Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 121 I 75



121 I 75

10. Auszug aus dem Urteil der II. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 21.
April 1995 i.S. J. D. gegen Kantonale Steuerverwaltung Thurgau und
Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau (staatsrechtliche Beschwerde)
Regeste

    Art. 4 BV; Art. 46 Abs. 2 BV; Kinderalimente.

    Kinderalimente stehen im interkantonalen Verhältnis dem Wohnsitzkanton
des Empfängers zur ausschliesslichen Besteuerung zu; selbst wenn dieser
Kanton sie nicht besteuert, muss sie der Wohnsitzkanton des Verpflichteten
zum Abzug von dessen steuerbarem Einkommen zulassen (E. 2).

    Im innerkantonalen Verhältnis steht es den Kantonen bis zur vollen
Wirksamkeit des Steuerharmonisierungsgesetzes frei, die Kinderalimente
beim Verpflichteten nicht zum Abzug zuzulassen (E. 3).

Sachverhalt

    A.- J. D. ist im Kanton Thurgau wohnhaft und bezahlte Alimente
für seine drei Kinder aus erster Ehe, B. und S., die ebenfalls im
Kanton Thurgau wohnen, sowie A., die im Kanton Aargau wohnhaft ist. Die
Steuerkommission S. veranlagte J. D. und G. D. für die Veranlagungsperiode
1993/94 mit einem steuerbaren Einkommen von Fr. 51'300.-. Auf Einsprache
hin setzte sie dieses auf Fr. 46'800.- herab. Im Rekursverfahren reduzierte
die Steuerrekurskommission das steuerbare Einkommen mit Entscheid vom
17. Februar 1994 erneut, und zwar auf Fr. 45'300.-. Das Begehren J. D.'s,
dass die an seine Kinder aus erster Ehe bezahlten Unterhaltsbeiträge zum
Abzug zugelassen werden, wurde jeweils abgewiesen. Mit Urteil vom 22. Juni
1994 (zugestellt am 5. Juli 1994) wies auch das Verwaltungsgericht die
Beschwerde der Steuerpflichtigen ab.

    Mit Eingabe vom 7. August 1994 haben J. D. und G. D. staatsrechtliche
Beschwerde wegen Verletzung des Doppelbesteuerungsverbots (Art. 46 Abs. 2
BV) und der Rechtsgleichheit (Art. 4 BV und § 3 der thurgauischen
Kantonsverfassung) erhoben. Sie beantragen, den Entscheid des
Verwaltungsgerichts vom 22. Juni 1994 aufzuheben und den steuerlichen
Abzug von Kinderalimenten zuzulassen.

    Das Bundesgericht heisst die Beschwerde teilweise gut,

Auszug aus den Erwägungen:

                   aus folgenden Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- a) Es stellt nach der in BGE 118 Ia 277 eingeleiteten Praxis
des Bundesgerichts eine unzulässige Doppelbesteuerung dar, wenn der
Schuldner von Kinderalimenten diese in seinem Wohnsitzkanton nicht vom
steuerbaren Einkommen abziehen kann, der in einem anderen Kanton wohnhafte
Empfänger sie aber als Einkommen versteuern muss. Das Bundesgericht
argumentierte, da das neue Bundesgesetz vom 14. Dezember 1990 über die
Harmonisierung der direkten Steuern der Kantone und Gemeinden (StHG;
SR 642.14) in Art. 7 Abs. 4 lit. g und in Art. 9 Abs. 2 lit. c vorsehe,
dass Unterhaltsbeiträge, die ein geschiedener Ehegatte für sich und die
unter seiner elterlichen Gewalt stehenden Kinder erhält, beim Empfänger
steuerbar seien, der leistende Ehegatte sie aber von seinem Einkommen
abziehen könne, rechtfertige sich doppelbesteuerungsrechtlich keine
andere Lösung (E. 3a S. 281). Das Bundesgericht stellte daher gestützt
auf Art. 46 Abs. 2 BV die Kollisionsregel auf, dass Kinderalimente im
interkantonalen Verhältnis dem Kanton zur Besteuerung zugewiesen werden,
in dem der Empfänger seinen Wohnsitz hat, und beim Verpflichteten zum
Abzug zuzulassen sind (E. 3 S. 281).

    b) Das Verwaltungsgericht erwog, die Anwendung des
Steuerharmonisierungsgesetzes in BGE 118 Ia 277 sei damit begründet worden,
dass aufgrund des Doppelbesteuerungsverbots Unterhaltsleistungen nur einmal
besteuert werden dürften. Es kam daher zum Schluss, der Wohnsitzkanton
des Alimentenschuldners müsse die Alimente nur dann zum Abzug zulassen,
wenn die Unterhaltszahlungen beim Empfänger tatsächlich besteuert würden
(wie dies in BGE 118 Ia 277 der Fall war). Im vorliegenden Fall würden
die Unterhaltszahlungen bei den Kindern B. und S., die im Kanton Thurgau
wohnen, und bei der Tochter A., die im Kanton Aargau Wohnsitz hat, nach dem
Steuerrecht der betreffenden Kantone nicht besteuert, so dass der Kanton
Thurgau die Alimentenzahlungen nicht abziehen müsse. Das Verwaltungsgericht
führte weiter aus, die Regelung des Steuerharmonisierungsgesetzes,
wonach die Kinderunterhaltsbeiträge beim Empfänger zu besteuern und beim
Verpflichteten zum Abzug zuzulassen seien, gelte noch nicht unmittelbar;
sondern die Kantone hätten nach Art. 72 Abs. 4 lit. g (recte: Art. 72
Abs. 1) StHG für die Einführung dieser Lösung bis zum 1. Januar 2001
Zeit. Bis zu diesem Zeitpunkt seien die Kantone noch frei zu bestimmen,
bei wem solche Unterhaltszahlungen zu besteuern seien. Falls nach den
geltenden kantonalen Gesetzesbestimmungen eine Zahlung sowohl beim
Verpflichteten als auch beim Empfänger besteuert würde, sei somit eine
der beiden Zahlungen zum Abzug zuzulassen.

    c) Dem kann nicht gefolgt werden. Die Praxis gemäss BGE 118 Ia
277 beruht nicht auf der Anwendung des Steuerharmonisierungsgesetzes,
dessen Wirkung das Bundesgericht nicht entgegen Art. 72 Abs. 1 StHG
vorverlegen dürfte, sondern auf dem Doppelbesteuerungsverbot von Art. 46
Abs. 2 BV. Das Bundesgericht hatte gestützt auf diese Bestimmung zu
entscheiden, welchem Kanton bei der Leistung von Kinderunterhaltsbeiträgen
der Besteuerungsanspruch zusteht und welcher Kanton entsprechend die
Beiträge zum Abzug zuzulassen hat. Wenn es sich dabei für die gleiche
Lösung entschied, die auch dem Steuerharmonisierungsgesetz zugrundeliegt,
geschah dies nicht in Anwendung dieses Gesetzes, das damals noch gar
nicht in Kraft stand und seine volle Wirkung erst ab dem 1. Januar
2001 entfalten wird, sondern um zweckmässigerweise zu vermeiden, dass
die Kinderalimente während der Übergangszeit bis zur vollen Wirksamkeit
dieses Gesetzes anders besteuert werden, als dies nach dem harmonisierten
Steuerrecht der Fall sein wird.

    Wenn nach Art. 46 Abs. 2 BV Kinderalimente dem Wohnsitzkanton des
Empfängers zur Besteuerung zugewiesen sind und beim Leistenden zum Abzug
zugelassen werden müssen, gilt dies nicht nur, wenn der Wohnsitzkanton des
Empfängers der Kinderunterhaltsbeiträge deren Besteuerung vorsieht. Art. 46
Abs. 2 BV verbietet nicht nur die aktuelle, sondern auch die virtuelle
Doppelbesteuerung. Er schliesst also nicht bloss aus, dass zwei oder
mehrere Kantone den gleichen Steuerpflichtigen für die gleiche Zeit und
für das gleiche Steuerobjekt heranziehen (aktuelle Doppelbesteuerung),
sondern auch, dass ein Kanton in Verletzung der geltenden Kollisionsnorm
seine Steuerhoheit überschreitet und eine Steuer erhebt, zu deren Erhebung
ein anderer Kanton zuständig wäre (virtuelle Doppelbesteuerung) (vgl. BGE
117 Ia 516 E. 2 S. 518; 116 Ia 127 E. 2a S. 130; vgl. dazu auch THOMAS
KOLLER, Die Besteuerung von Unterhaltsleistungen an Kinder im Lichte von
BGE 118 Ia 277 ff. [= ASA 61 S. 741 ff.] und deren Auswirkungen auf das
Zivilrecht, in: ASA 62 S. 289 ff., S. 303 f.; ERNST HÖHN, Interkantonales
Steuerrecht, 3. Aufl. 1993, N. 4 zu § 4 S. 67 f.; ERNST HÖHN, Kommentar
BV, N. 33 zu Art. 46 Abs. 2 BV; a. M. BRUNO KNÜSEL, AJP 1993 S. 330).

    d) Da die Kinderalimente dem Wohnsitzkanton des Empfängers zur
ausschliesslichen Besteuerung zustehen, kann der Kanton Thurgau die
vom Beschwerdeführer 1 an seine im Kanton Aargau wohnhafte Tochter
A. bezahlten Kinderalimente nicht besteuern, sondern er muss diese zum
Abzug zulassen. Insoweit ist die Beschwerde wegen Verletzung von Art. 46
Abs. 2 BV gutzuheissen.

    e) Dagegen wirkt sich das Doppelbesteuerungsverbot von Art. 46
Abs. 2 BV im innerkantonalen Verhältnis nicht aus. Dieses steht daher
der Besteuerung der Kinderalimente, die der Beschwerdeführer an die im
Kanton Thurgau wohnhaften Kinder B. und S. bezahlt hat, durch den Kanton
Thurgau nicht entgegen. Das Steuerharmonisierungsgesetz wirkt sich für
diese Alimente noch nicht aus.

Erwägung 3

    3.- Somit sind in bezug auf die Alimentenzahlungen an die im Kanton
Thurgau wohnhaften Kinder die weiteren Rügen zu prüfen, soweit deren
Begründung den Anforderungen von Art. 90 Abs. 1 lit. b OG genügt. Die
Beschwerdeführer berufen sich diesbezüglich auf die Rechtsgleichheit
(Art. 4 BV und § 3 der thurgauischen Kantonsverfassung).

    a) Zunächst machen sie geltend, im Vergleich zu einem
Steuerpflichtigen, der Kinderalimente an einen Empfänger in einem Kanton
zahlt, der die Besteuerung beim Empfänger vorsieht, ergebe sich für sie
eine steuerliche Mehrbelastung von 47%, was durch nichts, insbesondere
nicht durch eine höhere wirtschaftliche Leistungsfähigkeit, gerechtfertigt
sei. Beim Vergleich von alleinstehenden Steuerpflichtigen mit drei Kindern
ergebe sich sogar eine steuerliche Mehrbelastung von 95%.

    Diesem Vergleich ist die Grundlage entzogen, da er nicht
berücksichtigt, dass ein Abzug - wie in E. 2 dargestellt - generell
zugelassen werden muss, soweit die Alimente an einen Empfänger ausserhalb
des Wohnsitzkantons des Alimentenschuldners gezahlt werden. Die Rüge
dringt daher schon aus diesem Grunde nicht durch. Um eine rechtsungleiche
Besteuerung im Vergleich zu anderen Steuerpflichtigen aufzuzeigen, könnte
die Steuerbelastung im übrigen nicht - wie dies die Beschwerdeführer tun -
isoliert aus Sicht des Leistenden betrachtet werden, sondern müsste auch
die Steuerlast beim Empfänger der Leistung mitberücksichtigt werden. Einen
solchen Vergleich stellen die Beschwerdeführer jedoch nicht an; die Frage
ist im Verfahren der staatsrechtlichen Beschwerde nicht von Amtes wegen
zu prüfen (Art. 90 Abs. 1 lit. b OG).

    b) Weiter sehen die Beschwerdeführer sinngemäss eine Verletzung der
Rechtsgleichheit darin, dass der Alimentenschuldner die Alimente nur
abziehen kann, wenn er diese an einen Empfänger in einem anderen Kanton
zahlt, nicht aber wenn er sie an einen Empfänger im gleichen Kanton
leistet. Die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit sei aber in beiden Fällen
die gleiche.

    Diese Rüge ist - soweit sie überhaupt genügend klar erhoben ist
und darauf eingetreten werden kann - ebenfalls nicht stichhaltig. Die
Zahlungen von Alimenten an Empfänger im gleichen oder in einem anderen
Kanton sind unterschiedliche Sachverhalte, die wegen der unterschiedlichen
Steuerhoheit, der sie unterliegen, auch unterschiedlich besteuert werden
können. Kinderalimentenzahlungen an einen Empfänger in einem anderen
Kanton unterliegen nach der dargestellten doppelbesteuerungsrechtlichen
Kollisionsregel der Steuerhoheit dieses Kantons. Der Wohnsitzkanton des
Alimentenschuldners kann jedoch für Alimentenzahlungen, die an einen
Empfänger im gleichen Kanton fliessen, auch eine Besteuerungsordnung
aufstellen, die sich nicht an der entsprechenden Lösung anderer Kantone
orientiert. Wenn Art. 46 Abs. 2 BV zur Vermeidung einer Doppelbesteuerung
verlangt, dass Alimentenzahlungen an einen Empfänger, der in einem anderen
Kanton besteuert wird, abgezogen werden können, so lässt sich daraus nicht
der Schlussziehen, dies müsse auch für Zahlungen an einen Empfänger im
gleichen Kanton gelten. Ein solcher Eingriff in ein rein innerkantonales
Besteuerungsverhältnis würde über die Tragweite des interkantonalen
Doppelbesteuerungsverbots hinausgehen. Die Rechtsgleichheit schliesst
nicht aus, dass die Kantone die Wahl des Systems der Besteuerung der
Kinderalimente - entweder Besteuerung als Einkommen beim Schuldner oder
Besteuerung beim Empfänger mit Abzug beim Schuldner - frei wählen können.

    Dass nach dem thurgauischen Steuerrecht die Alimentenzahlungen
an Empfänger im Kanton Thurgau anders als Zahlungen an Empfänger
in einem anderen Kanton behandelt werden, ist die Reflexwirkung der
Doppelbesteuerungsregel, wonach der Alimentenschuldner die Zahlungen im
interkantonalen Verhältnis abziehen kann, und als Folge des noch nicht
voll harmonisierten Steuerrechts hinzunehmen.