Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 121 I 314



121 I 314

43. Beschluss der II. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 8. November 1995
i.S. Cumali Adir, Selahattin Kilinc und Mehmet Sari gegen Regierungsrat
des Kantons Zürich (staatsrechtliche Beschwerde) Regeste

    Art. 152 OG im Verfahren der abstrakten Normenkontrolle.

    Art. 152 OG gilt grundsätzlich für alle vom Organisationsgesetz
vorgesehenen Verfahren (E. 2). Wegen der Besonderheiten des Verfahrens
der abstrakten Normenkontrolle (E. 3) sind sowohl die Beigabe eines
unentgeltlichen Rechtsanwalts (E. 4a) als auch die Kostenbefreiung (E. 4b)
in der Regel ausgeschlossen. Keine Ausnahme im Falle von Ausländern, welche
die Änderung der Zürcher Verordnung über die kantonalen Polizeigefängnisse
im Hinblick auf die gemäss Zwangsmassnahmengesetz Inhaftierten anfechten
(E. 5).

Auszug aus den Erwägungen:

                          Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- Der Regierungsrat des Kantons Zürich beschloss am 5.  April 1995
die Änderung verschiedener Bestimmungen der Verordnung vom 25. Juni
1975 über die kantonalen Polizeigefängnisse (POV). Im Namen von drei
türkischen Staatsangehörigen, nämlich von Cumali Adir, mit einer
Schweizerin verheirateter Inhaber der Niederlassungsbewilligung, von
Selahattin Kilinc, Inhaber der Jahresaufenthaltsbewilligung, und von
Mehmet Sari, Asylbewerber, erhob Rechtsanwalt Peter Frei am 29. Mai 1995
staatsrechtliche Beschwerde gegen den Beschluss des Regierungsrats. Mit der
Beschwerde wird im wesentlichen hinsichtlich der im Sinne von Art. 13a und
13b ANAG (SR 142.20) Inhaftierten und der übrigen administrativ Verhafteten
die Aufhebung verschiedener Paragraphen der Polizeigefängnis-Verordnung
beantragt. Für das bundesgerichtliche Verfahren wird um Gewährung der
unentgeltlichen Prozessführung und der unentgeltlichen Verbeiständung
durch Rechtsanwalt Peter Frei ersucht.

Erwägung 2

    2.- a) Das Bundesgericht gewährt einer Partei auf Antrag Befreiung von
der Bezahlung der Gerichtskosten unter den zwei Voraussetzungen, dass sie
bedürftig ist und ihr Rechtsbegehren nicht aussichtslos erscheint (Art. 152
Abs. 1 OG). "Nötigenfalls" kann ihr zudem ein Rechtsanwalt beigegeben
werden, dessen Honorar im Falle des Unterliegens vom Bundesgericht
festgesetzt und von der Bundesgerichtskasse ausgerichtet wird (Art. 152
Abs. 2 OG).

    b) Art. 152 OG enthält keine Einschränkungen in bezug auf die Art
des jeweiligen Verfahrens, und das Armenrecht kann an sich für alle vom
Organisationsgesetz vorgesehenen Verfahren beansprucht werden. Demgegenüber
anerkannte die Rechtsprechung einen direkt aus Art. 4 BV fliessenden
Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege vorerst nur für Zivil- und
Strafprozesse und erst nach und nach auch für andere Verfahren. Heute
kann ein derartiger Anspruch grundsätzlich unabhängig von der Rechtsnatur
der Entscheidungsgrundlagen bzw. des in Frage stehenden Verfahrens geltend
gemacht werden (BGE 121 I 60 E. 2 a/bb S. 62; 119 Ia 264 E. 3a S. 265). Das
Armenrecht ist daher, gleich wie nach Art. 152 OG, nun auch unter dem
Gesichtspunkt von Art. 4 BV nicht mehr von vornherein für bestimmte
Verfahrensarten generell ausgeschlossen. Das ändert jedoch nichts daran,
dass die über das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege entscheidende
Behörde der Natur und den Besonderheiten des jeweiligen Verfahrens Rechnung
trägt (vgl. BGE 114 V 228 E. 5a S. 234), wenn sie prüft, ob die Gewährung
der unentgeltlichen Rechtspflege sachlich geboten ist (BGE 119 Ia 264
E. 3b S. 265). So verhält es sich auch für Gesuche nach Art. 152 OG.

    c) Die Gesuchsteller fechten nicht eine konkrete, sie persönlich
treffende Verfügung an, sondern einzelne Bestimmungen einer
regierungsrätlichen Verordnung. Sie beantragen deren Überprüfung im
Verfahren der abstrakten Normenkontrolle. Dieses zeichnet sich durch
Besonderheiten aus, die für die Beurteilung des Armenrechtsgesuchs von
Bedeutung sind.

Erwägung 3

    3.- a) Gemäss ständiger Rechtsprechung kann mit staatsrechtlicher
Beschwerde lediglich die Verletzung in rechtlich geschützten eigenen
Interessen gerügt werden (BGE 117 Ia 90 E. 2a S. 93; 114 Ia 307 E. 3b
S. 311 mit Hinweisen). Zur Verfolgung allgemeiner öffentlicher
Interessen ist die staatsrechtliche Beschwerde nicht gegeben
(ebenda). Dies ergibt sich aus Art. 88 OG, wonach das Recht zur
Beschwerdeführung vorerst demjenigen zusteht, der durch ihn persönlich
treffende Erlasse oder Verfügungen eine Rechtsverletzung erlitten
hat. Wird hingegen ein allgemeinverbindlicher Erlass angefochten und
eine abstrakte Normenkontrolle verlangt, ist die Legitimation in viel
grösserem Umfang anerkannt; es genügt, wenn zumindest eine minimale
Wahrscheinlichkeit gegeben ist, dass der Beschwerdeführer durch den
angefochtenen Erlass früher oder später einmal in seinen rechtlich
geschützten Interessen betroffen werden könnte (BGE 118 Ia 427 E. 2a
S. 430 f. mit Hinweisen). Das bedeutet, dass ein Beschwerdeführer selbst
dann als zur sofortigen staatsrechtlichen Beschwerde gegen einen Erlass
legitimiert erachtet wird, wenn davon auszugehen ist, dass er auch später
ohne weiteres staatsrechtliche Beschwerde erheben und eine (konkrete)
Normenkontrolle erwirken könnte, sollte gestützt auf den fraglichen
Erlass eine ihn belastende Verfügung erlassen werden. Es genügt eine
bloss virtuelle Betroffenheit. Wer einen Erlass anficht, tut dies in der
Regel denn auch nicht (allein) in Verfolgung seiner unmittelbaren eigenen
Interessen, jedenfalls aber nicht aus Gründen, die dem unmittelbaren
individuellen Rechtsschutz zuzurechnen sind. Bei dieser weit gefassten
Beschwerdebefugnis besteht das Risiko, dass eine Person als betroffene
Partei nur vorgeschoben wird, um kostenlos ein Verfahren der abstrakten
Normenkontrolle zu erwirken. Der blosse Umstand, dass das von einer
bedürftigen legitimierten Partei gestellte Normenkontrollbegehren nicht
aussichtslos ist, kann schon aus diesem Grund nicht ohne weiteres Anspruch
auf Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege geben.

    b) Auszugehen ist von Sinn und Zweck des Instituts der unentgeltlichen
Rechtspflege, welches sich am Rechtsgleichheitsgebot orientiert. Danach
soll eine nicht über genügend finanzielle Mittel verfügende Partei in
den Stand versetzt werden, zur Durchsetzung ihrer Rechte einen Prozess
zu führen, und es soll ihr, gleich wie einer vermögenden Partei,
der Zugang zum Gericht möglich sein (vgl. BGE 119 Ia 134 E. 4 S. 135;
Andreas KLEY-STRULLER, Der Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege,
in AJP 2/95 S. 179). Die Aufgabe des Staates beschränkt sich darauf,
den einzelnen dann zu unterstützen, wenn er ohne diese Unterstützung
eines Rechtes verlustig ginge oder sich gegen einen als unzulässig
erachteten Eingriff nicht wehren könnte. Derartige Nachteile drohen
in der Regel nicht bereits dann unmittelbar, wenn ein Gesetz oder eine
Verordnung erlassen wird; erst die Anwendung einer Norm im Einzelfall
führt zu einem massgeblichen Eingriff in Rechte, und es genügt, wenn einer
betroffenen bedürftigen Partei die unentgeltliche Prozessführung in jenem
Zeitpunkt bewilligt wird und der erforderliche individuelle Rechtsschutz
auf diese Weise garantiert bleibt (nicht veröffentlichter Beschluss des
Bundesgerichts i.S. O.D. vom 10. Mai 1988).

    Nur ausnahmsweise wird es sich anders verhalten und ein Anspruch
auf unentgeltliche Rechtspflege bereits für die präventive Anfechtung
einer generell-abstrakten Norm zu bejahen sein, nämlich dann etwa, wenn
aufgrund der Umstände mit einem sofortigen Anwendungsakt zu rechnen
ist und der Betroffene sich gegenüber den rechtsanwendenden Behörden,
zum Beispiel mangels förmlicher Anfechtungsmöglichkeiten, nicht wirksam
wird wehren können.

Erwägung 4

    4.- a) Nach dem Gesagten wird die Beigabe eines unentgeltlichen
Rechtsanwalts für ein Verfahren der abstrakten Normenkontrolle regelmässig
ausgeschlossen sein. Der Staat kann zur Übernahme eines anwaltlichen
Honorars nur verpflichtet sein, wenn andernfalls die Rechte der Partei
nicht wirksam gewahrt werden können. Art. 152 Abs. 2 OG knüpft diese
staatliche Hilfe ausdrücklich an die Voraussetzung der Notwendigkeit
("nötigenfalls"). Notwendig erscheint die Beigabe eines unentgeltlichen
Rechtsanwalts von vornherein nur dann, wenn durch das in Frage stehende
Verfahren die Interessen einer Partei in schwerwiegender Weise unmittelbar
betroffen sind (vgl. BGE 120 Ia 43 E. 2a S. 44 f.). Der Erlass einer Norm
hat in der Regel noch keine derartigen Auswirkungen.

    b) Das Gesetz knüpft die Gewährung der unentgeltlichen Prozessführung
im engeren Sinne (Befreiung von der Bezahlung von Gerichtskosten
und damit Befreiung von der Bezahlung eines Kostenvorschusses) an
weniger strenge Bedingungen als die Gewährung der unentgeltlichen
Verbeiständung durch einen Rechtsanwalt. Art. 152 Abs. 1 OG nennt nur
die zwei Voraussetzungen, dass die Partei bedürftig sein muss und ihr
Rechtsbegehren nicht aussichtslos erscheint; bloss für die Beigabe eines
unentgeltlichen Rechtsanwalts wird das Kriterium der Notwendigkeit erwähnt
("nötigenfalls"; Art. 152 Abs. 2 OG).

    Die publizierte Rechtsprechung (zu Art. 4 BV) zu diesem Kriterium
bezieht sich denn auch allein auf die Frage der Beigabe eines
unentgeltlichen Anwalts. In diesem Zusammenhang ist dafür, ob die Hilfe
eines Anwalts "notwendig" sei, von Bedeutung, ob die Partei in der Lage
ist, ihre Sache angesichts der auf dem Spiele stehenden Interessen selber
wirksam zu vertreten (vgl. BGE 120 Ia 43 E. 2a S. 44 f.). Es geht dabei
nicht um die Frage der Notwendigkeit des Verfahrens als solches, liegt
diese doch regelmässig auf der Hand, sei es, weil eine Strafuntersuchung
und damit ein Verfahren ohnehin im Gang ist, oder weil eine Verfügung
angefochten ist, die ihrer Natur nach direkt in Rechte der Partei
eingreift. Der Begriff "nötigenfalls", welchen Art. 152 OG nur für die
Frage der Verbeiständung ausdrücklich erwähnt, betrifft naheliegenderweise
denn auch bloss die Frage, ob zur effizienten Mitwirkung am Verfahren
die Hilfe einer rechtskundigen Person erforderlich ist. Damit aber
schliesst Art. 152 Abs. 2 (in Verbindung mit Art. 152 Abs. 1) OG nicht
aus, dass für die Frage der unentgeltlichen Rechtspflege insbesondere
auch hinsichtlich der Kostenbefreiung (Art. 152 Abs. 1 OG) berücksichtigt
wird, ob der Prozess als solcher für die Partei "notwendig" sei, wenn
sich diese Frage angesichts der Natur des Verfahrens ausnahmsweise stellt.

    Dass der Gesetzgeber selber das Kriterium der Notwendigkeit des
Prozesses an sich für die Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege
generell als massgeblich erachtet hat, ergibt sich daraus, dass
er die unentgeltliche Rechtspflege für den Fall der Prorogation
überhaupt ausschloss (Art. 152 Abs. 1 zweiter Satz OG), d.h. selbst
dann kein Armenrecht gewähren wollte, wenn zwar ein individuelles
Rechtsschutzinteresse besteht, dem Betroffenen aber noch andere Rechtswege
offenstehen und die Anrufung des Bundesgerichts deshalb nicht erforderlich
ist.

    Auch ein Anspruch auf Kostenbefreiung ist einer Partei nur dann
zuzuerkennen, wenn sie anders ihre Rechte nicht wirksam wahrnehmen
könnte, der Prozess für sie also notwendig erscheint. Dies ist, wie
vorne dargelegt, in der Regel nicht der Fall, wenn eine Norm angefochten
wird. Der Staat ist nicht verpflichtet, einer bedürftigen Partei, welche
eine sie nicht unmittelbar treffende staatliche Massnahme überprüfen lassen
will, die Prozessführung durch finanzielle Hilfe zu ermöglichen. Dies gilt
gleichermassen für die Übernahme des Honorars eines Rechtsanwalts wie für
das Einräumen der Möglichkeit, den Justizapparat kostenlos zu beanspruchen.

Erwägung 5

    5.- a) Die Gesuchsteller sind von den angefochtenen
Verordnungsbestimmungen vorerst nicht unmittelbar betroffen. Die Verordnung
käme auf sie dann zur Anwendung, wenn gegen sie gestützt auf Art. 13a
oder 13b (ANAG) in der Fassung des Bundesgesetzes vom 18. März 1994
über Zwangsmassnahmen im Ausländerrecht (AS 1995 151) Vorbereitungs-
oder Ausschaffungshaft angeordnet würde. Dass es dazu kommen könnte,
erscheint zumindest im Falle von Cumali Adir, welcher als mit einer
Schweizerin verheirateter Ausländer die Niederlassungsbewilligung
hat, äusserst wenig wahrscheinlich. Auch für Selahattin Kilinc,
welcher wegen Vorliegens eines Härtefalles eine von den Höchstzahlen
ausgenommene Aufenthaltsbewilligung hat, werden in absehbarer Zeit die
Verordnungsbestimmungen nicht praktische Bedeutung erlangen. Am ehesten
könnte die Verordnung wohl im Falle von Mehmet Sari zur Anwendung kommen,
welcher Asylbewerber ist. Verschiedene Haftgründe gemäss Art. 13a ANAG
(Vorbereitungshaft) fallen für ihn allerdings vermutlich bereits definitiv
ausser Betracht, nämlich Art. 13a lit. a, c und d ANAG.

    Sollte in Zukunft gegen einen der Gesuchsteller dennoch Haft
gemäss Zwangsmassnahmengesetz angeordnet werden, könnten die gegen die
angefochtene Verordnung geltend gemachten Rügen allenfalls dem Haftrichter
vorgetragen werden, der innert 96 Stunden nach Haftanordnung, ferner nach
drei Monaten Haftdauer und zusätzlich auf Haftentlassungsgesuche hin tätig
werden müsste und dabei auch die Umstände des Haftvollzugs zu prüfen hätte
(Art. 13c Abs. 3 ANAG); zudem stünde gemäss § 49 POV die Möglichkeit des
Rekurses offen, und ein diesbezüglicher letztinstanzlicher kantonaler
Entscheid wäre mit staatsrechtlicher Beschwerde beim Bundesgericht
anfechtbar, welches die dannzumal strittigen Verordnungsbestimmungen in
konkreter Normenkontrolle prüfen würde. Dem Rechtsschutzbedürfnis der
Gesuchsteller ist Genüge getan, wenn sie in einem derartigen Verfahren -
unter den Bedingungen des Art. 152 OG - die unentgeltliche Rechtspflege
beanspruchen können.

    Es besteht somit keine Notwendigkeit, den Gesuchstellern für
das bundesgerichtliche Verfahren einen unentgeltlichen Rechtsanwalt
beizugeben und sie von der Kostenpflicht bzw. der Pflicht zur Bezahlung
eines Vorschusses zu befreien.

    b) Das Gesuch ist demnach vollumfänglich abzuweisen, ohne dass
geprüft werden muss, ob die eingereichten Belege ausreichen, um für jeden
einzelnen Gesuchsteller die Bedürftigkeit im Sinne von Art. 152 Abs. 1
OG nachzuweisen. Es ist ihnen vom Abteilungspräsidenten mit separater
Verfügung Frist zur Bezahlung eines Kostenvorschusses anzusetzen.