beiträge aus selbständiger
Tätigkeit in der Regel nicht übereinstimmen, Rechnung zu tragen ist".

    Dieser Grundsatz wurde in der Folge nicht mehr konsequent angewandt. Im
Urteil ZAK 1981 S. 384 Erw. 4 hat das Eidg. Versicherungsgericht
erneut dargelegt, dass die Änderung des Beitragsstatuts jede frühere
rechtskräftige Beitragsverfügung für persönliche Beiträge ungültig
werden lasse, somit jede neue Beurteilung notwendigerweise alle früheren
Verfügungen aufhebe, soweit sie im Widerspruch zur neuen Rechtslage stünden
und im Rahmen der Vorschriften noch korrigiert werden könnten. Die gleiche
Auffassung hat es in den nicht publizierten Urteilen W. vom 25. Oktober
1984 und B. vom 9. Dezember 1985 vertreten.

    In ZAK 1985 S. 315 Erw. 3c hat das Eidg. Versicherungsgericht
unter Hinweis auf die nicht veröffentlichte Erw. 5 von BGE 104 V 126
ausgeführt: "Beim Vorliegen eines die beitragsrechtliche Statusfrage
betreffenden Grenzfalles erscheint es als gerechtfertigt, in der
Vornahme eines Wechsels des Beitragsstatuts eine gewisse Zurückhaltung zu
üben. Hiefür sprechen insbesondere der Grundsatz der Verfahrensökonomie
und gegebenenfalls die Möglichkeit, dass die bereits unter dem Titel
der früheren beitragsrechtlichen Qualifikation bezahlten Beiträge unter
Umständen gar nicht mehr zurückgefordert werden könnten wegen Ablaufs
der absoluten Verjährungsfrist des Art. 16 Abs. 3 AHVG. Abgesehen davon
könnte im Falle der Wiedererwägung einer rechtskräftigen Verfügung der
in einem Grenzfall getroffene Entscheid ohnehin kaum je als zweifellos
unrichtig bezeichnet werden".

    An der Aussage, in Grenzfällen sei in der Vornahme eines Wechsels
des Beitragsstatuts eine gewisse Zurückhaltung zu üben, hielt das Eidg.
Versicherungsgericht in der Folge fest, wobei es diese Rechtsprechung nicht
nur dann anwandte, wenn über die streitigen Sozialversicherungsbeiträge
bereits eine rechtskräftige Verfügung vorlag, sondern auch beim Wechsel
des Beitragsstatuts für die Zukunft (ZAK 1989 S. 439, 1986 S. 577 Erw. 3c;
nicht publiziertes Urteil A. vom 30. Dezember 1988).

Erwägung 6

    6.- Gemäss einem allgemeinen Grundsatz des Sozialversicherungsrechts
kann die Verwaltung eine formell rechtskräftige Verfügung, welche
nicht Gegenstand materieller richterlicher Beurteilung gebildet hat, in
Wiedererwägung ziehen, wenn sie zweifellos unrichtig und ihre Berichtigung
von erheblicher Bedeutung ist (BGE 119 V 183 Erw. 3a, 477 Erw. 1, je
mit Hinweisen).

    Von der Wiedererwägung ist die sogenannte prozessuale Revision
von Verwaltungsverfügungen zu unterscheiden. Danach ist die Verwaltung
verpflichtet, auf eine formell rechtskräftige Verfügung zurückzukommen,
wenn neue Tatsachen oder neue Beweismittel entdeckt werden, die geeignet
sind, zu einer andern rechtlichen Beurteilung zu führen (BGE 119 V 184
Erw. 3a, 477 Erw. 1a, je mit Hinweisen).

    Aus diesen im Sozialversicherungs- und allgemein im Verwaltungsrecht
geltenden Grundsätzen folgt, dass die Verwaltung nicht frei ist,
formell rechtskräftige Verfügungen aufzuheben, sondern dass es hiefür
der Voraussetzungen für die Wiedererwägung oder die prozessuale Revision
bedarf. Für den Wechsel des Beitragsstatuts braucht es somit in jenen
Fällen, wo über die in Frage stehenden Sozialversicherungsbeiträge bereits
eine formell rechtskräftige Verfügung vorliegt, einen Rückkommenstitel
(Wiedererwägung oder prozessuale Revision). In diesem Sinne ist die
Rechtsprechung gemäss der nicht publizierten Erwägung 5 von BGE 104 V 126
wieder aufzunehmen. Nur wenn sich die formell rechtskräftige Verfügung,
mit welcher bestimmte Entgelte als Einkommen aus selbständiger oder
unselbständiger Erwerbstätigkeit qualifiziert wurden, als zweifellos
unrichtig erweist und ihre Berichtigung von erheblicher Bedeutung ist,
oder wenn neue Tatsachen oder neue Beweismittel entdeckt werden, die
geeignet sind, zu einer andern rechtlichen Beurteilung zu führen, ist es
zulässig, eine rückwirkende Änderung des Beitragsstatuts betreffend die
gleichen Entgelte vorzunehmen. Geht es indes nicht um einen rückwirkenden,
sondern um einen nur für die Zukunft wirkenden Wechsel des Beitragsstatuts,
greift grundsätzlich die freie erstmalige Prüfung der Statusfrage Platz
unter Beachtung der gebotenen Zurückhaltung in Grenzfällen (ZAK 1989
S. 440 Erw. 2b). Betrifft die Frage des Statutswechsels sowohl Entgelte,
auf welchen bereits Sozialversicherungsbeiträge erhoben wurden, als auch
solche, die noch nicht Gegenstand einer Verfügung waren, ist für jenen
Teil, über den eine formell rechtskräftige Verfügung vorliegt, zu prüfen,
ob die Voraussetzungen für eine Wiedererwägung oder für eine prozessuale
Revision gegeben sind, während das Beitragsstatut für die übrigen bisher
nicht erfassten Entgelte frei zu prüfen ist.