Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 121 II 116



121 II 116

19. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung vom
6. April 1995 i.S. B. gegen Appellationsgericht des Kantons Basel-Stadt
(Verwaltungsgerichtsbeschwerde) Regeste

    Art. 15 OHG. Anspruch des Opfers auf Vorschuss.

    Rechtsweg. Zulässigkeit der Verwaltungsgerichtsbeschwerde.
Nichtwiedergutzumachender Nachteil eines Zwischenentscheides, mit dem
die Vorschussleistung verweigert wurde (E. 1).

    Summarische Prüfung eines Gesuchs um Vorschuss nach Art. 15 OHG durch
die kantonalen Behörden (E. 2a).

Sachverhalt

    A.- B. arbeitete als Zimmermädchen in einem Hotel in Basel.
Am 18. Juni 1993 ertappte sie einen Einbrecher, der sich an der Türe
eines Hotelzimmers zu schaffen machte. Der Einbrecher ergriff die
Flucht und stiess dabei B. beiseite, so dass sie stürzte und sich unter
anderem am Kopf verletzte. Als Folge dieses Ereignisses beklagte sich
B. über verschiedene Beschwerden. Sie war seit dem 18. Juni 1993 zumeist
arbeitsunfähig.

    Nach einem Gutachten der Psychiatrischen Universitätsklinik Basel,
welches diese am 29. November 1994 dem Appellationsgericht Basel-Stadt
erstattete, leidet B. "an einer mit überwiegender Wahrscheinlichkeit
posttraumatischen Epilepsie und an einer psychischen posttraumatischen
Belastungsstörung". Über den Zusammenhang dieser gesundheitlichen
Beeinträchtigung mit der Straftat vom 19. Juni 1993 führt das Gutachten
folgendes aus: "Mit überwiegender Wahrscheinlichkeit ist die Epilepsie
eine posttraumatische und ursächlich auf die Straftat vom 18.6.1993
zurückzuführen. Die posttraumatische psychische Belastungsstörung ist
mit Sicherheit auf die Straftat vom 18.6.1993 zurückzuführen."

    Durch ihren Anwalt liess B. am 16. September 1993 gestützt auf das
Bundesgesetz vom 4. Oktober 1991 über die Hilfe an Opfer von Straftaten
(Opferhilfegesetz, OHG; SR 312.5) beim Amt für Sozialbeiträge Basel-Stadt
ein Gesuch um angemessene Entschädigung und Genugtuung stellen. Dieses
Gesuch ergänzte sie am 19. November 1993 mit dem Begehren gemäss Art. 15
OHG um einen Vorschuss von Fr. 8'000.--. Mit Verfügung vom 6. Dezember
1993 wies das Amt für Sozialbeiträge Basel-Stadt das Gesuch ab. Dagegen
erhob B. Beschwerde beim Appellationsgericht Basel-Stadt und stellte dort
während der Rechtshängigkeit am 17. August 1994 erneut ein Gesuch um einen
Vorschuss von Fr. 8'000.--. Dieses Gesuch wies das Appellationsgericht
Basel-Stadt mit einem als Zwischenentscheid überschriebenen Urteil vom
15. September 1994 ab.

    Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde vom 31. Oktober 1994 stellt B. den
Antrag, der Entscheid des Appellationsgerichts sei aufzuheben und das
Amt für Sozialbeiträge anzuweisen, ihr einen Vorschuss von Fr. 8'000.--
zu leisten. Sie ersucht ausserdem um unentgeltliche Rechtspflege.

    Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut und hebt den Entscheid
des Appellationsgerichts auf.

Auszug aus den Erwägungen:

                     Aus den Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- a) Gemäss Art. 64ter BV haben der Bund und die Kantone dafür
zu sorgen, dass die Opfer von Straftaten gegen Leib und Leben Hilfe
erhalten. Dazu gehört eine angemessene Entschädigung, wenn das Opfer wegen
der Straftat in wirtschaftliche Schwierigkeiten gerät. Der vierte Abschnitt
des OHG konkretisiert diese Ansprüche. Nach Art. 11 ff. OHG erhält das
Opfer (vgl. zum Opferbegriff Art. 2 OHG; BGE 120 Ia 157 E. 2d S. 162,
120 IV 44 E. 2 S. 49) unter gewissen Voraussetzungen eine Entschädigung
oder Genugtuung vom Staat. Diese staatlichen Leistungen sind subsidiär
im Verhältnis zu Ansprüchen des Opfers gegenüber Dritten. Aufgrund einer
summarischen Prüfung des Entschädigungsgesuches wird ein Vorschuss gewährt,
wenn das Opfer sofortige finanzielle Hilfe benötigt oder wenn die Folgen
der Straftat kurzfristig nicht mit hinreichender Sicherheit festzustellen
sind (Art. 15 lit. a und b OHG). Die Kantone haben zur Geltendmachung
solcher Entschädigungs- und Genugtuungsleistungen ein einfaches, rasches
und kostenloses Verfahren vorzusehen und den Sachverhalt von Amtes wegen
festzustellen (Art. 16 Abs. 1 und 2 OHG).

    Entschädigung und Genugtuung gemäss OHG sind nach dem Gesagten
Leistungen, die dem Bundesverwaltungsrecht zugeordnet werden müssen. Über
sie wird im Rahmen einer Verfügung nach Art. 5 VwVG (SR 172.021)
entschieden.

    b) In bezug auf den Rechtsschutz schreibt das OHG den Kantonen
eine einzige, von der Verwaltung unabhängige Beschwerdeinstanz vor,
welcher freie Überprüfungsbefugnis zukommen muss (Art. 17 OHG). Über den
bundesrechtlichen Rechtsschutz sagt das OHG nichts. Es gelten daher die
Regeln des OG. Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde ist gemäss Art. 97 OG
in Verbindung mit Art. 5 VwVG zulässig gegen Verfügungen, die sich auf
öffentliches Recht des Bundes stützen, sofern diese von den in Art. 98
OG genannten Vorinstanzen erlassen worden sind und keiner der in Art. 99
ff. OG oder in der Spezialgesetzgebung vorgesehenen Ausschlussgründe
vorliegt.

    aa) Das Appellationsgericht des Kantons Basel-Stadt hat
letztinstanzlich im Sinne von Art. 98 lit. g OG entschieden.

    bb) Als Ausschlussgrund für eine Verwaltungsgerichtsbeschwerde fällt
hier zunächst Art. 99 lit. h OG in Betracht. Da indessen Art. 12 OHG einen
Rechtsanspruch auf eine Entschädigung vorsieht, vermag Art. 99 lit. h OG
nicht zu greifen. Für den Vorschuss auf die Entschädigung (Art. 15 OHG)
gilt gleiches.

    cc) Die Vorinstanz hat ihren Entscheid als Zwischenentscheid
überschrieben. Die Beschwerdeführerin ist dagegen der Meinung, es
liege ein sogenannter Teilentscheid vor, der in gleicher Weise wie ein
Endentscheid angefochten werden könne (vgl. BGE 120 Ib 97 E. 1b S. 99,
mit Hinweisen).

    Das Gesuch um Vorschuss nach Art. 15 OHG hängt mit dem Gesuch um
Entschädigung (Art. 11 ff. OHG) zusammen. Jenes nimmt sich zu diesem
als vorläufige Massnahme aus. Der Vorschuss soll eine sofortige Hilfe
gewähren und die Wartezeit bis zum endgültigen Entscheid über das
Entschädigungsgesuch überbrücken. Er nimmt in diesem Sinne nicht die
Antwort für einen einzelnen Aspekt des Entschädigungsentscheides voraus,
wie das für einen Teilentscheid zuträfe. Entfällt die Entschädigung oder
zeigt sich später, dass diese geringer ausfällt als der gewährte Vorschuss,
so muss dieser bzw. die Differenz zurückerstattet werden (vgl. Art. 5 der
Verordnung des Bundesrates vom 18. November 1992 über die Hilfe an Opfer
von Straftaten (OHV; SR 312.51) sowie die Botschaft des Bundesrates zum
Opferhilfegesetz, BBl 1990 II 992). Solche vorsorgliche Massnahmen sind
als Zwischenentscheide selbständig mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde
anfechtbar, sofern auch in der Hauptsache dieses Rechtsmittel gegeben
ist, und sie einen nicht wiedergutzumachenden Nachteil bewirken können (a
contrario Art. 101 lit. a OG in Verbindung mit Art. 45 Abs. 1 VwVG). Beide
Voraussetzungen sind hier erfüllt. Gegen Entscheide über die Entschädigung
gemäss Art. 11 ff. OHG steht die Verwaltungsgerichtsbeschwerde offen
(vgl. E. 1b/aa und bb hiervor). Den nicht wiedergutzumachenden Nachteil
eines für den Gesuchsteller negativen Entscheides über den Vorschuss
verneinen, hiesse den eben umschriebenen Sinn und Zweck dieses Instituts
verkennen.

    dd) Zwischenentscheide müssen innert zehn Tagen angefochten werden
(Art. 106 Abs. 1 OG). Diese Frist ist hier eingehalten worden.

    c) Die Beschwerdeführerin ist mit ihrem Gesuch um einen
Vorschuss gemäss Art. 15 OHG nicht durchgedrungen. Sie ist daher zur
Verwaltungsgerichtsbeschwerde befugt (Art. 103 lit. a OG). Auch die
übrigen Sachurteilsvoraussetzungen (Art. 108 OG) sind erfüllt. Auf die
Verwaltungsgerichtsbeschwerde ist demnach einzutreten.

Erwägung 2

    2.- Die Vorinstanz hat erwogen, es gehe nicht an, die Antwort
auf die Frage nach der Berechtigung einer Entschädigung gemäss Art. 11
ff. OHG im Entscheid betreffend die Vorschussleistung vorwegzunehmen. Im
vorliegenden Fall erwiesen sich die Abklärungen über die grundsätzliche
Anspruchsberechtigung der Beschwerdeführerin als äusserst schwierig. Es sei
denn auch ein ärztliches Gutachten in Auftrag gegeben worden. Bevor dieses
Gutachten vorliege, erlaube eine bloss summarische Prüfung des Gesuchs
keine Beurteilung der grundsätzlichen Anspruchsberechtigung. Deshalb sei
das Gesuch um Vorschuss abzuweisen. Die Beschwerdeführerin hält diese
Auffassung als mit Art. 15 OHG unvereinbar.

    a) Wie das EJPD in seiner Beschwerdevernehmlassung zutreffend ausführt,
regelt Art. 15 OHG zweierlei: Zum einen umschreibt er in den lit. a und
b die (materiellen) alternativen Voraussetzungen, bei deren Vorliegen
ein Anspruch auf Vorschuss besteht. Zum andern trägt der Einleitungssatz
von Art. 15 OHG der Behörde in verfahrensrechtlicher Hinsicht auf, das
Entschädigungsgesuch - und nicht etwa das Gesuch um Vorschuss - summarisch
auf seine Begründetheit zu prüfen. Dazu gehört zunächst die Abklärung, ob
das Gesuch rechtzeitig innert zwei Jahren nach der Straftat eingereicht
worden ist (Art. 16 Abs. 3 OHG). Weiter hat sich diese summarische
Prüfung des Entschädigungsgesuchs im Hinblick auf eine Vorschussgewährung
mit den Anspruchsvoraussetzungen gemäss Art. 12 OHG (Opfer, Schaden,
besondere wirtschaftliche Verhältnisse) auseinanderzusetzen. Summarische
Prüfung heisst in diesem Zusammenhang folgendes: Geht bereits aus
dem Entschädigungsgesuch hervor, dass die Ansprecherin nicht Opfer im
Sinn von Art. 2 OHG ist, oder dass kein durch die fragliche Straftat
verursachter Vermögensschaden vorliegt oder dass das voraussichtliche
Einkommen über dem Grenzwert liegt, so ist das Entschädigungsgesuch
sofort abzuweisen. Das davon abhängige Vorschussgesuch wird in einem
solchen Fall ohne weiteres gegenstandslos. Bedürfen hingegen die Fragen
der grundsätzlichen Anspruchsvoraussetzung genauerer Abklärung, weil das
Gesuch nicht zum vornherein aussichtslos ist, so ist auf das Gesuch um
Vorschuss einzutreten. Die Behörde muss alsdann - und zwar nicht bloss
summarisch - prüfen, ob eine der beiden alternativen Voraussetzungen gemäss
Art. 15 OHG erfüllt ist. Dass Art. 15 OHG in dieser Weise vorläufigen
Schutz gewähren will, wurde bereits dargelegt (oben E. 1b/cc).

    b) Die Vorinstanz hat den Entschädigungsanspruch der Beschwerdeführerin
im angefochtenen Entscheid weder bejaht noch verneint. Sie hat
vielmehr zu erkennen gegeben, dass sie darüber erst aufgrund eines
fachärztlichen Gutachtens befinden könne. Sie ist verfahren, wie wenn
die summarische Prüfung des Entschädigungsgesuchs ergeben hätte, dass
die Anspruchsvoraussetzungen fehlten. Ob dem so ist, steht aber nicht
fest. Vielmehr brachte die Vorinstanz selber zum Ausdruck, dass sie
sich darüber nicht im klaren war. Indem die Vorinstanz alsdann ohne
jede weitere Prüfung das Vorschussgesuch abgewiesen hat, hat sie nach
dem in E. 2a hiervor Gesagten die ihr durch Art. 15 OHG aufgetragenen
Prüfungspflichten verletzt. Das führt zur Gutheissung der Beschwerde und
zur Aufhebung des angefochtenen Entscheids.