Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 121 III 386



121 III 386

76. Urteil der Schuldbetreibungs- und Konkurskammer vom 22. November 1995
i.S. Sozialversicherungsanstalt des Kantons St. Gallen (Rekurs) Regeste

    Art. 206 SchKG; Art. 52 AHVG.

    Eine auf Art. 52 AHVG gestützte Schadenersatzforderung der
Ausgleichskasse entsteht spätestens im Zeitpunkt, wo die Ausgleichskasse
ihre Verfügung gemäss Art. 81 Abs. 1 AHVV erlässt. Demzufolge ist im
vorliegenden Fall die Schadenersatzforderung vor der Konkurseröffnung
entstanden und kann dafür nicht eine neue Betreibung angehoben werden.

Sachverhalt

    A.- Am 4. Januar 1988 erhob die Sozialversicherungsanstalt des Kantons
St. Gallen gegen P. - ehemaligen Verwaltungsrat der in Konkurs gefallenen
R. Ltd. - Klage beim Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen,
welches Rekursbehörde im Sinne von Art. 81 Abs. 3 AHVV (SR 831.101)
ist. Die Klage wurde, nachdem die Sache zuvor an das Eidgenössische
Versicherungsgericht weitergezogen und von diesem zu neuer Entscheidung
an das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen zurückgewiesen worden
war, mit Entscheid vom 30. Juni 1994 teilweise geschützt; und es wurde
festgestellt, dass der Beklagte P. der Klägerin unter solidarischer
Haftung mit K. F. und M. F. Schadenersatz in Höhe von Fr. 40'429.55 zu
leisten habe.

    Inzwischen - am 24. November 1992 - war über P. der Konkurs eröffnet
worden.

    B.- Am 15. Mai 1995 stellte das Betreibungsamt Zug auf Begehren der
Sozialversicherungsanstalt des Kantons St. Gallen P. für eine Forderung von
Fr. 40'429.55 den Zahlungsbefehl zu. Die Forderung stützte sich auf das
Urteil des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 30. Juni 1994.

    P. beschwerte sich über die Zustellung des Zahlungsbefehls am 22. Mai
1995 bei der Justizkommission des Obergerichts des Kantons Zug und
beantragte, die Betreibung sei für nichtig zu erklären. Er begründete
seine Beschwerde damit, dass die betriebene Forderung schon vor der
Eröffnung des Konkurses über ihn entstanden sei, weshalb die Betreibung
gegen Art. 206 SchKG verstosse.

    Mit Urteil vom 8. September 1995 hiess die kantonale Aufsichtsbehörde
die Beschwerde gut und stellte fest, dass die Betreibung nichtig sei.

    C.- Die Sozialversicherungsanstalt des Kantons St. Gallen zog die
Sache an die Schuldbetreibungs- und Konkurskammer des Bundesgerichts
weiter. Diese wies den Rekurs ab

Auszug aus den Erwägungen:

                   aus folgenden Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- Die Sozialversicherungsanstalt des Kantons St. Gallen stellt
sich im vorliegenden Fall auf den Standpunkt, ihre Forderung sei erst
nach der Konkurseröffnung entstanden.

    Die Geltendmachung einer Forderung gemäss Art. 52 AHVG (SR 831.10),
führt die Rekurrentin aus, habe in einem insbesondere durch Art. 81
f. AHVV geregelten Verfahren zu erfolgen. Dieses Verfahren zeige klar
auf, dass anders als im Zivilrecht die Entstehung des Schadens und
die Entstehung der Schadenersatzforderung voneinander unabhängig
seien. Der Schaden entstehe zwar in dem Zeitpunkt, wo sich die
Beitragsforderung der Ausgleichskasse als uneinbringlich erweise,
die daraus (mittelbar) resultierende Schadenersatzforderung entstehe
aber erst mit der entsprechenden (Gestaltungs-)Verfügung bzw., wenn
Einspruch erhoben werde, mit dem entsprechenden Gerichtsurteil. Das
zeige sich vor allem auch in einer Besonderheit des Verfahrens: Gemäss
Art. 81 Abs. 3 AHVV entstehe die Schadenersatzforderung gar nicht,
wenn auf den Einspruch gegen die Schadenersatzverfügung keine Klage
der Ausgleichskasse folge. Würde eine grundsätzlich gemäss Art. 52 AHVG
haftpflichtige Person einen Schaden decken, obwohl sie zuvor gegen die
Schadenersatzverfügung Einspruch erhoben und die Ausgleichskasse auf
eine Klage verzichtet hätte, so würde eine Nichtschuld bezahlt und wäre
demzufolge die Ausgleichskasse rückerstattungspflichtig. Das Verfahren
zur Geltendmachung der Schadenersatzforderung zeige also auf, dass die
Pflicht zur Schadenersatzleistung nicht unmittelbar durch Art. 52 AHVG
begründet werde, sondern dass eine entsprechende Gestaltungsverfügung
ergehen müsse. Die Gestaltungsverfügung lasse natürlich erst dann eine
Schadenersatzforderung entstehen, wenn sie in Rechtskraft erwachse,
im vorliegenden Fall also mit dem Urteil des Versicherungsgerichts des
Kantons St. Gallen vom 30. Juni 1994, das unangefochten in Rechtskraft
erwachsen sei.

Erwägung 3

    3.- a) Schaden entsteht in dem Augenblick, wo die Arbeitgeberbeiträge
aus rechtlichen Gründen - so im Falle der Verjährung gemäss Art. 16 Abs. 1
AHVG - oder aus tatsächlichen Gründen - so bei Zahlungsunfähigkeit des
Arbeitgebers - nicht mehr eingezogen werden können (BGE 112 V 156 E. 2, 103
V 120 E. 4; FRÉSARD, La responsabilité de l'employeur pour non-paiement de
cotisations d'assurances sociales selon l'art. 52 LAVS, in: Schweizerische
Versicherungszeitschrift 55/1987, S. 1). Er ist, gemäss Art. 52 AHVG,
vom Arbeitgeber zu ersetzen, wenn dieser ihn durch absichtliche oder
grobfahrlässige Missachtung von Vorschriften verschuldet hat.

    b) Gemäss Art. 82 AHVV verjährt - oder eher: verwirkt (BGE 118 V 193
E. 2b, mit Hinweisen) - die Schadenersatzforderung der Ausgleichskasse,
wenn sie nicht innert Jahresfrist seit Kenntnis des Schadens durch Erlass
einer Schadenersatzverfügung geltend gemacht wird, auf jeden Fall aber
mit Ablauf von fünf Jahren seit Eintritt des Schadens. Wird die Forderung
aus einer strafbaren Handlung hergeleitet, für die das Strafrecht eine
längere Verjährungsfrist vorschreibt, so gilt diese Frist.

    Kenntnis erhält die Ausgleichskasse vom Schaden in dem Zeitpunkt,
wo sie sich Rechenschaft gibt - oder bei gehöriger Sorgfalt hätte
Rechenschaft geben müssen -, dass die ihr geschuldeten Beiträge nicht
mehr eingezogen werden können. Im Falle des Konkurses ist das daher nicht
erst der Zeitpunkt, wo die Verteilungsliste erstellt und ein Verlustschein
ausgestellt wird; vielmehr erhält die Ausgleichskasse in der Regel schon
Kenntnis vom Schaden, wenn das Inventar und der Kollokationsplan aufliegen,
welche Auskunft über die Aktiven, den Rang der von der Ausgleichskasse
angemeldeten Forderung und die voraussichtliche Höhe der Dividende geben
(BGE 118 V 193 E. 3a, 116 II 158 E. 4a, mit weiteren Hinweisen).

Erwägung 4

    4.- Fragen kann man sich nun bloss, ob die Schadenersatzforderung
schon mit dem Schadenseintritt selbst oder im Zeitpunkt entsteht, wo die
Ausgleichskasse Kenntnis vom Schaden erhält oder wo die Ausgleichskasse
ihre Verfügung gemäss Art. 81 AHVV erlässt. Nicht zur Diskussion steht
jedoch der Zeitpunkt, wo die Rekursbehörde des Kantons, in welchem der
Arbeitgeber seinen Wohnsitz hat, ihr Urteil fällt.

    a) Entgegen der Auffassung der Rekurrentin (die in diesem Zusammenhang
von einer Gestaltungsverfügung der Ausgleichskasse spricht) kann
nicht davon ausgegangen werden, dass der von der Rekursbehörde zu
fällende Entscheid ein Gestaltungsurteil in dem Sinne wäre, dass die
Rechtsänderung durch das in Rechtskraft erwachsene Urteil herbeigeführt
wird. Vielmehr fällt die Rekursbehörde - nur im Falle des Einspruchs
gemäss Art. 81 Abs. 2 AHVV - einen Feststellungsentscheid, womit sie
sich über den Bestand, Nichtbestand oder den Umfang des im öffentlichen
Recht begründeten Schadenersatzanspruches ausspricht; er entfaltet
Rechtskraftwirkung, soweit eine solche der Verfügung zukommt (KÖLZ,
Kommentar zum Verwaltungsrechtspflegegesetz des Kantons Zürich, § 19
N. 36). Mit diesem Feststellungsentscheid befindet die Rekursbehörde nicht
über den Zeitpunkt, wo die Schadenersatzforderung der Ausgleichskasse
entstanden ist.

    b) Das Urteil der Rekursbehörde ist ein Rechtsmittelentscheid
ungeachtet des Umstandes, dass - nach erhobenem Einspruch des Arbeitgebers
- die Ausgleichskasse durch Einreichung der Klage die Initiative an
sich zieht. Vor der kantonalen Rekursbehörde werden Bestand und Höhe der
Forderung zwar vom Ersatzpflichtigen noch bestritten; entstanden aber ist
die Forderung, unter Vorbehalt der Verneinung ihres Bestandes durch die
kantonale Rekursbehörde, spätestens im Zeitpunkt, wo die Ausgleichskasse
ihre Schadenersatzverfügung erlassen hat.

    Gestützt wird die Auffassung, dass die Forderung spätestens mit der
Schadenersatzverfügung der Ausgleichskasse entstehe, gerade durch die von
der Rekurrentin angerufene Lehrmeinung. Nach HÄFELIN/HALLER (Grundriss
des Allgemeinen Verwaltungsrechts, 2. Auflage Zürich 1993, Rz. 618
ff.) entstehen Pflichten und Rechte im öffentlichen Recht unmittelbar
durch Rechtssatz, in vielen Fällen aber erst durch die Konkretisierung
des Rechtssatzes mittels einer Verfügung. Darunter kann nur die Anordnung
einer Verwaltungsbehörde im Sinne von Art. 5 VwVG gemeint sein (was sich
auch aus dem Hinweis auf Rz. 685 ff. des zitierten Werkes folgern lässt)
und niemals ein Rechtsmittelentscheid.

    c) Dem bleibt beizufügen, dass der Rekursgegner in diesem Zusammenhang
zu Recht argumentiert, die Klage gemäss Art. 81 Abs. 3 AHVV setze eine
bestehende Forderung voraus.