Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 121 IV 311



121 IV 311

51. Urteil der Anklagekammer vom 13. November 1995 i.S. Ministero pubblico
del Cantone Ticino gegen Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich Regeste

    Art. 352 und 357 StGB. Interkantonale Rechtshilfe; anwendbares Recht.

    Zuständigkeit und Prüfungsbefugnis der Anklagekammer (E. 1 und 3a).

    Die Frage, ob einem rechtshilfeweise einzuvernehmenden Zeugen
ein Zeugnisverweigerungsrecht (hier gestützt auf Art. 320 StGB)
zusteht, betrifft die Art und Form der Rechtshilfehandlung, die durch
die zuständigen Behörden des ersuchten Kantons nach Massgabe ihres
Prozessrechts zu entscheiden ist (E. 2).

Sachverhalt

    A.- Am 15. Dezember 1988 reichte Nationalrat L. im Nationalrat eine
einfache Anfrage an den Bundesrat ein betreffend "Pizza Connection und
die Schweiz", in welcher eine diesbezügliche Tätigkeit des Tessiner
Rechtsanwaltes G. erwähnt wird.

    Nachdem diese Anfrage in der Presse ihren Niederschlag gefunden hatte,
erstattete Rechtsanwalt G. gegen Rechtsanwalt B., von dem er annahm, dieser
habe die entsprechenden Informationen weitergegeben, sowie Unbekannte
Strafanzeige wegen Verleumdung, Verletzung des Amtsgeheimnisses und
Irreführung der Rechtspflege.

    Die Tessiner Behörden, die die Strafuntersuchung führten, erachteten
eine Einvernahme von Nationalrat L. als unumgänglich. Nachdem dieser
zunächst damit einverstanden war, zur Einvernahme im Kanton Tessin zu
erscheinen, ersuchte er später um rogatorische Einvernahme durch die
Behörden des Kantons Zürich, worauf die Tessiner Staatsanwaltschaft
am 16. Juni 1989 ein entsprechendes interkantonales Rechtshilfegesuch
an die Bezirksanwaltschaft Zürich richtete. Nationalrat L. sollte im
wesentlichen darüber Auskunft geben, ob er die seiner Anfrage zu Grunde
liegenden Informationen von Rechtsanwalt B. erhalten habe.

    B.- Die Bezirksanwaltschaft Zürich lud Nationalrat L. zur
Zeugeneinvernahme vor, welche am 12. Oktober 1989 erfolgte. Der Zeuge
erschien, verweigerte aber unter Berufung auf seine Immunität als
Nationalrat Angaben über seine Quellen. Die Bezirksanwaltschaft wies das
Rechtshilfeersuchen daher als nur teilweise erledigt ohne Weiterungen
an die ersuchende Tessiner Behörde zurück. Einen durch die Tessiner
Staatsanwaltschaft gegen diese Verfügung gerichteten Rekurs wies die
Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich am 20. April 1990 ab.

    Die Tessiner Staatsanwaltschaft wandte sich am 4. Mai 1990 an die
Anklagekammer des Bundesgerichts, welche die Beschwerde mit Urteil
vom 31. Mai 1990 guthiess und die Bezirksanwaltschaft Zürich über die
Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich anwies, Nationalrat L. erneut zur
Einvernahme als Zeuge gemäss dem Rechtshilfeersuchen der Procura Pubblica
Sottocenerina vom 16. Juni 1989 aufzubieten; es sei abzuklären, ob der
Zeuge unter Berufung auf ein Amtsgeheimnis das Zeugnis verweigern könne.

    C.- Am 27. September 1991 wurde Nationalrat L. durch die
Bezirksanwaltschaft Zürich erneut als Zeuge befragt. Der Zeuge verweigerte
Angaben über den Informanten unter Berufung auf sein Amtsgeheimnis als
Parlamentarier, d.h. als Angehöriger des Nationalrates.

    Mit Zwischenentscheid vom 21. November 1991 entschied der Tessiner
Untersuchungsrichter, die Voraussetzungen für eine auf Art. 320 StGB
gestützte Verweigerung der Zeugenaussage seien nicht gegeben; der Zeuge
L. habe daher die Quelle der in Frage stehenden Information anzugeben.

    Einen von Nationalrat L. gegen diesen Zwischenentscheid am 26. November
1991 bei der Camera dei ricorsi penali del Tribunale di appello des
Kantons Tessin eingereichten Rekurs wies diese am 22. Mai 1992 ab. Der
Entscheid ist rechtskräftig.

    Nach wiederholten erfolglosen Ersuchen der Tessiner Behörden verfügte
die Bezirksanwaltschaft Zürich am 8. Februar 1995, dass die verlangte
Rechtshilfe jedenfalls einstweilen bis zur Aufhebung des Amtsgeheimnisses
durch die zuständige Behörde verweigert werde, da sich Nationalrat L. auf
das Amtsgeheimnis berufen könne und daher nicht berechtigt sei, Aussagen
zu machen.

    Einen Rekurs der Tessiner Staatsanwaltschaft vom 17. Februar 1995
hiess die Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich am 30. Juni 1995 im
Sinne der Erwägungen gut und hob den Entscheid der Bezirksanwaltschaft
auf; gleichzeitig wurde Nationalrat L. ersucht, beim Generalsekretariat
der Bundesversammlung zuhanden der Eidgenössischen Räte ein Gesuch um
Entbindung vom Amtsgeheimnis zu stellen.

    Am 11. Juli 1995 reichte Nationalrat L. das Gesuch um Entbindung vom
Amtsgeheimnis ein.

    D.- Mit Gesuch vom 31. Juli 1995 beantragt die Staatsanwaltschaft
des Kantons Tessin der Anklagekammer des Bundesgerichts im Hauptantrag,
den Entscheid der Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich aufzuheben und dem
Rechtshilfegesuch vom 16. Juni 1989 zu entsprechen; es sei festzustellen,
dass der Entscheid, ob sich der Zeuge für das Zeugnisverweigerungsrecht
auf das Amtsgeheimnis berufen könne, den Tessiner Behörden zustehe,
die diese Frage bereits rechtskräftig entschieden hätten. Eventuell sei
festzustellen, dass sich der Zeuge für die Zeugnisverweigerung nicht auf
das Amtsgeheimnis berufen könne. In jedem Fall sei die Bezirksanwaltschaft
Zürich über die Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich anzuweisen, den
Zeugen erneut zu einer Einvernahme aufzubieten unter Verweis auf §§ 128
und 134 StPO/ZH; im Falle einer weiteren Weigerung des Zeugen seien die
in der Prozessordnung vorgesehenen Disziplinarstrafen zu verhängen.

    Die Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich beantragt, das Gesuch
abzuweisen, soweit darauf einzutreten sei.

Auszug aus den Erwägungen:

             Die Anklagekammer zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- a) Gemäss Art. 352 StGB sind in Bundesstrafsachen der Bund und die
Kantone gegenseitig und die Kantone unter sich zur umfassenden Rechtshilfe
verpflichtet (vgl. BGE 119 IV 86 E. 2c).

    b) Ergeben sich bei der Gewährung der Rechtshilfe Anstände, so kann
die Anklagekammer des Bundesgerichts (Art. 357 StGB, Art. 252 Abs. 3 BStP)
angerufen werden. Als Anstände in der Rechtshilfe gelten nicht nur die
eigentliche Verweigerung der Rechtshilfe sondern auch Streitigkeiten über
die Art und Weise der zu leistenden Rechtshilfe bzw. der durchzuführenden
Untersuchungshandlung (vgl. THORMANN/VON OVERBECK, Das Schweizerische
Strafgesetzbuch, Zürich 1941, Art. 357 N. 1). Ein Anstand in der
Rechtshilfe liegt auch dann vor, wenn zwischen den beteiligten Behörden
streitig ist, ob eine Frage die formelle oder die materielle Zulässigkeit
der verlangten Rechtshilfehandlung betrifft; denn davon hängt insbesondere
ab, ob die Massnahme bei den Rechtsmittelinstanzen des ersuchten oder
des ersuchenden Kantons angefochten werden muss (vgl. unten E. 2b).

    c) Die Anrufung der Anklagekammer ist an keine Frist gebunden (BGE
86 IV 226 E. 1). Sie kann daher jederzeit, auch bereits unmittelbar im
Anschluss an die Weigerung der ersuchten Behörde erfolgen; allfällige
kantonale oder eidgenössische Rechtsmittel müssen somit nicht vorgängig
ausgeschöpft werden (BGE 115 IV 67 E. 1c; vgl. auch BGE 102 IV 217 E. 4,
96 IV 181 E. 2).

Erwägung 2

    2.- a) Streitig ist im vorliegenden Verfahren nicht die grundsätzliche
Pflicht zur interkantonalen Rechtshilfe, diese wird durch die Behörden
des Kantons Zürich anerkannt, indem die Verfügung der Bezirksanwaltschaft,
soweit dadurch die Rechtshilfe verweigert wurde, im angefochtenen Entscheid
aufgehoben wurde.

    Zu entscheiden ist vielmehr die Frage, welcher der beteiligten Kantone
zu entscheiden habe, ob sich der Zeuge (im konkreten Fall gestützt auf
Art. 320 StGB) auf ein Zeugnisverweigerungsrecht berufen kann.

    b) In der Rechtshilfe zwischen Kantonen bestimmt sich nach dem
Prozessrecht des gemäss Art. 352 StGB zur Rechtshilfe verpflichteten
ersuchten Kantons, welche Art Handlungen der ersuchende Kanton verlangen
darf und in welcher Form sie vorzunehmen sind. Das Prozessrecht des
ersuchten Kantons ist somit für die Art und Form der interkantonalen
Rechtshilfe massgebend. Bei der Behörde des ersuchten Kantons können daher
Einwendungen betreffend die formellen Voraussetzungen der Rechtshilfe
und die Ausführung der verlangten Massnahmen erhoben werden, während in
allen anderen Fällen, namentlich bei Einwendungen gegen die materielle
(sachliche) Zulässigkeit einer Rechtshilfemassnahme das Rechtsmittel bei
der zuständigen Behörde des ersuchenden Kantons eingereicht werden muss
(BGE 120 Ia 113; 119 IV 86 E. 2). Zu letzteren zählen im Zusammenhang mit
Zwangsmassnahmen insbesondere die Einwände betreffend die Voraussetzungen
des hinreichenden Tatverdachts, der Erforderlichkeit, der Zweckmässigkeit
sowie der Verhältnismässigkeit (vgl. BGE 120 Ia 113 E. 1; 117 Ia 5 E. 1b);
materieller Art ist auch die Frage, ob eine bestimmte Massnahme geeignet
sei, den Beweis für eine rechtserhebliche Tatsache zu erbringen, oder ob
die materiellen Voraussetzungen für eine Einziehung und damit für eine
Beschlagnahme vorliegen (vgl. BGE 119 IV 86 E. 2b).

    Die Frage, ob dem rechtshilfeweise einzuvernehmenden Zeugen
ein Zeugnisverweigerungsrecht zusteht, betrifft hingegen die Art
und Form der Rechtshilfehandlung und wurde daher zu Recht durch die
Behörden des ersuchten Kantons Zürich nach Massgabe ihres Prozessrechts
entschieden. Soweit sich die Gesuchstellerin auf das rechtskräftige Urteil
der Tessiner Rekurskammer vom 22. Mai 1992 stützt, ist sie nicht zu hören.

Erwägung 3

    3.- a) Im Verfahren gemäss Art. 357 StGB prüft die Anklagekammer
des Bundesgerichts nur, ob durch die Anwendung des Prozessrechts
des ersuchten Kantons durch die ersuchte Behörde bzw. die zuständige
Rechtsmittelinstanz die Rechtshilfe derart beschränkt wird, dass sie dem
Begriff der Rechtshilfe, wie er Art. 352 StGB zugrunde liegt, nicht mehr
entspricht (vgl. BGE 119 IV 86 E. 2a).

    b) In ihrem Urteil vom 31. Mai 1990 wies die Anklagekammer die Zürcher
Behörden an, abzuklären, ob ein Amtsgeheimnis vorliege, auf Grund dessen
der Zeuge gegebenenfalls zu Recht das Zeugnis verweigerte; dabei genüge
es, wenn der Zeuge seine Pflicht zur Verschwiegenheit wahrscheinlich mache.

    c) Dieser Aufforderung sind die Zürcher Behörden inzwischen
nachgekommen. Die Gesuchsgegnerin bejahte im angefochtenen Entscheid nach
zürcherischem Prozessrecht grundsätzlich ein Zeugnisverweigerungsrecht
unter Berufung auf das Amtsgeheimnis. Sie verweist sodann auf ein
Kurzgutachten des Generalsekretariats der Parlamentsdienste, nach
welchem die Mitglieder des Nationalrates mit Bezug auf Geheimnisse,
die ihnen in ihrer Eigenschaft als Ratsmitglieder anvertraut würden,
dem Amtsgeheimnis im Sinne von Art. 320 StGB unterlägen. Dies wird auch
durch die Gesuchstellerin nicht in Zweifel gezogen.

    Im angefochtenen Entscheid wird weiter ausgeführt, der Zeuge habe
anlässlich seiner zweiten Einvernahme sowie in einer schriftlichen
Stellungnahme vom 6. Februar 1995 hinreichend glaubhaft gemacht, dass die
Identität seines Informanten im Zusammenhang mit der in Frage stehenden
parlamentarischen Anfrage seinem Amtsgeheimnis als Behördemitglied
unterliegen könnte. Eine Entbindung vom Amtsgeheimnis könne daher im
vorliegenden Fall in Analogie zu Art. 14 VG (SR 170.32) nur durch die
Bundesversammlung erfolgen. Die Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich
ersuchte daher den Zeugen, beim Sekretariat der Bundesversammlung zuhanden
der eidgenössischen Räte ein Gesuch um Entbindung vom Amtsgeheimnis
zu stellen.

    d) Aufgrund dieser Begründung des angefochtenen Entscheides kann von
einer unzulässigen Verweigerung der Rechtshilfe durch die Behörden des
Kantons Zürich nicht die Rede sein. Das Gesuch wird somit abgewiesen,
soweit darauf eingetreten wird.