Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 121 IV 308



121 IV 308

50. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 10. November 1995 i.S. M.
gegen Jugendanwaltschaft Graubünden (Nichtigkeitsbeschwerde) Regeste

    Art. 91 Ziff. 1 und 94 Ziff. 5 StGB; Art. 5 Ziff. 1 EMRK; Einweisung
in ein Erziehungsheim.

    Der Vollzug der gerichtlichen Einweisung in ein Erziehungsheim über
die Volljährigkeit hinaus ist mit der Europäischen Menschenrechtskonvention
vereinbar (E. 3).

Sachverhalt

    A.- Das Jugendgericht Plessur fand am 13. Januar 1995 den am
5. Dezember 1977 geborenen M. unter anderm des mehrfachen Diebstahls
und der Gehilfenschaft dazu, der mehrfachen Widerhandlung gegen das
Betäubungsmittelgesetz und der Entwendung eines Motorfahrzeugs zum
Gebrauch schuldig und wies ihn gemäss Art. 91 Ziff. 1 Abs. 1 StGB in ein
Erziehungsheim für Jugendliche ein.

    B.- Die Jugendkammer des Kantonsgerichts von Graubünden wies am
15. Mai 1995 eine Berufung des Verurteilten ab.

    C.- M. führt Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag, den Entscheid
der Jugendkammer aufzuheben.

    D.- Der Kantonsgerichtsausschuss von Graubünden beantragt Abweisung,
soweit Eintreten. Die Jugendanwaltschaft Graubünden beantragt Abweisung.

Auszug aus den Erwägungen:

             Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- (Eintretensfrage).

Erwägung 2

    2.- a) Die Vorinstanz hält fest, grundsätzlich seien
Erziehungsmassnahmen des Jugendstrafrechts auf unbestimmte Zeit
anzuordnen; sie sollen so lange andauern, bis ihr Zweck erfüllt ist. Eine
Heimeinweisung gemäss Art. 91 Ziff. 1 StGB dauere mindestens ein Jahr und
sei spätestens mit dem zurückgelegten 22. Altersjahr aufzuheben (Art. 94
Ziff. 1 und 5 StGB). Sie hält diese Massnahme auch über die Volljährigkeit
hinaus für konventionskonform. Die Zulässigkeit hänge wesentlich davon
ab, ob ihre ausschliessliche Anordnung im Jugendstrafverfahren einem
Freiheitsentzug im Sinne von Art. 5 Ziff. 1 lit. a EMRK gleichzusetzen sei,
denn diese Bestimmung mache die Rechtmässigkeit einer Freiheitsentziehung
allein von einer gesetzmässigen Verurteilung abhängig und unterscheide
nicht, ob der Verurteilte minderjährig oder volljährig sei. Eine
Verurteilung gemäss Art. 5 Ziff. 1 lit. a EMRK setze einen straf- oder
disziplinarrechtlichen Tatbestand sowie die Feststellung einer Schuld
durch ein Gericht voraus. Diese Bedingungen seien in casu erfüllt. Die
Bestimmung decke nicht nur die eigentliche Strafhaft, sondern jegliche
durch Strafurteil als Sicherungs- und Besserungsmassnahme angeordnete
Unterbringung ab, also auch die vorliegende Einweisung.

    b) Der Beschwerdeführer wendet ein, die Auffassung der Vorinstanz
belasse für Art. 5 Ziff. 1 lit. d EMRK nur Fälle der Heimeinweisungen
durch eine Verwaltungsbehörde oder durch ein Gericht, dessen Entscheid
nicht unter den Begriff der Verurteilung von Art. 5 Ziff. 1 lit. a EMRK
falle. Auch nach der Literatur stehe nicht fest, ob eine ausschliessliche
Anordnung einer Massnahme als Verurteilung in diesem Sinne zu gelten
habe. Ein Freiheitsentzug zur überwachten Erziehung sei lediglich für
Minderjährige in Art. 5 Ziff. 1 lit. d EMRK vorgesehen. Beide Bestimmungen
seien nicht gleichzeitig anwendbar. Auf Minderjährige sei einzig der
Spezialtatbestand von Art. 5 Ziff. 1 lit. d EMRK anzuwenden. Folglich
sei er spätestens am 1. Januar 1996, allenfalls bereits am 5. Dezember
1995 zu entlassen.

Erwägung 3

    3.- Zu prüfen ist der Einwand, eine Einweisung in ein Erziehungsheim
gemäss Art. 91 Ziff. 1 Abs. 1 StGB auf unbestimmte Dauer, also über die
Volljährigkeit hinaus bis längstens zum zurückgelegten 22. Altersjahr
(Art. 94 Ziff. 5 StGB), verletze mittelbar Art. 5 Ziff. 1 lit. d EMRK...

    a) Der Beschwerdeführer wurde wegen mehrerer Delikte schuldig
gesprochen und verfahrens- und gesetzmässig in ein Erziehungsheim
eingewiesen. Er wurde im Sinne von Art. 5 Ziff. 1 lit. a EMRK verurteilt
(vgl. VILLIGER, Handbuch der Europäischen Menschenrechtskonvention [EMRK],
Zürich 1993, N. 320 ff., 328). Fraglich ist, ob die von der Verurteilung
kausal abhängige Massnahme (VILLIGER, aaO, N. 330) durch Art. 5 Ziff. 1
lit. a EMRK gedeckt ist. Die Rechtsprechung der Strassburger Organe sowie
die Literatur verstehen den in dieser Bestimmung verwendeten Haftbegriff im
weiten Sinn. Dazu zählen die Strafhaft, Sicherungsverwahrung, Unterbringung
im Arbeitshaus sowie sonstige Arten der durch Strafurteil als Zusatzstrafe
oder als Massnahme der Sicherung und Besserung angeordneten Unterbringung
(FROWEIN/PEUKERT, Europäische Menschenrechtskonvention, EMRK-Kommentar,
Kehl 1985, N. 45 zu Art. 5; VELU/ERGEC, La Convention Européenne des
Droits de L'Homme, Bruxelles 1990, S. 260 f.).

    Ist im Sinne von Art. 5 Ziff. 1 lit. a EMRK von einem weiten
Haftbegriff auszugehen, zählen dazu auch Massnahmen der Besserung
und Wiedereingliederung (réinsertion sociale, vgl. VELU/ERGEC, aaO,
S. 261). Somit fallen die Massnahmen der Erziehung und Wiedereingliederung
wie Erziehungsheim, besondere Behandlung, Therapieheim und
Arbeitserziehungsanstalt ebenfalls darunter.
   b) Der Beschwerdeführer wendet zu Unrecht ein, diese Auslegung von
   Art. 5
Ziff. 1 lit. a EMRK lasse für die Spezialnorm der lit. d keinen Raum mehr.

    Art. 5 Ziff. 1 lit. d EMRK bezieht sich auf zwei Fälle. Erstens kann
Minderjährigen die Freiheit aus fürsorgerischen Gründen oder zum Zwecke der
überwachten Erziehung beziehungsweise zur Abklärung der Notwendigkeit einer
solchen Massnahme und damit auch aus Gründen des Jugendstrafrechts entzogen
werden. Zweitens betrifft der Freiheitsentzug die Vorführung vor die
zuständigen Behörden und damit die eigentliche Untersuchungshaft (BGE 121
I 208 E. 4c). Damit bleibt für Art. 5 Ziff. 1 lit. d EMRK ein weites Feld:
Zum einen kann die Inhaftnahme Minderjähriger im Sinne dieser Bestimmung
auch von einer Verwaltungsbehörde angeordnet werden (vgl. VILLIGER, aaO,
N. 333), zum andern fallen rein fürsorgerische Massnahmen unter diese
Bestimmung (nicht veröffentlichter Entscheid der II. Zivilabteilung
vom 29. Oktober 1990 in Sachen G. gegen Verwaltungsrekurskommission des
Kantons St. Gallen, E. 2) und schliesslich erfasst diese Bestimmung als
Spezialnorm im Verhältnis zu Art. 5 Ziff. 1 lit. c EMRK die gegenüber
Jugendlichen angeordnete Untersuchungshaft (BGE 121 I 208 E. 4c).

    c) Zusammenfassend nahm die Vorinstanz zu Recht an, die gestützt
auf ein Strafurteil erfolgte Einweisung in ein Erziehungsheim gemäss
Art. 91 Ziff. 1 Abs. 1 StGB falle unter Art. 5 Ziff. 1 lit. a EMRK und
entsprechend sei eine überwachte Erziehung über die Volljährigkeit hinaus
gemäss Art. 94 Ziff. 5 StGB mit der Konvention vereinbar.

    d) Die weitern Vorbringen (die Vorinstanz habe den Begriff des
Minderjährigen in Art. 5 Ziff. 1 lit. d EMRK konventionswidrig ausgelegt
sowie die Frage des massgeblichen Entlassungszeitpunkts) sind bei dieser
Rechtslage nicht mehr zu prüfen.

Erwägung 4

    4.- (Kostenfolgen).