Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 121 III 306



121 III 306

63. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilabteilung vom 19. September 1995
i.S. H. gegen Verwaltungsgericht des Kantons Luzern (Berufung) Regeste

    Art. 314a Abs. 1 und 397a Abs. 1 ZGB; Begriff der Anstalt.

    Der Begriff der Anstalt ist in einem sehr weiten Sinn zu
verstehen. Nicht nur geschlossene Anstalten zählen dazu, sondern alle
Institutionen, welche die Bewegungsfreiheit der betroffenen Personen
aufgrund der Betreuung und Überwachung spürbar einschränken. Ein
Kinderheim, in dem die untergebrachten Kinder einer stärkeren
Freiheitsbeschränkung unterworfen sind als ihre in einer Familie
aufwachsenden Altersgenossen, ist als Anstalt zu qualifizieren.

Sachverhalt

    A.- Mit Urteil des Bezirksgerichts Uster vom 4. Oktober 1985 wurde
die Ehe von H. und M. geschieden. Die Kinder aus der Ehe wurden unter die
elterliche Gewalt von H. gestellt. Mit Entscheid vom 14. März 1995 hob der
Gemeinderat Gisikon die elterliche Obhut von H. über die drei jüngeren
Kinder A., geboren am 12. Oktober 1979, J., geboren am 4. August 1982,
und B., geboren am 18. Februar 1984, auf und wies sie in die Jugendsiedlung
Utenberg in Luzern ein.

    B.- Gegen diesen Entscheid führte H. Beschwerde ans
Verwaltungsgericht des Kantons Luzern. Mit Urteil vom 3. August 1995
trat das Verwaltungsgericht des Kantons Luzern auf die Beschwerde
im wesentlichen mit der Begründung nicht ein, bei der Einweisung der
drei Kinder in die Jugendsiedlung Utenberg handle es sich nicht um eine
fürsorgerische Freiheitsentziehung, sondern eine Kindesschutzmassnahme,
die beim Regierungsstatthalter des Amtes Luzern angefochten werden könne.

    C.- Mit Berufung vom 23. August 1995 beantragt H. dem Bundesgericht,
das Urteil des Verwaltungsgerichts des Kantons Luzern vom 3. August 1995
aufzuheben und die Vorinstanz anzuweisen, auf ihre Beschwerde materiell
einzutreten. Eventualiter sei die vom Gemeinderat Gisikon angeordnete
fürsorgerische Freiheitsentziehung aufzuheben. Weiter ersucht H. um
die Gewährung der unentgeltlichen Prozessführung für das Verfahren vor
Bundesgericht.

    Das Verwaltungsgericht des Kantons Luzern hat auf Gegenbemerkungen
zur Berufung verzichtet.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- Die Klägerin ist der Auffassung, dass der Gemeinderat von
Gisikon durch die Plazierung der drei Kinder in der Jugendsiedlung
Utenberg eine Einweisung in eine Anstalt und damit eine fürsorgerische
Freiheitsentziehung im Sinne von Art. 314a Abs. 1 ZGB angeordnet habe. Da
gegen die Anordnung einer fürsorgerischen Freiheitsentziehung der Richter
angerufen werden könne, hätte das Verwaltungsgericht des Kantons Luzern
auf die gegen die Heimeinweisung gerichtete Beschwerde eintreten müssen.

    a) Gemäss Art. 314 ZGB richtet sich das Verfahren für die Anordnung
von Kindesschutzmassnahmen grundsätzlich nach kantonalem Recht. Für
den Sonderfall der fürsorgerischen Freiheitsentziehung bei Unmündigung
unter elterlicher Gewalt ist gemäss Art. 314a Abs. 1 in Verbindung mit
Art. 397d ZGB von Bundesrechts wegen vorgesehen, dass gegen die Anordnung
der Anstaltseinweisung der Richter angerufen werden kann. Entscheidend
dafür, welches Verfahren bei der Aufhebung der elterlichen Obhut und der
Unterbringung eines Kindes zur Anwendung gelangt, ist die Frage, ob das
Kind in einer Anstalt untergebracht wird. Was eine Anstalt im Sinne des
Gesetzes ist, ist eine Rechtsfrage, die dem Bundesgericht mit Berufung zu
Beurteilung vorgelegt werden kann (BGE 114 II 213 E. 7, 112 II 486 E. 4b).

    b) Der Begriff "Anstalt" im Sinne von Art. 314a Abs. 1 ZGB wird im
Gesetz nicht definiert. Die bundesrätliche Botschaft zur Gesetzesnovelle
der fürsorgerischen Freiheitsentziehung hält fest, dass der Begriff der
Anstalt in einem sehr weiten Sinn zu verstehen sei. Unter dem Begriff der
Anstalt sind nicht nur diejenigen Einrichtungen zu verstehen, die man im
täglichen Sprachgebrauch als Anstalten bezeichnet, sondern alle möglichen
"Versorgungseinrichtungen", in welchen Personen ohne oder gegen ihren
Willen persönliche Fürsorge unter Entzug ihrer Freiheit erbracht wird
(BBl 1977 III, S. 28). Dazu zählen nicht nur geschlossene Anstalten,
sondern alle Institutionen, welche die Bewegungsfreiheit der betroffenen
Personen aufgrund der Betreuung und Überwachung spürbar einschränken
(LUSTENBERGER, Die fürsorgerische Freiheitsentziehung bei Unmündigen
unter elterlicher Gewalt, Diss. Freiburg 1987, S. 80 ff.; BREITENSTEIN,
Was ist "Anstalt" im Sinne von Art. 397a ZGB?, ZVW 36 [1981], S. 101
ff.; FONTANET, Etablissements appropriés: volonté du législateur et
réalités concrètes, ZVW 41 [1986], S. 1 f.; SPÜHLER, Die Voraussetzungen
der fürsorgerischen Freiheitsentziehung bei Drogensüchtigen, ZBl 84
[1983], S. 55; SUHR BRUNNER, Fürsorgerische Freiheitsentziehung und
Suchterkrankungen, insbesondere Drogensucht, Diss. Zürich 1994, S. 115
f.). In der kantonalen Rechtsprechung wurde ein Schulheim, in dem die
untergebrachten Kinder nicht nur in der Schule, sondern auch in ihrer
Freizeit- und Lebensgestaltung überwacht und angeleitet werden, als Anstalt
qualifiziert, da ihre Freiheit mehr beschränkt werde als diejenige ihrer
Altersgenossen (ZVW 37 [1982], S. 111). Desgleichen wurde ein Heim mit
interner Schule und überwachter Freizeitgestaltung trotz seinem familiär
geprägten Erziehungskonzept als Anstalt bezeichnet (SJZ 84 [1988], S. 65).
Umgekehrt wurde ein Kinderheim, in dem die untergebrachten Kinder keiner
wesentlich stärkeren Freiheitsbeschränkung unterworfen sind als in einer
Pflegefamilie, nicht als Anstalt qualifiziert (SJZ 91 [1995], S. 157 ff.).

    Die Jugendsiedlung Utenberg bezeichnet sich als sozial-pädagogisches
Wohnheim für die Erziehung, Nacherziehung und Resozialisierung von
Kindern und Jugendlichen beiderlei Geschlechts, die aus verschiedenen
Gründen nicht bei ihren Angehörigen aufwachsen können. Die Kinder und
Jugendlichen besuchen externe Schulen und haben die Möglichkeit, Lehren
oder Anlehren in externen Betrieben zu absolvieren. Nebst dem heiminternen
Freizeitangebot wird der Aufbau von Beziehungen zu Menschen ausserhalb
der Siedlung, wie z.B. in Jugendorganisationen, unterstützt. Auch wenn es
sich bei der Jugendsiedlung Utenberg nicht um eine geschlossene Anstalt
handelt, wird die Freiheit der untergebrachten Kinder und Jugendlichen
stärker beschränkt als dies bei Altersgenossen, die in einer Familie oder
einer Pflegefamilie aufwachsen, üblicherweise der Fall ist. Während die
Unterbringung in einem Heim die Einordnung in die gegebenen Heimstrukturen
erfordert, belassen familiäre Strukturen den Kindern und Jugendlichen
regelmässig einen grösseren Freiraum für ihre persönliche Entfaltung und
Freizeitgestaltung. Weiter ist zu berücksichtigen, dass sich die in der
Jugendsiedlung untergebrachten Kinder und Jugendlichen an jedem vierten
Wochenende an organisierten Gruppenaktivitäten zu beteiligen haben. Auch
bei der Pflege von Kontakten zu Personen ausserhalb der Siedlung sind
die Kinder und Jugendlichen gegenüber ihren Altersgenossen stärker in
ihrer Freiheit eingeschränkt, weil die Einhaltung der Heimordnung diesen
Kontakten engere Grenzen setzen als dies beim Aufwachsen in einer Familie
der Fall wäre. Abgesehen davon deutet der Hinweis auf Art. 397e Ziff. 4 ZGB
und die Rechtsmittelbelehrung im Einweisungsentscheid des Gemeinderates
Gisikon darauf hin, dass die Kinder im Rahmen einer fürsorgerischen
Freiheitsentziehung in einer Anstalt untergebracht worden sind. Unter
Berücksichtigung des sehr weiten Begriffs der Anstalt im Sinne von
Art. 314a Abs. 1 ZGB ist die Jugendsiedlung Utenberg deshalb als Anstalt
zu qualifizieren.

    c) Die vom Gemeinderat Gisikon angeordnete Einweisung der Kinder der
Klägerin in die Jugendsiedlung Utenberg stellt somit eine fürsorgerische
Freiheitsentziehung im Sinne von Art. 314a ZGB dar, die gemäss Art. 397d
Abs. 1 ZGB beim Richter angefochten werden kann. Das Verwaltungsgericht
des Kantons Luzern hätte daher auf die Beschwerde eintreten müssen. Das
Urteil des Verwaltungsgerichts des Kantons Luzern ist deshalb aufzuheben,
und das Verfahren ist zur materiellen Behandlung ans Verwaltungsgericht
des Kantons Luzern zurückzuweisen.