Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 121 III 252



121 III 252

50. Urteil des Kassationshofes vom 14. Juli 1995 i.S. R., T., D. und
G. gegen M. (Nichtigkeitsbeschwerde) Regeste

    Art. 47 OR; Bemessung der Genugtuung.

    Bei der Bemessung der Genugtuung sind die Lebenshaltungskosten am
Wohnsitz des Berechtigten nicht zu berücksichtigen (E. 2b).

Sachverhalt

    A.- Am 6. Dezember 1994 verurteilte das Obergericht des Kantons
Zürich M. wegen vorsätzlicher Tötung und weiterer Straftaten zu 6
1/2 Jahren Zuchthaus und verwies ihn für 15 Jahre des Landes. Zudem
verpflichtete es ihn zur Bezahlung folgender Genugtuungssummen an die
Angehörigen des von ihm getöteten B.:

    - Für R.(Witwe)                                     Fr. 20'000.--

    - für die 3 Kinder T. (geb. Dezember 1987),
      D. (geb. März 1989) und G. (geb. Juni 1993) je Fr. 15'000.--
      Fr. 45'000.--
                                                        -------------

    total somit                                         Fr. 65'000.--

    nebst 5% Zins seit dem 10. Januar 1993.

    B.- Die Geschädigten erheben eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde mit
dem Antrag, das Urteil des Obergerichts in bezug auf die Genugtuungssummen
aufzuheben; M. sei zu verpflichten, folgende Genugtuungssummen zu bezahlen:

    - Für R.                                            Fr.  40'000.--

    - für die 3 Kinder T., D. und G. je Fr. 30'000.--   Fr.  90'000.--
                                                        --------------

    total somit                                         Fr. 130'000.--

    nebst 5% Zins seit dem 10. Januar 1993.

    C.- Das Obergericht hat auf Gegenbemerkungen, M. auf eine
Vernehmlassung verzichtet.

Auszug aus den Erwägungen:

                          Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- a) Der Verurteilung des Beschwerdegegners liegt folgender
Sachverhalt zugrunde:

    Am 10. Januar 1993, um ca. 00.30 Uhr, betrat der Beschwerdegegner seine
Wohnung in X. und stellte fest, dass seine Kinder noch im Wohnzimmer
spielten. In der Folge wollte er seinen Sohn und seine Tochter im
Kinderzimmer zu Bett bringen. Die Türe des Kinderzimmers war jedoch
verschlossen. Er begab sich deshalb mit den Kindern ins Elternschlafzimmer
und rief nach seiner Ehefrau. Da sich niemand meldete, drückte er mit
Gewalt die Türe zum Kinderzimmer auf. Darauf sah er seine Ehefrau
nackt hinter der Türe stehen und einen nackten unbekannten Mann (B.),
der soeben im Begriffe war, durch das geöffnete Fenster des Kinderzimmers
ins Freie zu springen. Der Beschwerdegegner begab sich unverzüglich ins
Elternschlafzimmer, behändigte einen Revolver und nahm die Verfolgung des
nackten B. auf. Er entdeckte ihn, nachdem er ihn zwischendurch aus den
Augen verloren hatte, in einem Hinterhof. B. stand dem Beschwerdegegner
gegenüber und blickte ihn an. Der Beschwerdegegner hob den Revolver,
richtete ihn gegen B. und gab aus einer Distanz von ca. 5-7 m
mindestens einen Schuss gegen ihn ab. Eine Kugel traf B. unterhalb
der 7. Rippe. B. brach zusammen, worauf sich der Beschwerdegegner
zu ihm begab und aus einer Distanz von ca. 1 m noch mindestens zwei
Schüsse gegen den Kopf und den Oberkörper des am Boden Liegenden bzw.
Kauernden abfeuerte. Dies führte zum Tod von B.

    b) Die Vorinstanz qualifizierte die Tat mit einlässlicher Begründung
als vorsätzliche Tötung. Bei der Strafzumessung berücksichtigte sie eine
Persönlichkeitsstörung und eine Zuckerkrankheit des Beschwerdegegners,
welche die emotionale Instabilität akzentuiere. Er sei zur Zeit der Tat
leicht alkoholisiert gewesen und habe sich in einem akuten Erregungszustand
befunden. Seine heftigen Affekte hätten sein Bewusstsein stark eingeengt,
weshalb er nur noch begrenzt imstande gewesen sei, die Situation
wirklichkeitsgerecht einzuschätzen bzw. entsprechend zu handeln. Die Tat
liege näher beim Tatbestand des Totschlages als bei jenem des Mordes. Das
Verschulden wiege jedoch schwer. Die Vorinstanz folgt dem psychiatrischen
Gutachten, wonach die Zurechnungsfähigkeit schwer vermindert war.

    Zu den von den Beschwerdeführern bereits im kantonalen
Verfahren in gleicher Höhe wie in der Nichtigkeitsbeschwerde geltend
gemachten Genugtuungsansprüchen bemerkt die Vorinstanz, diese Summen
wären angemessen, wenn die Beschwerdeführer in der Schweiz wohnen
würden. Nachdem sie jedoch in Kosovo lebten, müsse den dort wesentlich
tieferen Lebenshaltungskosten Rechnung getragen werden. Aus diesem Grunde
sprach die Vorinstanz nur die Hälfte der eingeklagten Genugtuungssummen zu.

    c) Die Beschwerdeführer machen geltend, es verletze Bundesrecht,
die Lebenshaltungskosten bei der Bemessung der Genugtuung zu
berücksichtigen. Die Auffassung der Vorinstanz könne sich weder auf
Lehrmeinungen noch auf Präjudizien stützen. Eventualiter machen die
Beschwerdeführer geltend, dass die Vorinstanz dann, wenn das von
ihr angewandte Rechtsprinzip bundesrechtmässig wäre, konkret Beweis
über die Lebenshaltungskosten in Kosovo hätte erheben müssen. Die
Lebenshaltungskosten seien in Kosovo seit dem Zerfall des alten Jugoslawien
unter dem Einfluss der Kriegswirtschaft dramatisch angestiegen. Auch
deshalb verletze die Vorinstanz Bundesrecht, wenn sie nur die Hälfte der
an sich angemessenen Summen zuspreche.

Erwägung 2

    2.- Der Richter kann unter Würdigung der besonderen Umstände den
Angehörigen eines Getöteten eine angemessene Geldsumme als Genugtuung
zusprechen (Art. 47 OR).

    a) Die Frage, ob die Lebenshaltungskosten am Wohnort des
Genugtuungsberechtigten für die Bemessung der Genugtuung eine Rolle spielen
können, ist bisher in der Rechtsprechung und im Schrifttum nur am Rande
angesprochen worden. Hütte (Die Genugtuung, 2. Aufl., Stand Juli 1994,
I/24) bemerkt, die Lebenshaltungskosten im Heimatland seien kein Grund,
die Genugtuungsansätze anders zu bemessen als in der Schweiz, das heisst
sie zu reduzieren oder zu erhöhen. Er bezieht sich dabei auf ein nicht
veröffentlichtes Urteil des Zürcher Obergerichtes vom 19. Dezember 1985
und legt dar, anders habe noch das Bundesgericht in BGE 97 II 123 E. 10
(S. 135 am Schluss) entschieden. Zutreffend ist, dass das Bundesgericht
in jener Erwägung zur Höhe einer Genugtuungsforderung bemerkt, der
Kaufkraftschwund des Geldes in der Schweiz sei im konkreten Fall ohne
Auswirkungen im Hinblick darauf, dass die Ansprecher in Italien lebten und
die ihnen zugesprochenen Beträge voraussichtlich in ihrem Lande ausgeben
würden. Die Entscheidung ist also entgegen Hütte für die hier erörterte
Frage nicht einschlägig.

    In der übrigen Literatur wird das Problem nicht angesprochen
(vgl. ANTON K. SCHNYDER, Kommentar zum schweizerischen Privatrecht,
Obligationenrecht I, Basel 1992, Art. 47 N. 11; BREHM, Berner Kommentar,
Das Obligationenrecht, 1990, Art. 47 N. 62 ff.; OFTINGER/STARK,
Schweizerisches Haftpflichtrecht, Allgemeiner Teil, Band I, 5. Aufl.,
Zürich 1995, S. 429 ff.). Daraus ist zu schliessen, dass der Gesichtspunkt
der Lebenshaltungskosten am ausländischen Wohnsitz des Berechtigten bisher
für die Bemessung der Genugtuung keine Rolle gespielt hat.

    b) Bei der Bemessung der Genugtuung sind die Lebenshaltungskosten des
Berechtigten an seinem ausländischen Wohnsitz nicht zu berücksichtigen. Die
Genugtuung stellt im Unterschied zur Schadenersatzleistung nicht
einen Ausgleich für eine Vermögensminderung dar. Sie soll vielmehr
den Schmerz durch eine Geldsumme aufwiegen. Diese Geldsumme ist
nach dem am Gerichtsstand geltenden Recht zu bemessen ohne Rücksicht
darauf, wo der Kläger leben und was er mit dem Geld machen wird. Die
gegenteilige Auffassung hätte zur Folge, dass nicht nur bei ausländischem
Wohnsitz die Frage einer Reduktion geprüft werden müsste, sondern
gegebenenfalls auch bei schweizerischem Wohnsitz an einem Ort mit
geringen Lebenshaltungskosten. Es wäre schwer nachvollziehbar, wenn
bei der Bemessung der Genugtuung danach unterschieden werden müsste,
ob der Ansprecher in einer Grossstadt oder in einer ländlichen Gegend
mit niedrigen Lebenshaltungskosten wohnt. Die Auffassung der Vorinstanz
würde auch dazu führen, dass der Ansprecher mit ausländischem Wohnsitz
gegebenenfalls mehr verlangen könnte, wenn er in einer ausländischen
Metropole mit höheren Lebenshaltungskosten als in der Schweiz wohnt. Würde
man der Ansicht der Vorinstanz folgen, würde im übrigen in Fällen wie hier
die Freiheit des Genugtuungsberechtigten, sich anderswo niederzulassen,
faktisch beeinträchtigt. So könnten die Beschwerdeführer in der Schweiz
nur wieder leben, wenn sie bereit wären, sich mit der Hälfte der Genugtuung
abzufinden.

    Die Beschwerde ist deshalb gutzuheissen.

Erwägung 3

    3.- a) Heisst der Kassationshof die Nichtigkeitsbeschwerde im
Zivilpunkt gut, so entscheidet er in der Sache selbst oder weist sie zu
neuer Entscheidung an die kantonale Behörde zurück (Art. 277quater Abs. 1
BStP; vgl. dazu CORBOZ, Le pourvoi en nullité interjeté par le lésé,
SJ 1995, S. 161 f. lit. b).

    Die von den Beschwerdeführern geltend gemachten Genugtuungssummen
sind angesichts der oben (E. 1a) dargelegten Tatumstände angemessen. Der
Beschwerdegegner hat weder vor Vorinstanz noch vor Bundesgericht
Gesichtspunkte genannt, die zu einer Reduktion führen müssten. Da die
Sache somit spruchreif ist, entscheidet das Bundesgericht selbst. Die
geltend gemachten Beträge sind zuzusprechen.

    b) (Kosten- und Entschädigungsfolgen)