Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 120 V 521



120 V 521

72. Urteil vom 19. November 1994 i.S. X AG, Strassenbau- und
Tiefbau-Unternehmung gegen Kantonales Amt für Industrie, Gewerbe und Arbeit
(KIGA) und Verwaltungsgericht des Kantons Bern Regeste

    Art. 31 Abs. 1 und Art. 31 Abs. 3 lit. c AVIG: Anspruch von
Vizedirektoren eines Grossbetriebes auf Kurzarbeitsentschädigung. Bei
der Beurteilung der Frage, ob ein Angestellter Mitglied eines
obersten betrieblichen Entscheidungsgremiums und damit vom Anspruch
auf Kurzarbeitsentschädigung ausgeschlossen ist, muss geprüft werden,
welche Entscheidungsbefugnisse ihm aufgrund der internen betrieblichen
Struktur zukommen. Es ist unzulässig, Angestellte in leitenden Funktionen
allein deswegen generell vom Anspruch auf Kurzarbeitsentschädigung
auszuschliessen, weil sie für einen Betrieb zeichnungsberechtigt und im
Handelsregister eingetragen sind.

Sachverhalt

    A.- Am 17. Februar 1993 meldete die X Strassenbau- und
Tiefbau-Unternehmung AG beim Kantonalen Amt für Industrie, Gewerbe und
Arbeit, Bern (KIGA), für 27 Angestellte der Betriebsabteilung Technik
+ Baubetrieb Kurzarbeit im Ausmass von 40% für die Zeit vom 1. März
bis voraussichtlich 31. Mai 1993 an. Am 18. März 1993 meldete die
Unternehmung sodann für 47 Angestellte der Betriebsabteilung Finanzen +
Informatik/Dienste Kurzarbeit im Umfang von 30% für den Zeitraum April
bis Juni 1993 an. Das KIGA anerkannte den grundsätzlichen Anspruch
auf Kurzarbeitsentschädigung für die Zeit vom 1. März bis 30. Juni
1993 (Abt. Technik + Baubetrieb) bzw. vom 1. April bis 30. Juni 1993
(Abt. Finanzen + Informatik/Dienste), erhob jedoch gegen deren Auszahlung
in beiden Fällen insoweit Einspruch, als die X AG für die Vizedirektoren
der beiden Abteilungen Anspruch auf Entschädigung geltend gemacht hatte
(Verfügungen vom 8. Juni 1993). Zur Begründung führte es an, bei den
betroffenen Vizedirektoren handle es sich um Mitarbeiter, welche dem
vom Entschädigungsanspruch ausgeschlossenen Personenkreis gemäss Art. 31
Abs. 3 lit. c AVIG angehörten.

    B.- Die hiegegen eingereichte Beschwerde, mit welcher die X AG
beantragen liess, den gemeldeten Vizedirektoren der Betriebsabteilungen
Finanzen + Informatik/Dienste sowie Technik + Baubetrieb sei für
die beantragte Dauer Kurzarbeitsentschädigung zuzusprechen, wies das
Verwaltungsgericht des Kantons Bern mit Entscheid vom 28. Januar 1994 ab.

    C.- Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde lässt die X AG das vorinstanzlich
gestellte Rechtsbegehren erneuern.

    Während das KIGA auf eine Vernehmlassung verzichtet, schliesst das
Bundesamt für Industrie, Gewerbe und Arbeit (BIGA) auf Gutheissung der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde.

Auszug aus den Erwägungen:

       Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Laut Art. 31 Abs. 1 AVIG haben Arbeitnehmer, deren
normale Arbeitszeit verkürzt oder deren Arbeit ganz eingestellt
ist, Anspruch auf Kurzarbeitsentschädigung, wenn sie bestimmte, in
lit. a-d näher umschriebene Voraussetzungen erfüllen. Keinen Anspruch
auf Kurzarbeitsentschädigung haben gemäss Art. 31 Abs. 3 lit. c AVIG
u.a. Personen, die in ihrer Eigenschaft als Gesellschafter, als finanziell
am Betrieb Beteiligte oder als Mitglieder eines obersten betrieblichen
Entscheidungsgremiums die Entscheidungen des Arbeitgebers bestimmen oder
massgeblich beeinflussen können, sowie ihre mitarbeitenden Ehegatten. Nach
der Rechtsprechung (BGE 113 V 74) ist der Ausschluss der in Art. 31
Abs. 3 lit. c AVIG genannten Personen vom Entschädigungsanspruch absolut
zu verstehen. Nach GERHARDS (Kommentar zum AVIG, Bd. I N. 43 zu Art. 31)
steht hinter dieser Regelung der Gedanke der Verhütung von Missbräuchen
(Selbstausstellung von für die Kurzarbeitsentschädigung notwendigen
Bescheinigungen usw., Gefälligkeitsbescheinigungen, Unkontrollierbarkeit
des tatsächlichen Arbeitsausfalls, Mitbestimmung oder Mitverantwortung
bei der Einführung von Kurzarbeit u.ä., vor allem bei Arbeitnehmern mit
Gesellschafts- oder sonstiger Kapitalbeteiligung in Leitungsfunktion
des Betriebes).

Erwägung 2

    2.- Im vorliegenden Fall ist streitig, ob die Vizedirektoren der
Betriebsabteilungen Finanzen + Informatik/Dienste sowie Technik +
Baubetrieb der Beschwerdeführerin als Mitglieder eines obersten
betrieblichen Entscheidungsgremiums zu gelten haben, welche die
Entscheidungen des Arbeitgebers bestimmen oder massgeblich beeinflussen
können mit der Folge, dass sie aufgrund von Art. 31 Abs. 3 lit. c AVIG
vom Anspruch auf Kurzarbeitsentschädigung ausgeschlossen sind.

    a) Die Vorinstanz ging davon aus, dass die Vizedirektoren, für
welche die Beschwerdeführerin Kurzarbeitsentschädigung beansprucht,
kollektiv zu zweien für das Unternehmen zeichnungsberechtigt und im
Handelsregister eingetragen sind. Die rechtliche Möglichkeit eines
kollektiv zeichnungsberechtigten Vizedirektors zur Verpflichtung seiner
Arbeitgeberfirma genüge, um einen massgeblichen Einfluss auf die
Willensbildung eines obersten betrieblichen Leitungsorgans im Sinne
von Art. 31 Abs. 3 lit. c AVIG anzunehmen. Vom Leistungsanspruch
ausgeschlossen seien nicht nur Mitglieder des einzigen obersten
Leitungsgremiums; vielmehr umfasse der Ausschluss alle obersten
betrieblichen Entscheidungsgremien. Bei einer mehrstufigen Organisation
seien dies mehrere Ebenen. Es sei nicht einzusehen, weshalb entgegen dem
gegen aussen klar bekundeten Willen einer Arbeitgeberfirma, bestimmten
Angestellten weitgehende geschäftsleitende Befugnisse einzuräumen,
auf abweichende, schwer zugängliche interne Beschränkungen solcher
Befugnisse abzustellen sei. Entscheidend sei unter alv-rechtlichen
Gesichtspunkten nicht, ob jemand tatsächlich Einfluss nehme, sondern
ob er über die rechtliche - nach aussen bekundete und erkennbare -
Möglichkeit verfüge, auf die Entscheidungen des Arbeitgebers Einfluss zu
nehmen. Bei der Beschwerdeführerin seien sämtliche leitenden Mitarbeiter
(Verwaltungsratsmitglieder, Direktoren, Vizedirektoren, Prokuristen)
kollektiv zeichnungsberechtigt und damit in der Lage - je zu zweien
- der Arbeitgeberfirma zustehende Entscheide zu treffen und diese
rechtlich verbindlich zu verpflichten. Darin sei eine den Anspruch auf
Kurzarbeitsentschädigung ausschliessende Möglichkeit der Einflussnahme
zu erblicken. Das Bestehen einer internen Hierarchie habe im Rahmen der
rechtlichen Einflussnahmemöglichkeiten keine Bedeutung.

    b) Die Beschwerdeführerin wendet im wesentlichen ein, bei den
betroffenen Vizedirektoren handle es sich nicht um Mitglieder eines
obersten Entscheidungsgremiums, sondern um Mitarbeiter mit beschränkter
Entscheidungsbefugnis (Abteilungsleiter, Ressortchefs), welche auf
die Unternehmenspolitik keinen massgeblichen Einfluss nehmen könnten
und deshalb nach dem Wortlaut des Gesetzes nicht vom Anspruch auf
Kurzarbeitsentschädigung ausgeschlossen seien. Entscheidend sei nicht,
welche Befugnisse sich eine Person aufgrund ihrer Zeichnungsberechtigung
im Falle eines Missbrauchs ihrer effektiven Kompetenzen anmassen
könnte, sondern welche Befugnisse ihr aufgrund ihrer Stellung im Betrieb
tatsächlich zustehen. Den fraglichen Vizedirektoren komme trotz kollektiver
Zeichnungsberechtigung keine Organstellung zu und sie hätten auch keine
Möglichkeit, die Entscheidungen der Arbeitgeberfirma massgeblich zu
beeinflussen oder gar zu bestimmen.

    c) Das BIGA, welches den Antrag der Beschwerdeführerin unterstützt,
vertritt die Auffassung, der Begriff "oberstes betriebliches
Entscheidungsgremium" sei allein mit Blick auf die materielle
Entscheidungs- und Gestaltungsmacht der in Frage stehenden Personen in
bezug auf die Anordnung von Kurzarbeit zu interpretieren.

Erwägung 3

    3.- a) Das Gesetz ist in erster Linie nach seinem Wortlaut
auszulegen. Ist der Text nicht ganz klar und sind verschiedene Auslegungen
möglich, so muss nach seiner wahren Tragweite gesucht werden unter
Berücksichtigung aller Auslegungselemente, namentlich des Zwecks, des
Sinnes und der dem Text zugrunde liegenden Wertung. Wichtig ist ebenfalls
der Sinn, der einer Norm im Kontext zukommt. Vom klaren, d.h. eindeutigen
und unmissverständlichen Wortlaut darf nur ausnahmsweise abgewichen
werden, u.a. dann nämlich, wenn triftige Gründe dafür vorliegen, dass der
Wortlaut nicht den wahren Sinn der Bestimmung wiedergibt. Solche Gründe
können sich aus der Entstehungsgeschichte der Bestimmung, aus ihrem Grund
und Zweck oder aus dem Zusammenhang mit andern Vorschriften ergeben (BGE
119 Ia 248 Erw. 7a, 119 II 151 Erw. 3b, 355 Erw. 5, 119 V 126 Erw. 4,
204 Erw. 5c, 118 Ib 191 Erw. 5a, 452 Erw. 3c, 555 Erw. 4d, 118 II 342
Erw. 3e, je mit Hinweisen; IMBODEN/RHINOW/KRÄHENMANN, Schweizerische
Verwaltungsrechtsprechung, Nr. 21 B IV).

    b) Der Wortlaut von Art. 31 Abs. 3 lit. c AVIG ist hinsichtlich der
vorliegend interessierenden Frage insoweit klar, als nur Personen vom
Entschädigungsanspruch bei Kurzarbeit ausgeschlossen werden, welche
die Entscheidungen der Arbeitgeberfirma bestimmen oder zumindest
massgeblich beeinflussen können. Soweit leitende Angestellte vom
Ausschluss erfasst sind, muss es sich um Mitglieder eines obersten
betrieblichen Entscheidungsgremiums handeln. Daraus folgt, dass
bei grösseren Betrieben mit mehrstufiger Organisation und mehreren
Führungsebenen nicht sämtliche Angestellten mit leitenden Funktionen
vom Entschädigungsanspruch ausgenommen sind. Art. 31 Abs. 3 lit. c
AVIG erfasst vielmehr nur Personen, welchen bei der Willensbildung des
Betriebes entscheidende oder zumindest massgebliche Bedeutung zukommt,
was auf Mitglieder des höchsten Entscheidungsgremiums, nicht aber auf
Angestellte in untergeordneten Kaderfunktionen zutrifft.

    Zum gleichen Ergebnis führt auch eine Auslegung, welche sich an Sinn
und Zweck von Art. 31 Abs. 3 lit. c AVIG orientiert. Mit dieser Bestimmung
sollte bei der Kurzarbeitsentschädigung (und in Verbindung mit Art. 42
Abs. 3 AVIG bei der Schlechtwetterentschädigung) dem Missbrauch bewusst
ein Riegel geschoben werden (BGE 113 V 77 Erw. 3c; GERHARDS, aaO, N. 43
zu Art. 31 AVIG). Eine Missbrauchsgefahr besteht indessen hauptsächlich
bei Personen, die als oberste Entscheidungsträger eines Betriebes befugt
sind, Kurzarbeit anzuordnen, nicht aber bei den übrigen Kadermitarbeitern
wie Vizedirektoren, Prokuristen usw., die regelmässig nicht zuständig
sind, über die Einführung von Kurzarbeit zu entscheiden. Insoweit ist
der Argumentation des BIGA beizupflichten. Entgegen der Auffassung der
Vorinstanz ist es daher nicht zulässig, Angestellte in leitenden Funktionen
allein deswegen generell vom Anspruch auf Kurzarbeitsentschädigung
auszuschliessen, weil sie für einen Betrieb zeichnungsberechtigt
und im Handelsregister eingetragen sind. Vielmehr ist in jedem Fall
zu prüfen, welche Entscheidungsbefugnisse einer Person aufgrund der
internen betrieblichen Struktur zukommen. Diese Auffassung steht auch in
Einklang mit der bisherigen Rechtsprechung. In BGE 113 V 78 Erw. 4 hat das
Eidg. Versicherungsgericht für den Ausschluss vom Entschädigungsanspruch
nebst den in jenem Fall im Vordergrund stehenden Beteiligungsverhältnissen
insbesondere auch die gesellschaftsinterne Stellung der betroffenen
Personen und die besondere Struktur der Gesellschaft als massgebend
erachtet. Aus dem im angefochtenen Entscheid erwähnten unveröffentlichten
Urteil B. vom 9. Juni 1993 kann für die vorliegende Streitsache schon
deshalb nichts abgeleitet werden, weil es in jenem Fall um den Anspruch
eines einzelzeichnungsberechtigten Angestellten eines als Einzelfirma
geführten Kleinbetriebes auf Kurzarbeitsentschädigung ging.

    Schliesslich darf in einem weiteren Zusammenhang auch nicht
unberücksichtigt bleiben, dass die Ausrichtung von Kurzarbeitsentschädigung
insbesondere die Ganzarbeitslosigkeit, d.h. Kündigungen und Entlassungen,
verhindern und gleichzeitig die Arbeitsplätze im Interesse von
Arbeitgeber wie auch Arbeitnehmer erhalten will (unveröffentlichtes
Urteil Gemeinde H. vom 26. Mai 1994; GERHARDS, aaO, N. 48 ff.,
Vorbem. zu Art. 31-41 AVIG; BRÜGGER, Die Kurzarbeitsentschädigung als
arbeitslosenversicherungsrechtliche Präventivmassnahme, Diss. 1993,
S. 54 ff.). Diese Zielsetzung des AVIG würde in Frage gestellt, wenn
Mitarbeiter ungeachtet ihrer tatsächlichen Entscheidungsbefugnisse allein
aufgrund von Zeichnungsberechtigung und Handelsregistereintragung vom
Anspruch auf Kurzarbeitsentschädigung ausgenommen wären. Denn diesfalls
wäre in vergleichbaren Fällen vermehrt mit Entlassungen zu rechnen,
wie die Beschwerdeführerin zutreffend festhält.

Erwägung 4

    4.- Wie aus den eingereichten Unterlagen ersichtlich ist, gehören
die von Kurzarbeit betroffenen Vizedirektoren nicht dem obersten
betrieblichen Entscheidungsgremium der Beschwerdeführerin an. Vielmehr
handelt es sich um Fachspezialisten, Stabsmitarbeiter oder Ressortchefs
mit beschränkten Entscheidungsbefugnissen. Aufgrund der hierarchischen
Gliederung der X AG kann als erstellt gelten, dass sie die Entscheidungen
der Arbeitgeberfirma weder bestimmen noch massgeblich beeinflussen
können. Sie sind damit nicht zu dem durch Art. 31 Abs. 3 lit. c AVIG vom
Entschädigungsanspruch ausgeschlossenen Personenkreis zu zählen; da auch
die übrigen Anspruchsvoraussetzungen erfüllt sind, steht der Zusprechung
von Kurzarbeitsentschädigung für die beantragte Dauer nichts entgegen.