Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 121 III 345



121 III 345

69. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilabteilung vom 6. Oktober 1995
i.S. M. H. gegen E. S. und P. G. (Berufung) Regeste

    Art. 933 und 934 ZGB; anvertraute oder abhandengekommene Sache.

    Eine aufgrund einer Täuschung übertragene Sache gilt als anvertraute
Sache im Sinne von Art. 933 ZGB und nicht als wider Willen abhanden
gekommene Sache gemäss Art. 934 ZGB, wenn die Täuschung nur das
zugrundeliegende Rechtsverhältnis, nicht jedoch die Besitzübertragung
als solche betrifft.

Sachverhalt

    A.- Im Mai 1992 bot M. H. ihren VW Golf GTI in einem Zeitungsinserat
zum Verkauf an. Auf ihr Inserat hin meldete sich R. B., welcher der
Klägerin mitteilte, er habe einen Käufer für den Wagen. Am 12. Mai 1992
übergab M. H. den VW Golf GTI R. B. zum Weiterverkauf an einen Dritten. Es
wurde im wesentlichen vereinbart, dass R. B. den Wagen M. H. entweder
binnen 48 Stunden zurückbringe oder ihr den Verkaufserlös von Fr. 22'500.--
übergebe.

    Am 14. Mai 1992 verkaufte R. B. den Wagen zu einem Preis von
Fr. 19'000.-- an den Occasionshändler E. S. Der Erlös wurde M. H. nie
herausgegeben. Die in der Folge eingeschaltete Polizei beschlagnahmte
am 21. Mai 1992 das Fahrzeug auf dem Gelände von E. S. Bereits am
folgenden Tag wurde das Auto nach Rücksprache mit den zuständigen
Untersuchungsrichtern wieder zurückgegeben. Am 23. Mai 1992 verkaufte
E. S. den VW Golf GTI zum Preis von Fr. 20'500.-- an P. G.

    R. B. wurde mit rechtskräftigem Urteil des Tribunal Criminel de la
Gruyère vom 16. November 1993 wegen gewerbsmässigen Betruges etc. zu
einer Zuchthausstrafe von 3 Jahren verurteilt.

    B.- Mit Klage vom 23. Dezember 1992 vor dem Appellationshof des Kantons
Bern verlangte M. H. einerseits von P. G. die Herausgabe des VW Golf GTI
und anderseits von P. G. und E. S. unter Solidarhaft Schadenersatz in einer
vom Gericht zu bestimmenden Höhe. Im Verlauf des Verfahrens einigten sich
die Parteien in einem Prozessvergleich darauf, dass der Wert des VW Golf
GTI Fr. 19'000.-- betrage; P. G. verpflichtete sich, den Wagen M. H. zur
freien Verfügung zu übergeben, während sich diese bereit erklärte,
Fr. 19'000.-- auf ein Sparheft mit alleiniger Verfügungsberechtigung
des Instruktionsrichters einzuzahlen. Vor diesem Hintergrund änderte
M. H. ihr Rechtsbegehren und verlangte im wesentlichen, dass ihr die
alleinige Verfügung über das Sparheft mit dem Betrag von Fr. 19'000.--
zu verschaffen sei. Mit Urteil vom 30. März 1995 wies der Appellationshof
des Kantons Bern die Klage ab.

    C.- Mit undatierter Berufung, die am 6. Juni 1995 beim Appellationshof
des Kantons Bern eingegangen ist, beantragt M. H. dem Bundesgericht im
wesentlichen, dass ihr das Sparheft mit einem Betrag von Fr. 19'000.--
zur alleinigen Verfügung herauszugeben sei.

    E. S. und P. G. beantragen die Abweisung der Berufung, während
der Appellationshof des Kantons Bern auf Gegenbemerkungen zur Berufung
verzichtet hat.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- Der Appellationshof des Kantons Bern ist in seinem Urteil vom
30. März 1995 davon ausgegangen, dass die Klägerin R. B. den VW Golf GTI
im Hinblick auf einen Verkauf an einen Dritten anvertraut habe und dass
in der Folge der Beklagte 1 von R. B. und anschliessend auch der Beklagte
2 vom Beklagten 1 den Wagen gutgläubig erworben habe. Diese Auffassung
hält die Klägerin für bundesrechtswidrig.

    a) Zunächst macht die Klägerin geltend, dass sie den VW Golf
GTI R. B. nicht anvertraut habe. Vielmehr sei ihr das Auto durch
eine Täuschung wider ihren Willen abhandengekommen. Ob die unter dem
Einfluss einer Täuschung übergebene Sache als anvertraut im Sinn von
Art. 933 ZGB oder als abhandengekommen im Sinn von Art. 934 Abs. 1 ZGB
zu gelten hat, ist umstritten (vgl. BGE 121 IV 26 E. 2d; HINDERLING,
Der Besitz, Schweizerisches Privatrecht, Band V/1, Basel/Stuttgart
1977, S. 475 f. m.w.H.; STARK, Berner Kommentar, N. 29 f. zu Art. 933
ZGB m.w.H.). Dieses Problem stellt sich freilich dann nicht, wenn
die Täuschung nicht die Besitzübertragung als solche, sondern das
zugrundeliegende Rechtsverhältnis betrifft. Die Frage, ob eine Sache als
anvertraut oder abhandengekommen zu qualifizieren ist, ist unabhängig
vom zugrundeliegenden Rechtsgeschäft zu beantworten. Im Unterschied zum
Eigentumserwerb, der nach dem Kausalitätsprinzip ein gültiges Grundgeschäft
voraussetzt (BGE 55 II 302 E. 2), ist der Übergang des Besitzes ein
tatsächlicher Vorgang, der nach einhelliger Auffassung nicht von der
Gültigkeit des zugrundeliegenden Rechtsgeschäftes abhängt (HINDERLING,
aaO, S. 429 f.; LIVER, Das Eigentum, Schweizerisches Privatrecht,
Band V/1, Basel/Stuttgart 1977, S. 325 f.; STARK, Berner Kommentar,
N. 32 zu Art. 933 ZGB; HAAB/SIMONIUS/SCHERRER/ZOBL, Zürcher Kommentar,
N. 64 zu Art. 714 ZGB). Da die Unverbindlichkeit des Grundgeschäftes
keinen Einfluss auf die Besitzübertragung als Realakt hat, erweist sich
ein Willensmangel in bezug auf dieses Rechtsgeschäft auch als unerheblich
dafür, ob eine Sache mit dem Willen des Erstbesitzers dem neuen Besitzer
anvertraut wurde oder ihm ohne seinen Willen abhandengekommen ist.

    Im vorliegenden Fall kann in bezug auf die Besitzübertragung als
solche keine Rede sein von einer Täuschung der Klägerin durch R. B. Die
Vorinstanz hat verbindlich festgehalten (Art. 63 Abs. 2 OG), dass die
Klägerin R. B. den Besitz am VW Golf GTI im Hinblick auf einen Verkauf
an einen Dritten verschaffen wollte. Die Klägerin wurde nicht über die
Besitzübertragung als solche, sondern nur in bezug auf das zugrundeliegende
Rechtsgeschäft irregeführt, indem sie von R. B. darüber getäuscht
worden war, dass er zum vornherein nicht bereit war, den Verkaufserlös
zurückzuerstatten. Da die Klägerin den VW Golf GTI R. B. zum Weiterverkauf
übergeben wollte und somit nicht in bezug auf die Besitzübertragung als
solche, sondern nur hinsichtlich des zugrundeliegenden Rechtsgeschäftes
getäuscht worden war, hat die Vorinstanz den Wagen zutreffend als
anvertraute Sache im Sinn von Art. 933 ZGB qualifiziert.

    b) Weiter wirft die Klägerin der Vorinstanz vor, zu Unrecht die
Gutgläubigkeit der Beklagten beim Erwerb des VW Golf GTI bejaht zu haben.
Vielmehr sei sowohl der Beklagte 1 beim Erwerb des Wagens von R. B. als
auch der Beklagte 2 beim Kauf vom Beklagten 1 bösgläubig bzw. unvorsichtig
im Sinn von Art. 3 Abs. 2 ZGB gewesen. Wer von einem Occasionshändler
ein Fahrzeug erwerbe, ohne sich den Originalfahrzeugausweis übergeben zu
lassen, handle nicht gutgläubig. Die Gutgläubigkeit der Beklagten sei
auch zu verneinen, weil sie das Auto ohne Nummernschilder übernommen
hätten. Der Beklagte 2 sei schliesslich auch deshalb nicht gutgläubig
gewesen, weil er vor Ort gewesen sei, als die Polizei dem Beklagten 1
den beschlagnahmten Wagen zurückgebracht habe.

    Der Erwerber einer Sache gilt grundsätzlich als gutgläubig (Art. 3
Abs. 1 ZGB). Der Gutglaubensschutz versagt indessen, wenn die Unkenntnis
des gutgläubigen Erwerbers vom Rechtsmangel darauf zurückzuführen ist,
dass er beim Erwerb der Sache jene Aufmerksamkeit vermissen liess, die
von ihm nach den Umständen verlangt werden durfte (Art. 3 Abs. 2 ZGB). Die
Unaufmerksamkeit zieht somit die gleichen Rechtsfolgen nach sich wie die
Bösgläubigkeit (BGE 113 II 397 E. 2a).

    Im vorliegenden Fall kann den Beklagten weder Bösgläubigkeit noch
Unaufmerksamkeit vorgeworfen werden. An die Feststellung der Vorinstanz, es
entspreche einer branchenüblichen Usanz, dass Autos von Occasionshändlern
ohne die Übergabe des Originalfahrzeugausweises gehandelt werden, ist
das Bundesgericht gebunden (BGE 113 II 25 E. 1a). Vor diesem Hintergrund
musste der Beklagte 1 aufgrund der Tatsache, dass kein Fahrzeugausweis
im Original vorgelegt wurde, keinen Verdacht schöpfen, zumal er
bereits verschiedentlich ohne Probleme Autos von R. B. gekauft hatte
und der Kaufpreis im Rahmen des unter Occasionshändlern gebräuchlichen
Eurotax-Tarifes lag. Aus den gleichen Gründen ist auch die Gutgläubigkeit
des Beklagten 2 beim Kauf des Autos vom Beklagten 1 zu bejahen. Daran
ändert auch der Umstand nichts, dass er auf dem Verkaufsgelände des
Beklagten 1 war, als die Polizei das tags zuvor beschlagnahmte Auto
zurückbrachte. Im Gegenteil durfte der Beklagte 2 in der Meinung bestärkt
sein, dass die polizeiliche Beschlagnahmung zu Unrecht erfolgte bzw. deren
Grund nachträglich weggefallen war und der Beklagte 1 zur Veräusserung
berechtigt sei. Was die Klägerin im übrigen gegen die Gutgläubigkeit der
Beklagten vorbringt, erweist sich als unbehelflich. Soweit sie geltend
macht, dass die Gutgläubigkeit des Erwerbers von der (notariellen)
Beurkundung der Verfügungsberechtigung des Occasionshändlers abhänge,
verkennt sie, dass die rechtliche Frage der Verfügungsberechtigung
nicht notariell beurkundet werden kann. Die Klägerin geht auch fehl in
der Annahme, die Beklagten seien nicht gutgläubig gewesen, weil der Wagen
ohne Nummernschilder übergeben worden sei. Da die Autos im Occasionshandel
oft nicht eingelöst oder mit einer U-Nummer versehen sind, ist das Fehlen
eines Nummernschildes nicht geeignet, die Gutgläubigkeit der Beklagten
in die Verfügungsberechtigung ihrer Vertragspartner zu beseitigen.

    Aus diesen Gründen kann der Auffassung der Klägerin, die Beklagten
hätten unaufmerksam im Sinn von Art. 3 Abs. 2 ZGB oder gar bösgläubig
gehandelt, nicht gefolgt werden. Vielmehr ist der gute Glaube der Beklagten
im Sinn von Art. 933 ZGB zu bejahen.

    c) Der Appellationshof des Kantons Bern ist daher zutreffend davon
ausgegangen, dass es sich beim VW Golf GTI um eine anvertraute Sache
handelt und dass die Beklagten bei ihrem Erwerb gutgläubig waren. Die
Berufung ist daher abzuweisen.