Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 121 I 225



121 I 225

31. Auszug aus dem Urteil der II. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 13.
September 1995 i.S. X. gegen Anwaltsprüfungskommission des Kantons Luzern
(staatsrechtliche Beschwerde) Regeste

    Anwaltsprüfung; Akteneinsicht, Befangenheit der Prüfungsexpertin,
Bewertung der Prüfungsarbeit (Art. 4 BV).

    Art. 4 BV gibt grundsätzlich keinen Anspruch darauf, dass bei
Eignungsprüfungen ein Kandidat Einsicht in die Prüfungsunterlagen
der anderen Kandidaten erhält, solange keine konkreten Anhalts- oder
Verdachtspunkte vorgebracht werden, die auf eine rechtsungleiche Behandlung
schliessen lassen (E. 2).

    Ein Ablehnungsbegehren gegen einen Prüfungsexperten muss unverzüglich
geltend gemacht werden, sobald der Ausstandsgrund bekannt ist (E. 3).

    Zurückhaltung des Bundesgerichts bei der Überprüfung von
Examensleistungen (E. 4).

Sachverhalt

    A.- X. hatte im Frühling und im Sommer 1994 zweimal die schriftliche
Anwaltsprüfung im Kanton Luzern jeweils wegen einer ungenügenden Arbeit
im Staats-/Verwaltungsrecht nicht bestanden. Vom 3.-6. Oktober 1994 legte
sie zum dritten und letzten Mal die schriftliche Prüfung ab. Mit Bescheid
vom 2. November 1994 teilte ihr die Anwaltsprüfungskommission mit, die
Prüfung sei nicht bestanden, wobei wiederum eine ungenügende Arbeit im
Staats-/Verwaltungsrecht ausschlaggebend war.

    B.- Nachdem X. ihre Prüfungsunterlagen der Herbstprüfung hatte einsehen
können, verlangte sie mit Eingabe an die Anwaltsprüfungskommission vom 29.
November 1994 Einsicht in ihre Prüfungsarbeit der Frühlingssession
im Fach Staats-/Verwaltungsrecht sowie in die Prüfungsarbeiten
der anderen Kandidaten aus der Frühlings- und Herbstsession im Fach
Staats-/Verwaltungsrecht. Mit Schreiben vom 1. Dezember 1994 überliess
ihr die Anwaltsprüfungskommission die Unterlagen ihrer eigenen Prüfung
der Frühlingssession, wies jedoch den Antrag auf Einsicht in die Arbeiten
der anderen Kandidaten ab.

    C.- Am 2. Dezember 1994 reichte X. staatsrechtliche Beschwerde ein mit
dem Antrag, es sei ihr Akteneinsicht in die Prüfungsunterlagen der anderen
Kandidaten zu gewähren und der Entscheid der Anwaltsprüfungskommission vom
2. November 1994 sei aufzuheben. Die Anwaltsprüfungskommission beantragt
in ihrer Vernehmlassung vom 11. Januar 1995 Abweisung der Beschwerde.

    Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab, soweit es darauf eintrat.

Auszug aus den Erwägungen:

                     Aus den Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- b) Mit der staatsrechtlichen Beschwerde kann grundsätzlich nur
die Aufhebung des angefochtenen Entscheides verlangt werden (BGE 119
Ia 167 E. 1f S. 173, mit Hinweisen). Diese Einschränkung gilt nicht
für Verfahrensanträge (betreffend vorsorgliche Massnahmen, Sistierung,
Abnahme von Beweisen usw.). Die Beschwerdeführerin stellt nicht nur das
Begehren, den Entscheid der Anwaltsprüfungskommission vom 2. November 1994
aufzuheben, sondern sie ersucht das Bundesgericht zugleich um Gewährung
der Einsicht in die Prüfungsunterlagen der andern Kandidaten. Ein
entsprechendes Begehren hatte die Beschwerdeführerin bereits erfolglos
bei der Anwaltsprüfungskommission gestellt. Es fragt sich, ob sie
dieses von der kantonalen Behörde abgelehnte Begehren in Form eines
Verfahrensantrages vor Bundesgericht wiederholen und ihre Beschwerdeschrift
(im Sinne der Rechtsprechung von BGE 107 Ia 1) gegebenenfalls nach
Erhalt der Einsicht noch ergänzen kann oder ob sie zur Geltendmachung
des beanspruchten Einsichtsrechtes nicht den betreffenden Entscheid der
Anwaltsprüfungskommission (Schreiben vom 1. Dezember 1994) hätte gesondert
mit staatsrechtlicher Beschwerde anfechten müssen. Eine vertiefte Abklärung
dieser Frage ist hier nicht notwendig, da die Beschwerdeführerin mit ihrer
Forderung nach Einsicht in die Prüfungsunterlagen der andern Kandidaten,
wie sich zeigen wird, so oder so nicht durchzudringen vermag.

Erwägung 2

    2.- a) Der Umfang des Anspruchs auf Akteneinsicht bemisst sich primär
nach kantonalem Recht, subsidiär nach den aus Art. 4 BV abgeleiteten
Mindestgarantien (BGE 119 Ia 136 E. 2c S. 138, mit Hinweisen). Die
Beschwerdeführerin macht nicht geltend, dass das kantonale Recht einen
weiter als Art. 4 BV gehenden Anspruch auf Akteneinsicht gewähre. Die
Akteneinsicht nach Art. 4 BV erstreckt sich auf alle für den Entscheid
wesentlichen Akten, d.h. auf jene Akten, die Grundlage einer Entscheidung
bilden (BGE 119 Ib 12 E. 6b S. 20; ARTHUR HAEFLIGER, Alle Schweizer sind
vor dem Gesetze gleich, Bern 1985, S. 144 f.; WILLY HUBER, Das Recht des
Bürgers auf Akteneinsicht im Verwaltungsverfahren, Diss. St. Gallen,
Wil 1980, S. 70 f.; ALFRED KÖLZ/ISABELLE HÄNER, Verwaltungsverfahren
und Verwaltungsrechtspflege des Bundes, Zürich 1993, S. 86 f.; GEORG
MÜLLER in BV-Kommentar Rz. 108 zu Art. 4). Das Akteneinsichtsrecht
findet seine Grenzen an öffentlichen Interessen des Staates und
berechtigten Geheimhaltungsinteressen Dritter (ZBl 93/1992 362 E. 3
S. 364; BGE 119 Ib 12 E. 6b S. 20; 113 Ia 1 E. 4a S. 4 f.). Es fragt
sich somit, ob für die Beurteilung der Prüfung der Beschwerdeführerin
die Prüfungsunterlagen der übrigen Kandidaten wesentlich sind, und
bejahendenfalls, ob entgegenstehende Interessen ausnahmsweise eine
Verweigerung der Akteneinsicht rechtfertigen.

    b) Nach der Praxis des Bundesgerichts bedeutet der Anspruch auf
rechtliches Gehör nicht, dass einem Prüfungskandidaten vor Erlass eines
negativen Examensentscheides die Möglichkeit gegeben wird, sich zu seinen
Prüfungsleistungen zu äussern oder die Akten einzusehen (Urteil des
Bundesgerichts i.S. G. vom 8. September 1993, veröffentlicht in SJ 1994
161, E. 1a S. 163; Urteil des Bundesgerichts i.S. B. vom 16. Dezember
1988, veröffentlicht in ZBl 90/1989 310 E. 3 S. 313; BGE 113 Ia 286 E. 2c/d
S. 288 f.). Die Einsicht in die Akten kann daher dem Kandidaten nur dazu
dienen, nachträglich die Beurteilung seiner Prüfungsarbeit nachzuvollziehen
und allenfalls ein Rechtsmittel gegen den Prüfungsentscheid zu begründen
(vgl. BGE 118 Ia 488 E. 2c S. 493). Zu diesem Zweck hat der Kandidat
selbstverständlich einen Anspruch auf Einsicht in seine eigenen
Prüfungsunterlagen, die der Beschwerdeführerin vorliegend unbestritten
gewährt wurde. Fraglich ist demgegenüber, ob ein Anspruch darauf besteht,
die Prüfungsunterlagen der übrigen Kandidaten einzusehen.

    c) Ein Examen hat zum Zweck, die fachliche Eignung der jeweiligen
Kandidaten für einen bestimmten Beruf zu beurteilen. Massgebend dafür ist,
ob der einzelne Kandidat die entsprechende Eignung besitzt. Anders als bei
Wettbewerben, bei denen es darum geht, aus einer Anzahl von Bewerbern die
geeignetsten herauszusuchen, ist bei Eignungsprüfungen nicht Gegenstand der
Beurteilung, ob andere Kandidaten die Examensaufgabe besser oder schlechter
erledigen. Unvermeidlicherweise fliesst in eine Prüfungsbewertung
zwar auch eine vergleichende Beurteilung aller Kandidaten ein. Daraus
kann aber nicht gefolgert werden, dass ein solcher Quervergleich
die Grundlage sei für den Entscheid über die einzelnen Arbeiten. Im
allgemeinen gehören die Arbeiten anderer Kandidaten somit nicht zu den
Akten, in die der Kandidat Einsicht hat. Anders zu entscheiden, würde
sowohl die öffentlichen Interessen an einer praktikablen Durchführung
von Prüfungsbeurteilungen als auch die privaten Interessen der übrigen
Kandidaten erheblich tangieren. Freilich ist nicht zu übersehen, dass
ein Rechtsmittel, mit welchem eine allfällige rechtsungleiche Behandlung
der Kandidaten beanstandet werden soll, praktisch nur substantiiert
werden kann, wenn die Akten der anderen Kandidaten bekannt sind. Das kann
aber nicht zur Folge haben, dass alle Kandidaten, die eine Prüfung nicht
bestanden haben und gegen den Prüfungsentscheid ein Rechtsmittel ergreifen
wollen, automatisch Einblick in die Prüfungsakten aller anderen Kandidaten
beanspruchen können. Vielmehr muss verlangt werden, dass konkrete Anhalts-
oder Verdachtspunkte vorgebracht werden, die auf eine rechtsungleiche
Behandlung schliessen lassen. Vorliegend weist die Beschwerdeführerin bloss
vage darauf hin, dass sie sich nach den Gesprächen, die sie mit anderen
Kandidaten geführt habe, nicht vorstellen könne, wesentlich abgefallen
zu sein. Dies genügt den Anforderungen nicht, die an eine Substantiierung
zu stellen sind.

    d) Der Anspruch auf Einsicht in die Akten der anderen Kandidaten ist
umso weniger zu bejahen, je besser die Akten des betreffenden Kandidaten
eine absolute Beurteilung erlauben und je klarer diese Beurteilung
ausfällt.

    Vorliegend umfassen die Akten, in welche die Beschwerdeführerin
Einblick hatte:

    - die schriftlich gestellte Prüfungsaufgabe,

    - ihre eigene schriftliche Prüfungsarbeit,

    - ein von der Expertin ausgearbeitetes Lösungsschema,

    - eine 2 1/2seitige schriftliche Beurteilung der Arbeit der
Beschwerdeführerin durch die Expertin, wobei für jede einzelne Teilfrage
eine Kurzbeurteilung erfolgt.

    Aufgrund dieser Unterlagen ist es möglich, die Prüfungsbewertung
nachzuvollziehen. Es ist Punkt für Punkt ersichtlich, wie die
Prüfungsarbeit aufgrund des Lösungsschemas beurteilt wurde. Dieser
Vergleich zwischen Prüfungsarbeit und Lösungsschema ist die wesentliche
Grundlage der Bewertung. Die bloss theoretische Vermutung der
Beschwerdeführerin, sie könnte rechtsungleich beurteilt worden sein, vermag
daher einen Anspruch auf Einsicht in die Akten der übrigen Kandidaten nicht
zu begründen. Das vor Bundesgericht gestellte Einsichtsbegehren ist daher,
soweit darauf überhaupt eingetreten werden kann (E. 1b), abzuweisen.

Erwägung 3

    3.- Die Beschwerdeführerin rügt Befangenheit der Expertin Y., die
bereits ihre erste Prüfungsarbeit im Frühling 1994 als ungenügend bewertet
habe. Art. 4 BV gibt auch einen Mindestanspruch auf Unbefangenheit von
Prüfungsexperten (BGE 113 Ia 286 E. 3a S. 289). Nach dem Grundsatz von
Treu und Glauben muss jedoch eine Ablehnung unverzüglich geltend gemacht
werden, sobald der Ausstandsgrund bekannt ist, andernfalls der Anspruch
auf Ablehnung verwirkt ist (BGE 120 Ia 19 E. 2c aa S. 24; 118 Ia 282
E. 3a S. 284, je mit Hinweisen); dieser Grundsatz gilt auch gegenüber
Prüfungsexperten (nicht veröffentlichtes Urteil des Bundesgerichts
i.S. Ch. vom 14. Oktober 1994, E. 3b). Für ihre Behauptung, die Expertin
sei befangen gewesen, beruft sich die Beschwerdeführerin auf Umstände,
die sich im Zusammenhang mit der ersten Prüfung vom Frühling 1994
ereignet haben sollen, die ihr also vor der dritten Prüfung bereits
bekannt waren. Dass Frau Y. wiederum Mitglied der Prüfungskommission in
der Herbstsession war, wurde mit dem Prüfungsprogramm vom 20. September
1994 mitgeteilt. Die Beschwerdeführerin hätte also genügend Zeit gehabt,
die angebliche Befangenheit der Expertin vor der Prüfung vom 6. Oktober
1994 zu beanstanden, was sie jedoch unterliess. Das Ausstandsbegehren ist
demnach verwirkt. Im übrigen wäre es auch unbegründet: der Umstand, dass
die gleiche Expertin die erste Prüfung bereits als ungenügend bewertete,
und der vage Verdacht der Beschwerdeführerin, dass sie der Expertin
aufgrund dieser ersten Prüfung unsympathisch sein könnte, begründen noch
keine verfassungsrechtliche Ausstandspflicht.

Erwägung 4

    4.- a) Die Beschwerdeführerin rügt schliesslich eine willkürliche
Bewertung ihrer Arbeit. Da nur der Prüfungsentscheid der Herbstprüfung
zur Diskussion steht, ist auf die Ausführungen in der Beschwerdeschrift
über die Bewertung der Frühlingsprüfung nicht einzugehen.

    b) Bei der Überprüfung von Entscheiden über Examensleistungen auferlegt
sich das Bundesgericht besondere Zurückhaltung. Es untersucht nur, ob sich
die Prüfungsbehörde von sachfremden oder sonstwie ganz offensichtlich
unhaltbaren Erwägungen hat leiten lassen; diese Zurückhaltung auferlegt
sich das Bundesgericht auch dann, wenn es aufgrund seiner Fachkenntnisse
sachlich zu einer weitergehenden Überprüfung befähigt wäre (BGE 118 Ia
488 E. 4c S. 495).

    c) Die staatsrechtliche Beschwerde muss eine kurz gefasste Darlegung
enthalten, welche verfassungsmässigen Rechte und inwiefern sie durch
den angefochtenen Entscheid verletzt worden sind (Art. 90 Abs. 1 lit. b
OG). Die Beschwerdeführerin beschränkt sich in ihren Ausführungen zur
Prüfungsbeurteilung auf eine rein appellatorische Kritik, so dass darauf
nicht eingetreten werden kann. Inwiefern die Beurteilung der Prüfungsarbeit
durch die Expertin sachfremd oder offensichtlich unhaltbar sein soll,
ist nicht ersichtlich.