Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 120 V 442



120 V 442

62. Auszug aus dem Urteil vom 8. Juli 1994 i.S. W. gegen Ausgleichskasse
des Kantons Bern und Verwaltungsgericht des Kantons Bern Regeste

    Art. 3 Abs. 1 lit. f ELG: Anrechnung von Alimenten, auf die
aussergerichtlich verzichtet wurde. Der Unterhaltsberechtigte kann von
der Verpflichtung, sich gegebenenfalls auf den Prozess betr. die Aufhebung
oder Herabsetzung von Unterhaltsbeiträgen vor dem zuständigen Zivilrichter
einzulassen, nicht entbunden werden.

Sachverhalt

    A.- Die Ehe der 1937 geborenen W. wurde am 16. Dezember 1986
geschieden. In der Ehescheidungskonvention verpflichtete sich der Ehemann
zur Bezahlung eines monatlichen Unterhaltsbeitrages. Am 18. Januar 1993
liess er gerichtlich dessen Aufhebung, evtl. Herabsetzung, beantragen. Mit
aussergerichtlicher Vereinbarung vom 10./14. März 1993 verzichtete W. ab
Juli 1993 vollständig und endgültig auf die Alimente, da sie seit mehr
als 5 Jahren mit ihrem neuen Partner in einem gefestigten Konkubinat im
Sinne der bundesgerichtlichen Rechtsprechung zusammenlebe.

    W. bezieht seit dem 1. Dezember 1991 eine ganze Invalidenrente. Unter
Hinweis auf die ab Juli 1993 entfallenden Alimentenzahlungen ersuchte
sie um eine Ergänzungsleistung, was die Ausgleichskasse des Kantons Bern
mit Verfügung vom 16. September 1993 u.a. deswegen ablehnte, weil die
Einkommensgrenze infolge Anrechnung der Unterhaltsbeiträge überschritten
sei.

    B.- Das Verwaltungsgericht des Kantons Bern wies mit Entscheid vom
1. Februar 1994 die dagegen erhobene Beschwerde ab.

    C.- W. lässt mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragen, es seien ihr
ab Juli 1993 monatliche Ergänzungsleistungen von Fr. 328.-- auszurichten.

    Die Ausgleichskasse schliesst auf Abweisung der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- Die geschiedene Frau hat sich nicht die tatsächlich geleisteten,
sondern die vereinbarten oder gerichtlich zugesprochenen Unterhaltsbeiträge
des früheren Ehemannes anrechnen zu lassen, solange deren objektive
Uneinbringlichkeit nicht erstellt ist. Uneinbringlichkeit der geschuldeten
Unterhaltsbeiträge kann in der Regel erst angenommen werden, wenn
sämtliche rechtlichen Möglichkeiten zu deren Erhältlichmachung erschöpft
sind (ZAK 1992 S. 257 Erw. 2a mit Hinweisen). Von dieser Regel kann
abgewichen und Uneinbringlichkeit der Unterhaltsbeiträge auch bei
Fehlen rechtlicher Schritte angenommen werden, wenn klar ausgewiesen
ist, dass der Unterhaltspflichtige nicht in der Lage ist, seinen
Zahlungsverpflichtungen nachzukommen. Dieser Nachweis kann insbesondere
mittels amtlicher Bescheinigungen (z.B. der Steuerveranlagungsbehörde
oder des Betreibungsamtes) über die Einkommens- und Vermögensverhältnisse
des Unterhaltspflichtigen erbracht werden (ZAK 1992 S. 260 Erw. 2a
mit Hinweisen).

    Ist aufgrund solcher Beweismittel erstellt, dass die dem
Unterhaltsberechtigten rechtlich zustehenden Beiträge uneinbringlich sind,
kann von ihm nicht verlangt werden, gegen den geschiedenen Partner die
Betreibung einzuleiten oder einen Zivilprozess anzustrengen, wenn dies
lediglich zu einem unnötigen Leerlauf führte und an der Uneinbringlichkeit
der Forderung mit grösster Wahrscheinlichkeit nichts ändern würde (ZAK
1992 S. 257 Erw. 2c).

Erwägung 3

    3.- a) Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung zu Art.
153 Abs. 1 ZGB ist eine auf Art. 151 oder auf Art. 152 ZGB gestützte
Scheidungsrente aufzuheben, wenn die rentenberechtigte Person in einem
gefestigten Konkubinat lebt, aus welchem sie ähnliche Vorteile zieht,
wie sie ihr eine Ehe bieten würde. Ein eheähnliches Verhältnis in
diesem Sinne liegt vor, wenn überzeugende Gründe dafür sprechen, dass
der neue Partner der rentenberechtigten Person dieser in ähnlicher Weise
Beistand und Unterstützung leistet, wie dies Art. 159 Abs. 3 ZGB von den
Ehegatten verlangt (BGE 118 II 237 Erw. 3a mit Hinweis auf BGE 116 II 396
Erw. 2c). Doch selbst wenn eine solche enge Zweierbeziehung nachgewiesen
ist oder sich deren Bestand angesichts der aus mehrjähriger Dauer (BGE
114 II 298 Erw. 1b) sich ergebenden Tatsachenvermutung aufdrängt, steht
der Rentenberechtigten der Nachweis offen, dass besondere und ernsthafte
Gründe der Erwartung einer eheähnlichen Versorgung entgegenstehen.

    b) Nach der Rechtsprechung zu Art. 23 Abs. 2 AHVG sind, wenn der
Zivilrichter die Unterhaltspflicht rechtskräftig beurteilt hat, die Organe
der Sozialversicherung an seinen Entscheid gebunden und nicht mehr befugt,
über die rechtskräftig entschiedene Frage selbständig zu befinden (BGE
109 V 244 Erw. 2b; ZAK 1991 S. 138 Erw. 3b). Dies gilt auch im Rahmen
von Art. 3 Abs. 1 lit. f ELG (ZAK 1991 S. 138 Erw. 3a).

    Obschon in Fällen wie dem vorliegenden der Zivilrichter noch
nicht entschieden hat, ist es nicht Aufgabe der Verwaltung und des
Sozialversicherungsrichters, vorfrageweise darüber zu befinden, ob ein
allfälliges Abänderungsbegehren des Unterhaltsverpflichteten Aussicht
auf Erfolg gehabt hätte. Daran ändert nichts, dass Verwaltung und
Sozialversicherungsrichter vorfrageweise grundsätzlich gehalten sind,
die familienrechtlichen Bestimmungen heranzuziehen (BGE 117 V 292
Erw. 3c). Denn es ist Sache des Ansprechers auf Ergänzungsleistungen,
die objektive Uneinbringlichkeit der gerichtlich festgelegten
Unterhaltsbeiträge darzulegen. Der zuständige Zivilrichter hat somit zu
befinden, ob die Voraussetzungen für eine Aufhebung bzw. Herabsetzung
der Unterhaltsbeiträge erfüllt sind, zumal die bundesgerichtliche
Rechtsprechung sehr differenziert ausgestaltet ist. Daraus folgt, dass der
Ergänzungsleistungsansprecher von der Verpflichtung, sich gegebenenfalls
auf den Prozess vor dem zuständigen Zivilrichter einzulassen, in der
Regel nicht entbunden werden kann.

    c) Die Vorinstanz hat damit zutreffend festgestellt, dass es der
Beschwerdeführerin ohne weiteres zugemutet werden könne, sich auf einen
Abänderungsprozess einzulassen, statt in einer aussergerichtlichen
Vereinbarung auf die Unterhaltsbeiträge zu verzichten. Darin liegt,
entgegen der in der Beschwerde vertretenen Auffassung, nach dem in Erw. 3b
Gesagten kein Leerlauf. Ist somit die objektive Uneinbringlichkeit der
gerichtlich festgesetzten Unterhaltsbeiträge nicht erstellt, sind diese
bei der Ermittlung des anrechenbaren Einkommens gestützt auf Art. 3 Abs. 1
lit. f ELG zu berücksichtigen.