Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 121 II 110



121 II 110

18. Urteil der II. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 12. Juli 1995 i.S.
Jamal Miri gegen Fremdenpolizei des Kantons Bern und Richteramt II von Bern
(Verwaltungsgerichtsbeschwerde) Regeste

    Art. 13b Abs. 2 in Verb. mit 13c Abs. 2 und 3 ANAG; Ausschaffungshaft.

    Der Haftrichter entscheidet über die Ausschaffungshaft immer aufgrund
einer mündlichen Verhandlung, so auch bei der Zustimmung gemäss Art. 13b
Abs. 2 ANAG zur Verlängerung der Ausschaffungshaft nach drei Monaten
(E. 1).

    Wurde die Zustimmung zur Haftverlängerung ohne mündliche Verhandlung
erteilt, ist der Ausländer, ohne Rückweisung der Sache an den Haftrichter
zu neuem Entscheid, aus der Haft zu entlassen, wenn er weder die
öffentliche Sicherheit gefährdet noch die öffentliche Ordnung massgeblich
beeinträchtigt (E. 2).

Sachverhalt

    A.- Das Bundesamt für Flüchtlinge wies am 14. Juni 1994 ein Asylgesuch
des aus dem Libanon stammenden Palästinensers Jamal Miri ab und wies ihn
aus der Schweiz weg. Die Schweizerische Asylrekurskommission bestätigte
am 30. September 1994 die Verfügung des Bundesamtes, und dieses setzte
Frist bis 31. Oktober 1994 zum Verlassen der Schweiz. Jamal Miri kam
dieser Aufforderung in der Folge nicht nach.

    Die Fremdenpolizei des Kantons Bern verfügte am 22. Februar 1995 die
Ausschaffung von Jamal Miri und ordnete zur Sicherstellung dieser Massnahme
die Ausschaffungshaft an. Nach einer ersten erfolglosen Vorsprache am
6. April 1995 konnte die Polizei Jamal Miri am 9. April 1995 anhalten
und in Ausschaffungshaft nehmen. Der a.o. Untersuchungsrichter 3 von Bern
bestätigte am 13. März 1995 nach mündlicher Anhörung von Jamal Miri die
Ausschaffungshaft. Der Gerichtspräsident II von Bern wies am 3. Mai 1995
ein Haftentlassungsgesuch Jamal Miris nach Durchführung einer Verhandlung
ab. Auf eine Verwaltungsgerichtsbeschwerde trat das Bundesgericht
nicht ein, soweit sie sich gegen den Haftbestätigungsentscheid des
Untersuchungsrichters richtete, und wies sie ab, soweit damit der
Haftbelassungsentscheid des Gerichtspräsidenten angefochten wurde (nicht
veröffentlichtes Urteil vom 20. Juni 1995).

    Der Ausländer- und Bürgerrechtsdienst der Kantonspolizei Bern ersuchte
am 1. Juni 1995 um Verlängerung der Ausschaffungshaft. Am 7. Juni 1995
hiess der Gerichtspräsident II von Bern das Gesuch nach Einholen einer
schriftlichen Vernehmlassung gut und verlängerte die Ausschaffungshaft
um sechs Monate.

    Am 30. Juni 1995 erhob Jamal Miri gegen den Haftverlängerungsentscheid
vom 7. Juni 1995 Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Das Bundesgericht
heisst die Verwaltungsgerichtsbeschwerde gut und ordnet die unverzügliche
Haftentlassung von Jamal Miri an,

Auszug aus den Erwägungen:

                  aus folgenden Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- a) Gemäss Art. 13b Abs. 1 des Bundesgesetzes über Aufenthalt und
Niederlassung der Ausländer (ANAG; SR 142.20) in der am 1. Februar 1995
in Kraft getretenen Fassung des Bundesgesetzes vom 18. März 1994 über
Zwangsmassnahmen im Ausländerrecht (AS 1995 151) kann die zuständige
kantonale Behörde den Ausländer, gegen welchen ein erstinstanzlicher Weg-
oder Ausweisungsentscheid eröffnet wurde, zur Sicherstellung des Vollzugs
in Ausschaffungshaft nehmen, wenn einer der in Art. 13b Abs. 1 lit. b oder
c ANAG genannten Haftgründe vorliegt. Die Haft darf höchstens drei Monate
dauern; stehen dem Vollzug der Weg- oder Ausweisung besondere Hindernisse
entgegen, so kann die Haft mit Zustimmung der kantonalen richterlichen
Behörde um höchstens sechs Monate verlängert werden (Art. 13b Abs. 2 ANAG).

    b) Die Ausschaffungshaft wird von den kantonalen Behörden
angeordnet. Das Bundesrecht enthält selber verfahrensrechtliche
Bestimmungen, die im kantonalen Verfahren zu berücksichtigen sind.

    Gemäss Art. 13c Abs. 2 ANAG sind die Rechtmässigkeit und Angemessenheit
der Haft spätestens nach 96 Stunden durch eine richterliche Behörde
aufgrund einer mündlichen Verhandlung zu überprüfen (Art. 13c Abs. 2
ANAG). Der inhaftierte Ausländer kann einen Monat nach der Haftprüfung ein
Haftentlassungsgesuch einreichen, worüber die richterliche Behörde innert
acht Arbeitstagen aufgrund einer mündlichen Verhandlung zu entscheiden
hat; ein erneutes Gesuch um Haftentlassung kann bei der Ausschaffungshaft
nach zwei Monaten gestellt werden (Art. 13c Abs. 4 ANAG). Die nach
einer Haftdauer von drei Monaten erforderliche Entscheidung über die
Haftverlängerung um höchstens sechs Monate bedarf der "Zustimmung der
kantonalen richterlichen Behörde".

    Die richterliche Behörde berücksichtigt bei der Überprüfung des
Entscheides über Anordnung, Fortsetzung und Aufhebung der Haft neben den
Haftgründen insbesondere die familiären Verhältnisse der inhaftierten
Person und die Umstände des Haftvollzugs (Art. 13c Abs. 3 ANAG).

    c) Der Haftrichter erteilte seine Zustimmung zur von der Polizei
beantragten Verlängerung der Ausschaffungshaft in einem schriftlichen
Verfahren; nachdem der Rechtsvertreter des Beschwerdeführers am 6. Juni
1995 eine Vernehmlassung eingereicht hatte, ordnete der Gerichtspräsident
keine mündliche Verhandlung an, sondern entschied am 7. Juni 1995
unmittelbar aufgrund des Antrags der Polizei, der Vernehmlassung und der
Akten. Der Beschwerdeführer macht geltend, der Haftrichter habe dadurch,
dass er ohne mündliche Verhandlung über das Verlängerungsgesuch entschied,
Bundesrecht verletzt.

    Diese Rüge ist begründet. Wohl sieht das Gesetz hinsichtlich der
Haftverlängerung nach drei Monaten Haft bloss vor, dass diese der
richterlichen Zustimmung bedürfe; von einer mündlichen Verhandlung
ist nicht die Rede. Das vom Gesetzgeber geschaffene System mit einer
Abfolge von richterlichen Entscheiden vorerst über die Anordnung der
Ausschaffungshaft, dann über ein allfälliges Haftentlassungsgesuch,
anschliessend über die Verlängerung der Ausschaffungshaft und sodann über
allfällige weitere Haftentlassungsgesuche schliesst indessen die Annahme
aus, dass einzig und gerade für den Haftverlängerungsentscheid keine
mündliche Verhandlung durchgeführt werden müsste. Es machte offensichtlich
keinen Sinn, dem inhaftierten Ausländer eine mündliche Verhandlung nach
einem Monat, dann nach dem fünften und schliesslich nach dem siebten
Haftmonat zu garantieren, wenn der Haftrichter bloss auf Gesuch hin tätig
wird, nicht aber nach dem dritten Monat, für welchen Zeitpunkt das Gesetz
eine obligatorische Haftprüfung vorschreibt. Vielmehr ist anzunehmen, dass
eine vollständige Haftprüfung und damit auch eine mündliche Verhandlung
(zumindest) alle zwei Monate ermöglicht werden sollte. Dem Beschwerdeführer
ist darin beizupflichten, dass es nicht Absicht des Gesetzgebers gewesen
sein konnte, eine mündliche Verhandlung gerade dann als entbehrlich
zu betrachten, wenn an die Fortsetzung der Haft weitere Anforderungen
gestellt werden und nebst sämtlichen sich bei Haftentlassungsgesuchen
stellenden Fragen zusätzlich zu prüfen ist, ob dem Vollzug der Weg- oder
Ausweisung besondere Hindernisse entgegenstehen. Dass der Gesetzgeber
für die richterliche Zustimmung zur Haftverlängerung nicht ausdrücklich
eine mündliche Verhandlung fordert, ist unter diesen Umständen nicht als
qualifiziertes Schweigen zu werten, wie auch das Bundesamt für Flüchtlinge
in seiner Vernehmlassung zu Recht festhält.

    Der angefochtene, in einem schriftlichen Verfahren ergangene Entscheid
verletzt demnach Bundesrecht und ist aufzuheben.

Erwägung 2

    2.- a) Nicht jede Verletzung von Verfahrensvorschriften führt zur
Haftentlassung. Es kommt vielmehr einerseits darauf an, welche Bedeutung
den verletzten Vorschriften für die Wahrung der Rechte des Betroffenen
zukommt. Einer Haftentlassung kann andererseits das Interesse an einer
reibungslosen Durchsetzung der Ausschaffung entgegenstehen. Dieses
hat besonderes Gewicht und vermag unter Umständen selbst erhebliche
Verfahrensfehler aufzuwiegen, wenn der Ausländer die öffentliche Sicherheit
und Ordnung gefährdet (BGE 121 II 109 E. 2c).

    b) Der Anspruch auf mündliche Verhandlung vor dem Richter stellt
eine wichtige prozessuale Garantie dar, welche vor willkürlichem Entzug
der Freiheit schützen soll. Dies zeigt gerade der vorliegende Fall. Der
Haftrichter musste aufgrund der Vorbringen einerseits in der Vernehmlassung
des Beschwerdeführers im Haftverlängerungsverfahren, andererseits in der
ihm bekannten Verwaltungsgerichtsbeschwerde vom 31. Mai 1995 gegen den
Entscheid vom 3. Mai 1995 über das Haftentlassungsgesuch vorerst prüfen,
ob der Haftgrund (noch) erfüllt war, und sich mit den Haftbedingungen
im Bezirksgefängnis Frutigen befassen. Eine umfassende Prüfung mit
der Möglichkeit von Rückfragen, beispielsweise bei der Fremdenpolizei,
war ernsthaft nur im Rahmen einer mündlichen Verhandlung möglich. Der
Verzicht darauf stellt einen gewichtigen Verfahrensfehler dar.

    Demgegenüber gibt es keine Anzeichen dafür, dass der  Beschwerdeführer
die öffentliche Sicherheit in irgendeiner Weise gefährdet oder die
öffentliche Ordnung massgeblich beeinträchtigt hätte (vgl. auch nachfolgend
E. c). Es steht lediglich fest, dass er nach rechtskräftiger Abweisung
des Asylgesuchs vorerst keine Schritte unternommen hat, die Schweiz
zu verlassen. Unter diesen Umständen ist der Beschwerdeführer aus der
Ausschaffungshaft zu entlassen.

    c) Die Haftentlassung rechtfertigt sich um so mehr, als
der Beschwerdeführer beim Haftrichter gewichtige Rügen wegen der
Haftbedingungen im Bezirksgefängnis Frutigen vortrug; so soll es ihm
verunmöglicht sein, täglich im Freien zu spazieren. In seinem Entscheid
hat der Haftrichter bloss festgestellt, dass der Beschwerdeführer "sich
offenbar zur Zeit im Bezirksgefängnis Frutigen befindet", und weiter
ausgeführt, es bestehe kein Anspruch auf geeignete Beschäftigung. Zu den
in der vorliegenden Verwaltungsgerichtsbeschwerde erhobenen Vorwürfen hat
er nicht Stellung genommen. Auch die Fremdenpolizei hat auf Vernehmlassung
verzichtet. Die Darstellung des Beschwerdeführers, er könne nicht täglich
im Freien spazieren, ist unwidersprochen geblieben.

    Schliesslich ist zweifelhaft, ob der Haftgrund von Art. 13b Abs. 1
lit. c ANAG erfüllt ist. Wohl hat das Bundesgericht im Urteil vom
20. Juni 1995 entschieden, dass aufgrund der Sachlage, wie sie sich
dem Haftrichter am 3. Mai 1995, zum Zeitpunkt des Entscheids über das
Haftentlassungsgesuch, präsentierte, eine beträchtliche Wahrscheinlichkeit
dafür bestand, dass der Beschwerdeführer sich der Ausschaffung entziehen
würde (E. 4). Wegen des für das bundesgerichtliche Verfahren geltenden
Novenverbots (Art. 105 Abs. 2 OG) konnten jedoch verschiedene nachträgliche
Vorbringen des Beschwerdeführers nicht berücksichtigt werden, denen der
Haftrichter spätestens in seinem Haftverlängerungsentscheid Rechnung
tragen musste und die für das heutige bundesgerichtliche Verfahren nicht
mehr neu sind. So entfällt vor allem der für die Bewertung des Verhaltens
des Beschwerdeführers gewichtige Vorwurf, er habe falsche Personalien-
und Herkunftsangaben gemacht, vollständig; der Beschwerdeführer gab
diesbezüglich von Anfang an zutreffend Auskunft. Sodann lässt sich
angesichts der Bestätigung der Leitung des Durchgangsheims Dreispitz,
dass der Beschwerdeführer sich mit ihrem Wissen häufig bei einem Freund
aufgehalten habe, nicht mehr ohne weiteres sagen, er sei anfangs April 1995
untergetaucht; nach der einzigen dokumentierten erfolglosen Vorsprache
der Polizei vom 6. April 1995 konnte der Beschwerdeführer am 9. April
1995 beim Durchgangsheim selber angehalten werden. Das Verhalten ab dem
1. Februar 1995 lässt, selbst im Lichte seines früheren Verhaltens, das nur
ergänzend berücksichtigt werden kann (vgl. Urteil vom 20. Juni 1995, E. 4b;
der Haftrichter hat die Übergangsbestimmung zum Zwangsmassnahmengesetz
auch in seinem neuen Entscheid nicht beachtet), kaum genügend konkrete
Anzeichen dafür erkennen, dass der Beschwerdeführer sich der Ausschaffung
entziehen will.

    d) Wird der Beschwerdeführer freigelassen, ist es den kantonalen
Behörden nicht verwehrt, die nötigen Vorkehren für die Ausschaffung zu
treffen. So steht nichts entgegen, dem Beschwerdeführer aufzuerlegen,
sich den Behörden für Abklärungen zur Verfügung zu halten. Sollte er
untertauchen, läge ein neuer Sachverhalt vor, der Grundlage dafür sein
könnte, dass er wieder inhaftiert wird.