Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 121 IV 230



121 IV 230

37. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 21. September 1995
i.S. S. gegen Generalprokurator des Kantons Bern (Nichtigkeitsbeschwerde)
Regeste

    Art. 90 Ziff. 2 und 32 Abs. 1 SVG, Art. 4a Abs. 1 lit. b VRV;
Überschreiten der allgemeinen Höchstgeschwindigkeit ausserorts, grobe
Verkehrsregelverletzung.

    Eine übersetzte Geschwindigkeit stellt auch ausserorts eine erhebliche
Gefahr dar. Zu einer Milderung der Rechtsprechung, wonach bei Überschreiten
der zulässigen Höchstgeschwindigkeit um deutlich mehr als 30 km/h
ungeachtet der konkreten Umstände eine grobe Verkehrsregelverletzung
anzunehmen ist, besteht kein Anlass. Fragen kann man sich höchstens,
ob die Praxis zu verschärfen und angesichts der insoweit teilweise
abweichenden Gefahrenlage künftig danach zu unterscheiden sei, ob die
Geschwindigkeitsvorschriften innerorts, ausserorts oder auf der Autobahn
missachtet wurden (E. 2c).

Sachverhalt

    A.- S. überschritt am 6. April 1991 um 16.17 Uhr mit seinem
Personenwagen auf der Hauptstrasse zwischen Gümmenen und Laupen die
allgemeine Höchstgeschwindigkeit ausserorts von 80 km/h um 43 km/h (nach
Abzug der Sicherheitsmarge von 6 km/h).

    Am 20. Oktober 1994 verurteilte ihn der Gerichtspräsident VIII von
Bern wegen grober Verletzung von Verkehrsregeln gemäss Art. 90 Ziff. 2 SVG
(SR 741.01) zu einer Busse von Fr. 940.--, löschbar bei Bewährung nach
einer Probezeit von 1 Jahr.

    Auf Appellation von S. hin bestätigte das Obergericht des Kantons
Bern am 14. Februar 1995 diesen Entscheid.

    S. führt eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag, das
Urteil des Obergerichts aufzuheben.

    Das Obergericht hat auf Gegenbemerkungen verzichtet.

    Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab

Auszug aus den Erwägungen:

                   aus folgenden Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- a) Die Vorinstanz legt dar, der Beschwerdeführer habe eine
für die Verkehrssicherheit grundlegende Verkehrsregel krass verletzt.
Dadurch habe er eine erhöhte abstrakte Gefahr für die Sicherheit anderer
geschaffen. Bei einer derartigen Geschwindigkeitsüberschreitung sei die
naheliegende Möglichkeit einer konkreten Gefährdung oder Verletzung und
damit die ernstliche Gefahr für die Sicherheit anderer im Sinne von Art. 90
Ziff. 2 SVG selbst bei günstigsten Verkehrsverhältnissen zu bejahen, ohne
dass die konkreten Umstände näher abzuklären seien. Der Beschwerdeführer
habe mindestens grobfahrlässig gehandelt. Seine Fahrweise sei rücksichtslos
gewesen, zumal jedem vernünftigen Automobilisten die Gefahren und
Unfallträchtigkeit einer derart massiven Geschwindigkeitsüberschreitung
bekannt seien oder zumindest sein müssten.

    b) Der Beschwerdeführer macht geltend, er habe sich lediglich nach
Art. 90 Ziff. 1 SVG strafbar gemacht. Die Voraussetzungen von Art. 90
Ziff. 2 SVG seien nicht gegeben.

Erwägung 2

    2.- a) aa) Die Geschwindigkeit ist stets den Umständen anzupassen,
namentlich den Besonderheiten von Fahrzeug und Ladung sowie den
Strassen-, Verkehrs- und Sichtverhältnissen. Wo das Fahrzeug den Verkehr
stören könnte, ist langsam zu fahren und nötigenfalls anzuhalten,
namentlich vor unübersichtlichen Stellen, vor nicht frei überblickbaren
Strassenverzweigungen sowie vor Bahnübergängen (Art. 32 Abs. 1 SVG). Die
allgemeine Höchstgeschwindigkeit für Fahrzeuge beträgt unter günstigen
Strassen-, Verkehrs- und Sichtverhältnissen 80 km/h ausserhalb von
Ortschaften, ausgenommen auf Autobahnen (Art. 4a Abs. 1 lit. b der
Verkehrsregelnverordnung [VRV; SR 741.11]).

    bb) Gemäss Art. 90 Ziff. 1 SVG wird mit Haft oder mit Busse bestraft,
wer Verkehrsregeln dieses Gesetzes oder der Vollziehungsvorschriften des
Bundesrates verletzt. Nach Art. 90 Ziff. 2 SVG wird mit Gefängnis oder
mit Busse bestraft, wer durch grobe Verletzung der Verkehrsregeln eine
ernstliche Gefahr für die Sicherheit anderer hervorruft oder in Kauf nimmt.

    Gemäss Art. 16 Abs. 2 SVG kann der Führer- oder Lernfahrausweis
entzogen werden, wenn der Führer Verkehrsregeln verletzt und dadurch
den Verkehr gefährdet oder andere belästigt hat (Satz 1). In leichten
Fällen kann eine Verwarnung ausgesprochen werden (Satz 2). Der Führer-
oder Lernfahrausweis muss entzogen werden, wenn der Führer den Verkehr
in schwerer Weise gefährdet hat (Art. 16 Abs. 3 lit. a SVG).

    b) aa) Art. 90 Ziff. 2 SVG ist nach der Rechtsprechung objektiv
erfüllt, wenn der Täter eine wichtige Verkehrsvorschrift in objektiv
schwerer Weise missachtet und die Verkehrssicherheit abstrakt oder konkret
gefährdet hat. Subjektiv erfordert der Tatbestand, dass dem Täter aufgrund
eines rücksichtslosen oder sonstwie schwerwiegend regelwidrigen Verhaltens
zumindest eine grobe Fahrlässigkeit vorzuwerfen ist (BGE 118 IV 197 E. 2,
84 E. 2a mit Hinweisen). Eine ernstliche Gefahr für die Sicherheit anderer
im Sinne von Art. 90 Ziff. 2 SVG ist bereits bei einer erhöhten abstrakten
Gefährdung gegeben. Die erhöhte abstrakte Gefahr setzt die naheliegende
Möglichkeit einer konkreten Gefährdung oder Verletzung voraus (BGE 118
IV 285 E. 3).

    Wer durch grobe Verletzung der Verkehrsregeln im Sinne von Art. 90
Ziff. 2 SVG eine ernstliche Gefahr für die Sicherheit anderer hervorruft
oder in Kauf nimmt, gefährdet in schwerer Weise den Verkehr im Sinne von
Art. 16 Abs. 3 lit. a SVG. Diese beiden Vorschriften stimmen inhaltlich
miteinander überein (BGE 120 Ib 285).

    bb) Wird die zulässige Höchstgeschwindigkeit um deutlich mehr als
30 km/h überschritten, sind die Voraussetzungen von Art. 90 Ziff. 2
bzw. Art. 16 Abs. 3 lit. a SVG ungeachtet der konkreten Umstände
erfüllt (BGE 118 IV 188 E. 2b; 119 Ib 154 E. 2a). Eine solche deutliche
Überschreitung der Grenze von 30 km/h hat das Bundesgericht bejaht bei
einem Fahrzeuglenker, der auf der Autobahn die Höchstgeschwindigkeit um
37 km/h überschritten hatte (BGE 118 IV 188 E. 2b).

    In BGE 121 II 127 schützte das Bundesgericht den Entscheid der
kantonalen Behörde, die einen mittelschweren Fall nach Art. 16 Abs. 2
Satz 1 SVG annahm bei einer Fahrzeuglenkerin, welche die zulässige
Höchstgeschwindigkeit innerorts um 27 km/h überschritten hatte. Es
liess offen, ob nicht sogar ein schwerer Fall nach Art. 16 Abs. 3
lit. a SVG anzunehmen gewesen wäre, da eine Erhöhung der Dauer des
Führerausweisentzugs aus prozessualen Gründen ausser Betracht fiel (E. 4d).

    c) Der Beschwerdeführer hat die allgemeine Höchstgeschwindigkeit
ausserorts um 43 km/h überschritten. Diese 43 km/h liegen deutlich
über der Grenze von 30 km/h. Der Beschwerdeführer hat sich deshalb im
Lichte der Rechtsprechung ungeachtet der konkreten Umstände der groben
Verkehrsregelverletzung nach Art. 90 Ziff. 2 SVG schuldig gemacht.

    Bei den Vorschriften über die Geschwindigkeit handelt es sich um
grundlegende Verkehrsregeln. Sie sind wesentlich für die Gewährleistung
der Sicherheit des Strassenverkehrs. Der Beschwerdeführer hat die
allgemeine Höchstgeschwindigkeit ausserorts in schwerwiegender Weise
missachtet. Wie die Vorinstanz verbindlich feststellt (Art. 277bis Abs. 1
BStP), gab es bei der Messstelle eine Privatausfahrt und rund 80 m danach
eine Einmündung links. Der Beschwerdeführer musste somit gewärtigen,
dass Fahrzeuge auf die Fahrbahn einbiegen würden. Er musste ausserdem
mit Fussgängern und Velofahrern rechnen, zumal nach den verbindlichen
Feststellungen im angefochtenen Entscheid rechts der Strasse eine lockere
Überbauung bestand. Diese anderen Verkehrsteilnehmer durften sich, auch
soweit sie wartepflichtig waren, auf den Vertrauensgrundsatz berufen (BGE
120 IV 252 E. 2d/aa). Sie mussten sich nicht darauf einstellen, dass ein
Fahrzeug mit einer derart übersetzten Geschwindigkeit wie hier herannahen
würde. Wie das Bundesgericht in BGE 118 IV 277 dargelegt hat, muss auf
Hauptstrassen ausserorts generell mit Geschwindigkeiten von über rund 90
km/h nicht gerechnet werden. Vom Vertrauensgrundsatz ausgehen durften auch
die Fahrzeuglenker aus der Gegenrichtung. Diese mussten - namentlich vor
der Einleitung eines Überholmanövers - nicht gewärtigen, dass ihnen ein
Auto mit einer Geschwindigkeit von 123 km/h entgegenkommt. Zumindest die
konkrete Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer lag bei dieser Sachlage
nahe. Die Vorinstanz hat deshalb zu Recht eine erhöhte abstrakte Gefahr
bejaht. Zutreffend wirft sie dem Beschwerdeführer Rücksichtslosigkeit
vor. Wer die Höchstgeschwindigkeit ausserorts derart massiv überschreitet,
tut das in der Regel vorsätzlich, mindestens aber grobfahrlässig.

    Ob sich der Beschwerdeführer korrekt verhalten hätte, wenn er mit 80
km/h gefahren wäre, kann offenbleiben. Wie bereits in BGE 121 II 127 E. 4a
hervorgehoben wurde, kann eine Geschwindigkeit auch dann den Verhältnissen
nicht angepasst und deshalb gemäss Art. 32 Abs. 1 SVG vorschriftswidrig
sein, wenn sie im Rahmen der allgemeinen Höchstgeschwindigkeit nach
Art. 4a Abs. 1 VRV liegt. Die allgemeine Höchstgeschwindigkeit gemäss
Art. 4a Abs. 1 VRV ist nicht die Geschwindigkeit, die unter allen
Umständen ausgefahren werden kann; es ist die Geschwindigkeit, mit der
unter günstigen Strassen-, Verkehrs- und Sichtverhältnissen gefahren
werden darf. So hat das Bundesgericht in BGE 120 Ib 312 sogar eine
schwere Verkehrsgefährdung nach Art. 16 Abs. 3 lit. a SVG angenommen
bei einem Fahrzeuglenker, der trotz starkem Regen auf der Autobahn mit
einer Geschwindigkeit von ca. 120 km/h fuhr und infolge Aquaplanings ins
Schleudern geriet (E. 4c).

    Der Kassationshof hat in BGE 121 II 127 auf die besonderen Gefahren
von Geschwindigkeitsüberschreitungen innerorts hingewiesen (E. 4b). Die
Gefahrenlage stellt sich ausserorts teilweise anders dar. Die Zahl der vom
Lenker zu verarbeitenden Reize ist ausserorts geringer als innerorts. Auch
ausserorts sind jedoch schwache Verkehrsteilnehmer (Velofahrer, Fussgänger)
vorhanden. Zudem besteht hier ebenfalls die Gefahr von Seitenkollisionen.
Welche Risiken bei der Überschreitung der Höchstgeschwindigkeit
ausserorts bestehen, zeigen physikalische Berechnungen: Fährt ein
Auto mit einer Bremsausgangsgeschwindigkeit von 90 km/h statt mit einer
solchen von 80 km/h, hat es dort, wo es bei einer Vollbremsung mit 80 km/h
stillstehen würde, immer noch eine Geschwindigkeit von 47,3 km/h; bei einer
Bremsausgangsgeschwindigkeit von 100 km/h noch eine solche von 68,4 km/h;
bei einer Bremsausgangsgeschwindigkeit von 110 km/h noch eine solche von
85,6 km/h; bei einer Bremsausgangsgeschwindigkeit von 120 km/h noch eine
solche von 100,8 km/h (Bericht von Prof. Dr. Felix Walz, Institut für
Rechtsmedizin, Universität Zürich, zu Handen des Kassationshofes). Solche
Aufprallgeschwindigkeiten können insbesondere bei Kollisionen mit
Fussgängern und Zweiradfahrern schwerste Folgen haben. Wie in BGE 121
II 127 bereits dargelegt, sind bei Fahrzeug-Fussgänger-Kollisionen
ab einer Kollisionsgeschwindigkeit von 45 km/h tödliche Verletzungen
sehr wahrscheinlich. Aber auch bei Kollisionen zwischen Fahrzeugen,
insbesondere bei Seiten- und Frontalkollisionen, können die genannten
Aufprallgeschwindigkeiten gravierende Auswirkungen haben.

    Zu einer Änderung der Rechtsprechung im Sinne einer Milderung besteht
kein Anlass. Fragen kann man sich höchstens, ob die Praxis zu verschärfen
und angesichts der insoweit teilweise abweichenden Gefahrenlage künftig
danach zu unterscheiden sei, ob die Geschwindigkeitsvorschriften innerorts,
ausserorts oder auf der Autobahn missachtet wurden.

Erwägung 3

    3.- (Kostenfolgen).