Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 121 II 121



121 II 121

20. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 28.
April 1995 i.S. Bubenberghaus AG gegen Schweiz. Eidgenossenschaft
(PTT-Betriebe) und Präsident der Eidg. Schätzungskommission, Kreis 6
(Verwaltungsgerichtsbeschwerde) Regeste

    Art. 27 Abs. 1 und 3, Art. 76 EntG; Pflicht zur Vorlage eines
Werkplanes und Voraussetzungen zur vorzeitigen Besitzeinweisung.

    Eine vorzeitige Besitzeinweisung fällt erst in Betracht, wenn
der Inangriffnahme der Bauarbeiten für das Werk aus planungs- und
baurechtlicher Sicht nichts mehr entgegensteht (E. 1).

    Von der Pflicht zur Auflage eines Werkplanes ist der Enteigner nur
bei Enteignungen für künftige Erweiterungen bestehender Werke befreit,
nicht dagegen bei konkreten Ausbauvorhaben, die vor der Realisierung stehen
(E. 2).

Sachverhalt

    A.- Mit Eingabe vom 21. Dezember 1993 ersuchte die Generaldirektion
PTT im Namen der Schweizerischen Eidgenossenschaft den Präsidenten
der Eidgenössischen Schätzungskommission, Kreis 6, um Einleitung eines
Enteignungsverfahrens für die Erweiterung der Schanzenpost in Bern. Nach
den eingereichten Unterlagen richtet sich das Verfahren gegen die
Eigentümer von vier Grundstücken an der Laupenstrasse, darunter die
Parzelle Nr. 3263 der Bubenberghaus AG. Von den Grundeigentümern wird
die Abtretung eines Bodenstreifens, die Unterdrückung der bestehenden
Geleisedurchfahrts-Dienstbarkeit sowie die Einräumung eines Grenz- bzw.
Fassadenanbaurechts zugunsten der Enteignerin verlangt. Neben dem Gesuch um
Verfahrenseröffnung stellte die Generaldirektion PTT Antrag auf vorzeitige
Besitzeinweisung, um einerseits möglichst rasch mit den Bauarbeiten
beginnen und andererseits das kantonale Baubewilligungsverfahren in Gang
bringen zu können.

    Der Präsident der Eidgenössischen Schätzungskommission, Kreis 6,
eröffnete das Enteignungsverfahren am 23. Dezember 1993. Während der
öffentlichen Planauflage erhob die Bubenberghaus AG gegen die Enteignung
Einsprache und meldete ihre Entschädigungsforderungen an. An der
Einigungsverhandlung hielt die Grundeigentümerin an ihrer Einsprache
fest. Zum Begehren um vorzeitige Besitzeinweisung wollte sich die
Enteignete zur Zeit nicht äussern.

    Mit Verfügung vom 13. Juni 1994 gab der Präsident der
Schätzungskommission, Kreis 6, dem Gesuch um vorzeitige Besitzergreifung
hinsichtlich der Parzelle Nr. 3263 statt. Die PTT wurden aufgefordert,
dafür zu sorgen, dass die Enteignete während der Dauer der Bauarbeiten
über hinreichende Anlieferungsmöglichkeiten verfüge.

    Gegen diesen Besitzeinweisungs-Entscheid hat die Bubenberghaus AG
Verwaltungsgerichtsbeschwerde eingereicht. Sie rügt im wesentlichen,
dass die Frage der Notwendigkeit einer vorzeitigen Besitzergreifung
ungeklärt geblieben sei und dass die Voraussetzungen für die Bewilligung
der Inbesitznahme nicht erfüllt seien; insbesondere dürften die PTT mit
den Bauarbeiten ohnehin erst beginnen, wenn die im Zusammenhang mit dem
Erweiterungsprojekt abgeänderte Überbauungsordnung rechtskräftig geworden
sei und eine Baubewilligung vorliege.

    Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut aus folgenden

Auszug aus den Erwägungen:

                         Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- Der Präsident der Eidgenössischen Schätzungskommission, Kreis 6,
ist im angefochtenen Entscheid davon ausgegangen, dass die vorzeitige
Besitzeinweisung ohne weiteres erfolgen könne, wenn die in Art. 76 des
Bundesgesetzes über die Enteignung (EntG; SR 711) genannten Bedingungen
erfüllt seien. Die vorzeitige Inbesitznahme sei daher zu bewilligen,
wenn dem Unternehmen ohne eine solche bedeutende Nachteile erwüchsen,
wenn die Prüfung der Entschädigungsforderung trotz Besitzergreifung noch
möglich sei und wenn, solange noch Einsprachen hängig seien, keine Schäden
entstünden, die bei nachträglicher Gutheissung nicht wieder gut zu machen
wären. Weitere Voraussetzungen seien nicht verlangt. Diese Auffassung
geht jedoch fehl.

    Das Bundesgericht hat bereits in BGE 115 Ib 424 E. 4d S. 432
ff. eingehend dargelegt, dass die vorzeitige Besitzeinweisung bei der
Revision des Enteignungsgesetzes im Jahre 1971 wesentlich erleichtert
wurde, sich jedoch an zwei grundlegenden Voraussetzungen, die sich aus
dem Zweck und Wesen des Institutes selbst ergeben, nichts geändert hat:
Zum einen ist weiterhin erforderlich, dass der Gesuchsteller bereits
mit dem Enteignungsrecht ausgestattet ist. Muss das Enteignungsrecht für
ein bestimmtes Werk eigens noch erteilt werden, bleibt eine vorzeitige
Besitzeinweisung vor dem Verleihungsakt ausgeschlossen. Zum andern kommt
die Anwendung von Art. 76 EntG nur in Frage, wenn das Werk, für welches
enteignet wird, nach den massgebenden Spezialbestimmungen bewilligt und zum
Bau freigegeben worden ist. Solange aus bau- und planungsrechtlicher Sicht
mit den Bauarbeiten noch nicht begonnen werden kann, hat der Enteigner -
wie in BGE 116 Ib 241 E. 4b erneut betont worden ist - keinen Anspruch
auf vorzeitigen Besitz der für die Erstellung des Werkes benötigten Rechte.

    Wie sich aus dem Gesuch der Enteignerin und dem angefochtenen
Entscheid selbst ergibt, war hier im Zeitpunkt der Besitzeinweisung
weder die für das Erweiterungsprojekt massgebende Überbauungsordnung
in allen Teilen rechtskräftig, noch das Bewilligungsverfahren auch nur
eingeleitet worden. Der Stand des Baubewilligungsverfahrens gestattete
somit die Inangriffnahme der Bauarbeiten nicht; damit fehlte es auch
an der Grundlage für eine vorzeitige Inbesitznahme der zu enteignenden
Grundstücke. Die Beschwerdeführerin beklagt sich deshalb zu Recht darüber,
dass dem Gesuch um Besitzeinweisung stattgegeben worden ist, obschon noch
keine genehmigten Baupläne vorlagen.

    Nun hat allerdings die Enteignerin stets geltend gemacht, die
vorzeitige Besitzeinweisung müsse auch deshalb erfolgen, weil sie als
Baugesuchstellerin gemäss kantonalem Recht die Verfügungsgewalt über
die beanspruchten Grundstücke benötige, um das Baubewilligungsverfahren
überhaupt einleiten zu können. Das bernische Baurecht kann jedoch
offensichtlich nicht in dieser Weise ausgelegt werden. Wohl schreibt
Art. 10 Abs. 2 des kantonalen Dekretes über das Baubewilligungsverfahren
vom 10. Februar 1972 (heute vom 22. März 1994) vor, dass das Baugesuch
vom Bauherrn, vom Projektverfasser und "bei Bauten auf fremden Boden
ausserdem vom Grundeigentümer" zu unterzeichnen sei. Nach dem von der
Enteignerin selbst zitierten Kommentar zu dieser Bestimmung bzw. zu
Art. 34 des Berner Baugesetzes vom 9. Juni 1985/22. März 1994 ist jedoch
die Mitunterzeichnung durch den Grundeigentümer u.a. dann entbehrlich,
wenn der Gesuchsteller das Enteignungsrecht am Baugrundstück besitzt
(ALDO ZAUGG, Kommentar zum Baugesetz des Kantons Bern vom 9. Juni
1985, 1.A. 1987, N. 8 zu Art. 34, 2.A. 1995, N. 10 zu Art. 34 und dort
zitierte Entscheide). Die Ausübung des Enteignungsrechts gegenüber
den vier für die Erweiterung der Schanzenpost beanspruchten Parzellen
ist aber der Schweizerischen Eidgenossenschaft bzw. den PTT-Betrieben
bereits mit Bundesratsbeschluss vom 30. Juni 1993 bewilligt worden. Es
ist daher nicht einzusehen, weshalb die Enteignerin zur Einleitung des
Baubewilligungsverfahrens auf eine vorzeitige Besitzeinweisung - die ihr
ja das Eigentum an den beanspruchten Rechten nicht zu verschaffen vermag
- angewiesen wäre. Im übrigen könnten kantonale Bestimmungen ohnehin
an den im Bundesrecht festgelegten Erfordernissen für die vorzeitige
Besitzergreifung im Enteignungsverfahren nichts ändern.

    Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde ist daher gutzuheissen und die
Besitzeinweisungs-Verfügung aufzuheben.

Erwägung 2

    2.- Der Vollständigkeit halber und im Hinblick auf die Funktion
des Bundesgerichts als Aufsichtsbehörde gegenüber den Eidgenössischen
Schätzungskommissionen (Art. 63 EntG; vgl. BGE 112 Ib 538 E. 1) sind zum
Vorgehen des Schätzungskommissions-Präsidenten noch folgende Bemerkungen
anzubringen:

    Wie sich aus den Akten ergibt und auch im angefochtenen Entscheid
ausgeführt wird, hat der Präsident das Enteignungsverfahren trotz
Fehlen eines Werkplans eröffnet, weil es hier um die Erweiterung eines
bereits bestehenden öffentlichen Werkes gehe und in diesem Fall gemäss
Art. 27 Abs. 3 EntG keine Werkpläne vorgelegt werden müssten. Von der
Pflicht zur Auflage eines Werkplanes ist der Enteigner indessen nur
bei Enteignungen für künftige Erweiterungen bestehender Werke befreit,
das heisst bei vorsorglichen Enteignungen, die dazu dienen, sich den
notwendigen Boden für spätere Erweiterungsbedürfnisse zu sichern. Da in
solchen Fällen zwar wahrscheinlich sein muss, dass das Werk innert der
zur Verfügung stehenden Dauer von 25 Jahren erweitert wird (vgl. Art. 102
Abs. 1 lit. b EntG; BGE 120 Ib 276 E. 7), aber jedenfalls noch kein
ausführungsreifes Projekt besteht, kann in der Regel ein Werkplan auch gar
nicht angefertigt werden. Allfälligen bereits vorliegenden Plänen kommt
keine bindende Wirkung zu (BGE 120 Ib 496 E. 6c/bb S. 502). Handelt
es sich dagegen - wie hier - nicht um eine künftige Werkerweiterung,
sondern um ein vor der Realisierung stehendes konkretes Ausbauvorhaben,
so kann sich der Enteigner nicht auf die Sondervorschrift von Art. 27
Abs. 3 EntG berufen und sind die formellen Erfordernisse des ordentlichen
Enteignungsverfahrens einzuhalten. Es ist denn auch nicht ersichtlich,
weshalb für die Erweiterung eines bestehenden Werkes andere Anforderungen
an die enteignungsrechtlichen Planunterlagen gestellt werden sollten als
für einen Neubau.

    Aus den Ausführungen über die Natur der vorsorglichen Enteignung
ergibt sich im übrigen, dass dieses Sonderverfahren, welches der Deckung
des Landbedarfes für zukünftige Projekte dient, und das Institut der
vorzeitigen Besitzeinweisung, welches die beschleunigte Verwirklichung
einer bereits bewilligten Baute oder Anlage bezweckt, sich von ihrem
Wesen her gegenseitig ausschliessen.

    Der Präsident der Schätzungskommission hätte demnach das
Enteignungsverfahren mangels eines Werkplanes gar nicht eröffnen
dürfen. Es stellt sich deshalb die Frage, ob das ganze Verfahren
aufsichtsrechtlich aufzuheben sei (vgl. BGE 115 Ib 13 E. 3, 111 Ib 15
E. 9). Indessen sind, wie in der angefochtenen Verfügung erwähnt wird,
von der Enteignerin detaillierte Projektstudien aufgelegt worden, welche
dem Werkplan im Sinne von Art. 27 Abs. 1 EntG nahe kommen. Es darf deshalb
davon ausgegangen werden, dass die Beschwerdeführerin in der Lage war,
sich ein Bild über das Bauvorhaben zu machen und sachgerechte Begehren
und Einwendungen gegen das Werk vorzubringen. Von der Aufhebung des
Verfahrens ist daher aus Gründen der Rechtssicherheit abzusehen. Sollten
allerdings die endgültigen Werkpläne bzw. die im noch durchzuführenden
Baubewilligungsverfahren genehmigten Pläne in wesentlichen Punkten
von den bisher bekannten Projektstudien abweichen, so müsste unter
erneuter öffentlicher Bekanntmachung und persönlicher Benachrichtigung
der Enteigneten (Art. 31 EntG) eine neue Planauflage erfolgen (vgl. BGE
111 Ib 15 E. 6).