Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 121 IV 235



121 IV 235

38. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 21. September
1995 i.S. L. gegen Staatsanwaltschaft des Kantons Basel-Landschaft
(Nichtigkeitsbeschwerde) Regeste

    Art. 90 Ziff. 2 und 35 Abs. 2 SVG; grobe Verkehrsregelverletzung
durch vorschriftswidriges Überholen.

    Das blinde "Anhängen" an einen Überholenden ist gefährlich und verboten
(E. 1b, Bestätigung der Rechtsprechung). Wer sich nachts bei nasser
Fahrbahn auf einer relativ schmalen Strasse einem vor ihm fahrenden Auto
beim Überholen anschliesst, ohne sich über die erforderliche Überholstrecke
Gedanken zu machen, begeht eine grobe Verkehrsregelverletzung (E. 1c).

Sachverhalt

    A.- L. fuhr am 11. Dezember 1993, um ca. 19.35 Uhr, mit seinem
Personenwagen "Ford Fiesta" auf der Hauptstrasse J 18 von Laufen in
Richtung Aesch. Sein Wagen befand sich an dritter Stelle in einer
Fahrzeugkolonne mit vier Fahrzeugen. Nach einer S-Kurve ausserhalb der
Gemeinde Duggingen, in welcher die Geschwindigkeit auf 40 km/h begrenzt
ist, verläuft die Hauptstrasse J 18 in der sogenannten "Liebmatt" eben
und gerade mit einer Tempolimite von 80 km/h. Dieser übersichtliche
Streckenabschnitt ist jedoch relativ schmal und in beiden Fahrtrichtungen
einspurig. Bei regem Abendverkehr erreichte die Fahrzeugkolonne die
S-Kurve. Es war dunkel und die Fahrbahn nass. Nach der S-Kurve setzte
der vierte (hinterste) Fahrzeuglenker zum Überholen der vor ihm fahrenden
Kolonne von drei Fahrzeugen an. L. beschleunigte ebenfalls und folgte
diesem überholenden Fahrzeug. In diesem Zeitpunkt näherten sich auf
der Gegenfahrbahn zwei Fahrzeuge mit einer Geschwindigkeit von ca. 70
km/h. Der Lenker des vierten Fahrzeuges überholte mit hohem Tempo die
beiden vordersten Fahrzeuge der Kolonne, welche mit der zulässigen
Höchstgeschwindigkeit von 80 km/h unterwegs waren, und bog rechtzeitig
wieder auf die rechte Fahrbahn ein. L. gelang dies dagegen nicht
mehr. Obwohl er und der Lenker des korrekt entgegenkommenden Fahrzeugs noch
bremsten, kam es zu einer heftigen Frontalkollision, welche bei beiden
Fahrzeugen zu Totalschaden führte. L. wurde schwer verletzt. Der Fahrer
und der Beifahrer des entgegenkommenden Fahrzeuges erlitten verschiedene,
allerdings weniger schwerwiegende Verletzungen.

    B.- Das Strafgericht Basel-Landschaft sprach L. am 4. Oktober 1994
der groben Verletzung von Verkehrsregeln schuldig und verurteilte ihn zu
einer Busse von Fr. 500.--. Bei der Strafzumessung wandte es Art. 64 Abs. 6
StGB (beschränkte Einsichtsfähigkeit aufgrund des Alters von 18 Jahren)
sowie im Hinblick auf die erlittenen Verletzungen Art. 66bis StGB an.

    C.- Das Obergericht des Kantons Basel-Landschaft wies am 25. April
1995 eine dagegen erhobene Appellation von L. ab.

    D.- L. führt eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag, das
Urteil des Obergerichtes aufzuheben und die Sache zu seiner Verurteilung
wegen einfacher Verkehrsregelverletzung an die Vorinstanz zurückzuweisen.

    Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab

Auszug aus den Erwägungen:

                   aus folgenden Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- a) Die einfache Verkehrsregelverletzung wird als Übertretung
mit Haft oder mit Busse bestraft (Art. 90 Ziff. 1 SVG; SR 741.01).
Wer dagegen durch grobe Verletzung der Verkehrsregeln eine ernstliche
Gefahr für die Sicherheit anderer hervorruft oder in Kauf nimmt, wird
mit Gefängnis oder mit Busse bestraft (Art. 90 Ziff. 2 SVG).

    Art. 90 Ziff. 2 SVG ist objektiv erfüllt, wenn der Täter eine
wichtige Verkehrsvorschrift in objektiv schwerer Weise missachtet und
die Verkehrssicherheit abstrakt oder konkret gefährdet hat. Subjektiv
erfordert der Tatbestand, dass dem Täter aufgrund eines rücksichtslosen
oder sonstwie schwerwiegend regelwidrigen Verhaltens zumindest eine grobe
Fahrlässigkeit vorzuwerfen ist (BGE 118 IV 285 E. 3 und 4, 197 E. 2,
188 E. 2a und 84 E. 2a mit Hinweisen).

    b) Überholen ist nur gestattet, wenn der nötige Raum übersichtlich und
frei ist und der Gegenverkehr nicht behindert wird. Im Kolonnenverkehr darf
nur überholen, wer die Gewissheit hat, rechtzeitig und ohne Behinderung
anderer Fahrzeuge wieder einbiegen zu können (Art. 35 Abs. 2 SVG).

    Der vom Gesetz als übersichtlich und frei geforderte "nötige Raum"
ist unter einem doppelten Gesichtspunkt zu verstehen, nämlich im Sinne
einer genügenden Breite wie auch einer genügenden Länge der Überholspur
(BGE 101 IV 72 E. 1b). Wer eine Fahrzeugkolonne überholen will, muss
sich vergewissern, dass die gesetzlichen Voraussetzungen dafür im
Zeitpunkt erfüllt sind, da er mit seinem Manöver beginnt (BGE 105 IV
336 E. 2). Der Überholende muss von Anfang an die Gewissheit haben,
sein Überholmanöver sicher und ohne Gefährdung Dritter abschliessen
zu können. Er muss sicher sein, während des ganzen Überholmanövers
niemanden zu gefährden und gefahrlos entweder an der Spitze der Kolonne
oder in eine bereits vorhandene grössere Lücke einbiegen zu können. Das
Überholen ist nicht unzulässig, weil weiter vorne bereits ein anderes
Fahrzeug im Überholen begriffen ist. Der Führer des zweiten Fahrzeugs
muss dann aber einen genügenden Abstand einhalten und sich vergewissern,
dass er gefahrlos überholen kann. Das blinde "Anhängen" an einen
Überholenden ist gefährlich und verboten (BGE 95 IV 175 E. 1b). Wer vor
einer unübersichtlichen Kurve vorfahren will, muss berücksichtigen,
dass bis zum Abschluss seines Unternehmens aus der Biegung heraus
ein Fahrzeug auftauchen und sich ihm nähern könnte. Nicht nur die für
den Überholvorgang benötigte Strecke muss übersichtlich und frei sein,
sondern zusätzlich jene, die ein entgegenkommendes Fahrzeug bis zu jenem
Punkt zurücklegt, wo der Überholende die linke Strassenseite freigegeben
haben wird. Es genügt daher nicht, dass der Überholende danach trachtet,
den Überholvorgang kurz vor der unübersichtlichen Kurve abzuschliessen,
sondern er muss ihn schon so weit vor der Biegung beendet haben, dass ein
während des Überholens auf der Gegenfahrbahn auftauchendes Fahrzeug seinen
Weg unter Einhaltung einer angemessenen Geschwindigkeit fortsetzen kann,
ohne gefährdet zu werden (BGE 109 IV 134 E. 2).

    c) Art. 35 Abs. 2 SVG ist eine für die Gewährleistung der Sicherheit
des Strassenverkehrs wichtige Bestimmung. Der Beschwerdeführer hat sie in
schwerer Weise missachtet. Der Streckenabschnitt "Liebmatt" weist nach den
verbindlichen tatsächlichen Feststellungen der Vorinstanz (Art. 277bis
Abs. 1 BStP) zwar eine genügende Breite zum Überholen auf. Die Strasse
ist jedoch relativ schmal, so dass ein Überholmanöver einzig auf der
Gegenfahrbahn durchgeführt werden kann. Eine Ausweichmöglichkeit besteht
nicht. Es war zudem Nacht, und die Fahrbahn war nass. Der Beschwerdeführer
musste mit einem langen Überholweg rechnen, da anzunehmen war, dass
die zu überholenden Fahrzeuge nach der S-Kurve ihre Geschwindigkeit bis
zur Limite von 80 km/h erhöhen würden, und sein Fahrzeug zudem über ein
vergleichsweise geringes Beschleunigungsvermögen verfügte. Unter diesen
Umständen durfte er das Überholmanöver schon deshalb nicht einleiten,
weil er es bei Beachtung der Geschwindigkeitslimite von 80 km/h gar nicht
durchführen konnte. Nach den Feststellungen der Vorinstanz setzte der
Beschwerdeführer zum Überholen an, indem er sich einem anderen überholenden
Fahrzeug anschloss. Ein derartiges blindes "Anhängen" ist, wie in BGE 95 IV
175 bereits hervorgehoben wurde, gefährlich und verboten. Selbst wenn der
Beschwerdeführer dem überholenden Fahrzeug nicht blind nachgefahren wäre,
sondern sich zum Überholweg Gedanken gemacht hätte, würde ihm das nicht
helfen. Denn diesfalls hätte er sich über die erforderliche Überholstrecke
in einem schwerwiegenden Ausmass getäuscht. Die Tatsache, dass er mit
einem korrekt entgegenkommenden Fahrzeug frontal zusammengestossen ist,
zeigt, dass der Überholweg nicht frei gewesen ist und der Beschwerdeführer
aufgrund der Sichtverhältnisse auf keinen Fall zum Überholen hätte ansetzen
dürfen. Der objektive Tatbestand von Art. 90 Ziff. 2 SVG ist erfüllt.

    Auch die subjektiven Voraussetzungen von Art. 90 Ziff. 2 SVG sind
gegeben. Wer nachts bei nasser Fahrbahn unter Umständen wie hier eine
Fahrzeugkolonne überholt, gefährdet die anderen Verkehrsteilnehmer
erheblich und handelt verantwortungslos.

Erwägung 2

    2.- (Kostenfolgen).