Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 121 I 267



121 I 267

37. Auszug aus dem Urteil der II. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 15.
September 1995 i.S. I. M. und S. M. gegen Polizei- und Militärdirektion
des Kantons Bern (staatsrechtliche Beschwerde) Regeste

    Art. 88 OG, Art. 11 Abs. 1 KV/BE; Nichtverlängerung der
Aufenthaltsbewilligung.

    Aus Art. 11 Abs. 1 der Verfassung vom 6. Juni 1993 des Kantons Bern,
wonach jede Person ein Recht auf Schutz vor staatlicher Willkür hat,
ergibt sich für sich allein kein rechtlich geschütztes Interesse im Sinne
von Art. 88 OG und damit insofern auch kein weitergehender Schutz als
aus Art. 4 BV (E. 2 u. 3).

Sachverhalt

    A.- Die Fremdenpolizei der Stadt Bern verweigerte den Eheleuten
M. sowie ihren drei Kindern am 25. Mai 1994 die Verlängerung der
Aufenthaltsbewilligung und setzte ihnen Frist zur Ausreise bis zum 15. Juli
1994. Sie begründete diesen Schritt damit, dass das Ehepaar den ihm in
einem früheren Verfahren gemachten Auflagen betreffend Schuldensanierung
nicht nachgekommen sei.

    Die Polizei- und Militärdirektion des Kantons Bern bestätigte am
5. April 1995 auf Beschwerde hin diesen Entscheid. Das Bundesgericht
tritt auf eine dagegen gerichtete staatsrechtliche Beschwerde seinerseits
nicht ein

Auszug aus den Erwägungen:

                  aus folgenden Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- Die staatsrechtliche Beschwerde ist nur zulässig, wenn die
behauptete Rechtsverletzung nicht sonstwie durch Klage oder Rechtsmittel
beim Bundesgericht oder einer andern Bundesbehörde gerügt werden kann
(Art. 84 Abs. 2 OG). Auf dem Gebiet der Fremdenpolizei ist nach Art. 100
lit. b Ziff. 3 OG die Verwaltungsgerichtsbeschwerde gegen die Erteilung
oder Verweigerung von Bewilligungen ausgeschlossen, auf die das Bundesrecht
keinen Anspruch einräumt. Über Aufenthaltsbewilligungen entscheiden
die zuständigen Behörden im Rahmen der gesetzlichen Vorschriften
und der Verträge mit dem Ausland nach freiem Ermessen (Art. 4 des
Bundesgesetzes vom 26. März 1931 über Aufenthalt und Niederlassung der
Ausländer, ANAG; SR 142.20). Der Ausländer hat somit grundsätzlich keinen
Anspruch auf Erteilung oder Verlängerung einer Aufenthaltsbewilligung,
weshalb die Verwaltungsgerichtsbeschwerde ausgeschlossen ist, soweit
der Betroffene sich nicht auf eine Norm des Bundesrechts oder eines
Staatsvertrags berufen kann, die ihm einen solchen Anspruch einräumt
(BGE 120 Ib 16 E. 1 S. 17/18). Eine derartige Bestimmung besteht hier
nicht: Auf Art. 8 EMRK können sich die Beschwerdeführer nicht berufen,
da die Aufenthaltsbewilligung für die ganze Familie nicht erneuert
worden ist (vgl. unveröffentlichtes Urteil des Bundesgerichts vom
7. November 1994 i.S. M., E. 1a). Art. 11 KV/BE vermag seinerseits
schon deshalb keinen Anspruch im Sinne von Art. 100 lit. b Ziff. 3 OG
zu begründen, weil es sich dabei um eine kantonalrechtliche Bestimmung
handelt. Der Entscheid der Polizei- und Militärdirektion kann demnach
nicht mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde, sondern allenfalls bloss mit
staatsrechtlicher Beschwerde angefochten werden.

Erwägung 2

    2.- Nach Art. 88 OG steht das Recht, staatsrechtliche Beschwerde
zu führen, Bürgern (Privaten) und Korporationen bezüglich solcher
Rechtsverletzungen zu, die sie durch allgemeinverbindliche oder sie
persönlich treffende Erlasse oder Verfügungen erlitten haben. Dabei kann
nur eine Verletzung in rechtlich geschützten eigenen Interessen gerügt
werden; zur Verfolgung bloss tatsächlicher Vorteile oder zur Geltendmachung
allgemeiner öffentlicher Interessen ist die staatsrechtliche Beschwerde
nicht gegeben. Die eigenen rechtlichen Interessen, auf die sich der
Beschwerdeführer berufen muss, können entweder durch kantonales oder
eidgenössisches Gesetzesrecht oder aber unmittelbar durch ein angerufenes
spezielles Grundrecht geschützt sein, sofern sie auf dem Gebiet liegen,
das die betreffende Verfassungsbestimmung beschlägt. Das in Art. 4
BV enthaltene allgemeine Willkürverbot verschafft, soweit Mängel in
der Rechtsanwendung geltend gemacht werden, für sich allein noch keine
geschützte Rechtsstellung im Sinne von Art. 88 OG; die Legitimation zur
Willkürrüge ist nur gegeben, wenn das Gesetzesrecht, dessen willkürliche
Anwendung gerügt wird, dem Beschwerdeführer einen Rechtsanspruch einräumt
oder den Schutz seiner Interessen bezweckt (BGE 120 Ia 110 E. 1a S. 111,
119 Ia 445 E. 1a/aa S. 447, 117 Ia 90 E. 2 S. 93, je mit Hinweisen;
vgl. auch WALTER KÄLIN, Das Verfahren der staatsrechtlichen Beschwerde,
2. Aufl., Bern 1994, S. 237 ff.). Die Beschwerdeführer haben - wie
dargelegt - keinen Anspruch auf Verlängerung ihrer Aufenthaltsbewilligung;
sie verfügen folglich auch nicht über ein rechtlich geschütztes
Interesse, das es ihnen erlauben würde, den Entscheid der Polizei- und
Militärdirektion wegen Verletzung von Art. 4 BV mit Willkürbeschwerde
anzufechten (BGE 118 Ib 145 E. 6 S. 153).

Erwägung 3

    3.- Die Beschwerdeführer berufen sich nun allerdings auf Art.
11 Abs. 1 der neuen bernischen Kantonsverfassung (in Kraft seit 1. Januar
1995, Art. 130 Abs. 1 KV/BE), wonach "jede Person [...] ein Recht auf
Schutz vor staatlicher Willkür [hat]".

    a) Zu den verfassungsmässigen Rechten im Sinne von Art. 113
Abs. 1 Ziff. 3 BV und Art. 84 Abs. 1 lit. a OG, deren Verletzung mit
staatsrechtlicher Beschwerde gerügt werden kann, gehören auch durch die
Kantonsverfassung gewährleistete Rechte, soweit ihnen der Charakter
von Freiheitsrechten, d.h. von individualrechtlichen Garantien zum
Schutz des Bürgers zukommt (WALTER HALLER in Kommentar BV, Art. 113,
Rz. 89 ff.; KÄLIN, aaO, S. 44 ff.; BGE 104 Ia 284 ff.). Solche kantonale
Grundrechtsgarantien haben dort selbständige Bedeutung, wo sie über die
entsprechenden Rechte der Bundesverfassung (oder der EMRK) hinausgehen
oder ein Recht gewährleisten, das die Bundesverfassung nicht garantiert
(KÄLIN, aaO, S. 44 ff.).

    b) Das in Art. 11 Abs. 1 KV/BE enthaltene Willkürverbot ergibt
sich bereits aus Art. 4 BV. Die Beschwerdeführer messen dieser
kantonalrechtlichen Garantie aber insofern eine weitergehende, selbständige
Bedeutung bei, als die bernische Kantonsverfassung - anders als dies nach
der bundesgerichtlichen Rechtsprechung für das Willkürverbot von Art. 4
BV der Fall sei - auch dort Schutz vor willkürlicher Behandlung gewähre,
wo sich der Betroffene nicht auf positive Rechtsnormen berufen könne,
die seinem Schutze dienten. Sie stützen sich dafür auf entsprechende
Ausführungen von Jörg Paul Müller und Urs Bolz (in WALTER KÄLIN/URS BOLZ
[Hrsg.], Handbuch des bernischen Verfassungsrechts, Bern 1995, S. 37
f. bzw. S. 261 f.). Im gleichen Sinne wurde Art. 11 Abs. 1 KV/BE in der
bundesrätlichen Botschaft zur Gewährleistung der neuen Verfassung durch
die Bundesversammlung interpretiert (BBl 1994 I 407; ebenso KÄLIN, aaO,
S. 239 f., FN 95).

    c) Die Beschwerdeführer übersehen, dass die Regelung der Legitimation
zur staatsrechtlichen Beschwerde in der Kompetenz des Bundesgesetzgebers
und nicht in jener der Kantone liegt (HALLER, aaO, Art. 113, Rzn 52
u. 54). Ob ein Beschwerdeführer durch eine behauptete Verfassungsverletzung
hinreichend betroffen ist, um mittels staatsrechtlicher Beschwerde den
Schutz des eidgenössischen Verfassungsrichters anrufen zu können, bestimmt
sich allein nach Art. 88 OG. Bei speziellen Freiheitsrechten ergibt sich
die Legitimation in der Regel ohne weiteres aus der Grundrechtsträgerschaft
bzw. aus dem Inhalt des jeweiligen Grundrechts. Anders liegen die
Dinge beim Willkürverbot, das, obwohl ebenfalls ein Grundrecht, kein
spezielles Schutzobjekt besitzt, das an einen bestimmten menschlichen
Lebensbereich oder an ein bestimmtes Institut anknüpft, sondern, ebenso
wie das verwandte Gebot der Rechtsgleichheit, als allgemeines Prinzip
für sämtliche Bereiche staatlicher Tätigkeit gilt. Wem die Befugnis
zustehen soll, Verletzungen des Willkürverbots dem Verfassungsrichter zu
unterbreiten, ergibt sich nicht ohne weiteres bereits aus dem Inhalt dieser
Garantie; die Legitimation zur Geltendmachung dieses Beschwerdegrundes
bestimmt sich vielmehr, ähnlich wie bei gewöhnlichen Rechtsmitteln der
Verwaltungsrechtspflege, nach Massgabe der Anforderungen, die das jeweilige
Prozessgesetz an Art und Mass der Betroffenheit stellt (vgl. BGE 104 Ia
148 E. 2a S. 152/153; JAKOB HINDEN, Die Legitimation zur staatsrechtlichen
Beschwerde [Art. 88 OG], Diss. ZH 1961, S. 86 ff.).

    d) Auch wenn das bernische Verfassungsrecht das Willkürverbot
ausdrücklich als selbständiges Grundrecht anerkennt und dessen Schutz
"jeder Person" zukommen lassen will, stellt sich doch die durch den
Bundesgesetzgeber bzw. nach der Praxis zu Art. 88 OG zu beantwortende
Frage, wann ein hinreichendes individuelles Rechtsschutzbedürfnis vorliegt,
um eine Beschwerdebefugnis zu begründen. Das Recht zur prozessualen
Durchsetzung des Willkürverbots bedarf notwendigerweise der Normierung
durch das einschlägige Verfahrensrecht; mit der Umschreibung, wonach
"jede Person" Anspruch auf Schutz vor staatlicher Willkür habe, ist die
Frage der Legitimation zur prozessualen Geltendmachung dieses Rechts nicht
beantwortet. Selbst wenn der Kreis der zur Anrufung des kantonalrechtlichen
Willkürverbots Berechtigten (im Sinne der Auffassung der Beschwerdeführer)
weiter zu ziehen wäre, als dies nach der heutigen Praxis zu Art. 88 OG
der Fall ist, so müsste doch, und zwar nach Massgabe des Bundesrechts,
zwangsläufig eine Grenze gezogen werden, da keinesfalls jeder bloss
entfernt oder indirekt Betroffene Entscheide dem Verfassungsrichter
zur Prüfung unterbreiten kann. In diesem Sinne wird denn auch in den
Erläuterungen zum Entwurf des Bundesrats von 1995 für eine Reform
der Bundesverfassung, der in Art. 8 ("Jede Person hat Anspruch auf
Schutz vor willkürlicher Behandlung durch staatliche Organe...") eine
ähnlich lautende Bestimmung enthält wie Art. 11 KV/BE, zutreffend
ausgeführt, dass die Anerkennung des Willkürverbots als selbständiges
Grundrecht über die Frage des Beschwerderechts nichts aussagt und die
bisherige bundesgerichtliche Rechtsprechung zu Art. 88 OG nicht berührt
(Erläuterungen zum Verfassungsentwurf, S. 37).

    e) Die langjährige, gefestigte Praxis zu Art. 88 OG, welche die
Geltendmachung einer Verletzung des Willkürverbots in der Rechtsanwendung
nur dort zulässt, wo die betreffenden Vorschriften (auch) dem Schutz
des Betroffenen dienen oder Ansprüche desselben begründen, hat den
Wortlaut von Art. 88 OG ("Rechtsverletzungen") für sich. Zudem
liegt ihr die Überlegung zugrunde, dass in Bereichen, wo diese
Voraussetzung nicht erfüllt ist und das Ermessen der entscheidenden
Behörde nicht durch positivrechtliche Bestimmungen (oder spezielle
Grundrechtsgarantien) zugunsten des beteiligten Bürgers eingegrenzt wird,
die Wahrscheinlichkeit eines Willkürakts zum vornherein derart gering
erscheint, dass sich ein grundsätzlicher Ausschluss der Beschwerdebefugnis
rechtfertigt. Aus der Sicht des einzelnen Rechtsuchenden mag diese
restriktive Legitimationspraxis, durch welche die Willkürbeschwerde in
gewissen, durch das Fehlen von gesetzlichen Rechtsansprüchen und durch
weitgehende staatliche Ermessensfreiheit gekennzeichneten Bereichen
(z.B. Wahlen und Wiederwahlen von Beamten, fakultative Staatsbeiträge,
Aufenthaltsbewilligungen, Einbürgerungen, Steuererlasse, Begnadigungen
usw.) ausgeschlossen wird, allenfalls unbefriedigend erscheinen; sie
wird in der Doktrin denn auch kritisiert (stellvertretend für viele:
DANIEL THÜRER, Das Willkürverbot nach Art. 4 BV, ZSR 1987 II 466 f.). Die
Praxis erfährt aber immerhin insofern eine Milderung, als der Betroffene
bei fehlender Legitimation in der Sache selber mittels staatsrechtlicher
Beschwerde doch die Verletzung von Verfahrensvorschriften rügen kann, deren
Missachtung eine formelle Rechtsverweigerung darstellt (BGE 120 Ia 220
E. 2a S. 222, 227 E. 1 229/230, mit Hinweisen); ein minimaler Rechtsschutz
ist damit auch in diesen Bereichen gewährleistet. Die beanstandete
Rechtsprechung zu Art. 88 OG beruht im übrigen auf Überlegungen der
Prozessökonomie und dient der Aufrechterhaltung der Funktionsfähigkeit
des Bundesgerichts, indem dieses von zahlreichen, naturgemäss wenig
aussichtsreichen Beschwerden entlastet bleibt (vgl. CLAUDE ROUILLER,
La protection de l'individu contre l'arbitraire de l'Etat, ZSR 1987 II
372). Eine Überprüfung der geltenden Legitimationsregelung scheint deshalb
nur im Zuge einer Gesamtreform der Bundesrechtspflege sinnvoll.

    f) Die Verwirklichung kantonaler Grundrechte obliegt schliesslich
in erster Linie dem betreffenden Kanton (YVO HANGARTNER, Grundzüge des
schweizerischen Staatsrechts, Bd. II: Grundrechte, Zürich 1982, S. 55). Es
ist dem Kanton Bern freigestellt, eine eigene Verfassungsgerichtsbarkeit
einzurichten, deren Inanspruchnahme nicht an die für die staatsrechtliche
Beschwerde geltenden Schranken gebunden ist. Für die Anrufung des
Bundesgerichts gelten jedoch, auch was das in Art. 11 Abs. 1 KV/BE
statuierte Willkürverbot betrifft, die Schranken von Art. 88 OG. Insofern
ergibt sich aus dieser kantonalen Verfassungsbestimmung im Ergebnis somit
kein weitergehender Schutz, als ihn bereits Art. 4 BV gewährt.