Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 120 V 352



120 V 352

48. Auszug aus dem Urteil vom 28. Oktober 1994 i.S. "Zürich"
Versicherungs-Gesellschaft gegen Staatliche Versicherungskasse Uri und
Versicherungsgericht des Kantons Uri Regeste

    Art. 6 Abs. 1 und Art. 37 Abs. 1 UVG, Art. 9 Abs. 1 und 48 UVV:
Adäquate Kausalität bei einem Suizid nach Unfall. In Abweichung der alten,
zuletzt in BGE 100 V 79 Erw. 1c publizierten Rechtsprechung ist die Frage,
ob der adäquate Kausalzusammenhang zwischen einem versicherten Unfall und
einem danach eingetretenen suizidalen Ereignis (Suizid, Suizidversuch
und Artefakt) gegeben ist, gemäss den Kriterien der Rechtsprechung zu
den psychogenen Unfallfolgen (BGE 115 V 133 ff.) zu beurteilen.

Auszug aus den Erwägungen:

                     Aus den Erwägungen:

Erwägung 3

    3.- a) Nach dem bis 31. Dezember 1983 gültig gewesenen Recht bildete
Art. 67 Abs. 1 KUVG Grundlage für die Leistungspflicht der Anstalt
aus versicherten Unfällen. Diese Bestimmung umschrieb indessen den
Unfallbegriff nicht selber, sondern setzte ihn gleichsam voraus. Nach
jahrzehntelanger Rechtsprechung (siehe A. MAURER, Recht und Praxis
der schweizerischen obligatorischen Unfallversicherung, 2. Aufl. 1963,
S. 86 Fn. 12 mit Hinweisen) wurde als Unfall definiert die plötzliche
nicht beabsichtigte schädigende Einwirkung auf den menschlichen Körper
durch einen mehr oder weniger ungewöhnlichen äusseren Faktor. Im Rahmen
dieses feststehenden Unfallbegriffes ging die Rechtsprechung seit je davon
aus, der Suizid könne deswegen nicht als versicherter Unfall betrachtet
werden, weil ihm das Erfordernis der fehlenden Absichtlichkeit abgehe:
Wer sich "das Leben nimmt", tut dies mit Absicht, was den Unfallbegriff
ausschliesst.

    b) In den folgenden zwei Tatbeständen galt der Suizid als versichertes
Ereignis:

    - Wenn der Suizid vom Versicherten im Zustande völliger
Unzurechnungsfähigkeit begangen wurde, betrachtete die Rechtsprechung das
fragliche Merkmal des Unfallbegriffes, die Unfreiwilligkeit oder fehlende
Absicht, als erfüllt (BGE 100 V 79 Erw. 1b; RSKV 1979 Nr. 357 S. 43; SUVA
1984 Nr. 7 S. 13; unveröffentlichte Urteile W. vom 12. November 1984 und
J. vom 28. Januar 1983).

    - Ferner wurde die Haftung der SUVA bejaht, wenn der Suizid als
natürliche und adäquate Folge eines seinerseits versicherten Unfalles
zu qualifizieren war. Im Bereich des Suizides anerkannte die Praxis die
Adäquanz eines früheren Unfalles dann, wenn das versicherte Ereignis
an sich geeignet war, die psychische Widerstandskraft des Versicherten
derart zu schwächen, dass er der in ihm aufsteigenden Selbsttötungsidee
zwangsläufig verfällt (BGE 100 V 79 Erw. 1c; SUVA 1986 Nr. 8 S. 15).

Erwägung 4

    4.- a) Auch nach dem seit 1. Januar 1984 geltenden neuen Recht setzt
die Zusprechung von Leistungen der obligatorischen Unfallversicherung
grundsätzlich das Vorliegen eines Berufs- oder Nichtberufsunfalles
(oder einer Berufskrankheit) voraus (Art. 6 Abs. 1 UVG). Im Sinne einer
Begriffserläuterung hat der Verordnungsgeber nunmehr in Art. 9 Abs.
1 UVV den Unfallbegriff umschrieben, wobei er sich an die bisherige
Begriffsbildung gemäss Rechtsprechung gehalten hat; insbesondere hat
das Eidg. Versicherungsgericht festgestellt, dass der Weglassung des
"mehr oder weniger" zur Qualifizierung der Ungewöhnlichkeit des äusseren
Faktors keine materielle, sondern nur redaktionelle Bedeutung zukomme
(BGE 112 V 202 Erw. 1).

    Hat der Versicherte den Gesundheitsschaden oder den Tod absichtlich
herbeigeführt, so besteht gemäss Art. 37 Abs. 1 UVG kein Anspruch auf
Versicherungsleistungen, mit Ausnahme der Bestattungskosten. - Wollte sich
der Versicherte nachweislich das Leben nehmen oder sich selbst verstümmeln,
so findet Art. 37 Abs. 1 des Gesetzes keine Anwendung, wenn der Versicherte
zur Zeit der Tat ohne Verschulden gänzlich unfähig war, vernunftgemäss
zu handeln, oder wenn die Selbsttötung, der Selbsttötungsversuch oder die
Selbstverstümmelung die eindeutige Folge eines versicherten Unfalles war
(Art. 48 UVV).

    b) Im Lichte dieser Bestimmungen hat das Eidg. Versicherungsgericht
entschieden, dass Art. 48 UVV eine Konkretisierung des Unfallbegriffes
darstelle, indem die Unfreiwilligkeit dann gegeben sei, wenn der
Versicherte im Zustande vollständiger Urteilsunfähigkeit gehandelt habe
(BGE 113 V 62 Erw. 2c), so dass es - im Gegensatz zur alten Rechtspraxis
unter dem KUVG - nicht mehr auf die strafrechtliche Zurechnungsfähigkeit,
sondern eben auf die Urteilsfähigkeit ankomme. Aber auch bezüglich
des zweiten Teils von Art. 48 UVV ist leicht zu erkennen, dass dessen
Tatbestand der bisherigen Rechtspraxis nachgebildet ist: Ein Suizid geht
dann zu Lasten der sozialen Unfallversicherung, wenn er die Folge eines
seinerseits versicherten Ereignisses, insbesondere eines versicherten
Unfalles, ist; dem Wort "eindeutig" kommt keine die bisherige altrechtliche
Rechtsprechung ändernde Bedeutung zu (RKUV 1990 Nr. U 96 S. 188 Erw. 4a mit
Hinweisen). Der Streit der Parteien darüber, wie das Wort "eindeutig" in
Art. 48 UVV zu verstehen sei, ist daher obsolet; eine materiellrechtliche
Bedeutung hat es nicht.

    c) Aus dem Gesagten folgt, dass, wie in der Vernehmlassung zu Recht
eingewendet wird, den Vorbringen in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde
insoweit nicht beigepflichtet werden kann, als die Gesetzmässigkeit von
Art. 48 UVV bestritten wird mit dem Argument, es handle sich dabei um
eine delegationsmässig nicht abgedeckte Derogation von Art. 37 Abs. 1
UVG. Vielmehr geht es um eine Konkretisierung des Unfallbegriffes für die
Belange von Suizid, Suizidversuch und Artefakt. Da keinerlei Anhaltspunkte
für eine vollständige Urteilsunfähigkeit des B. im Zeitpunkt des Todes
vorliegen, was denn auch von keiner Seite behauptet wird, kann sich einzig
fragen, ob sein Hinschied als Folge des versicherten Gleitschirmunfalles
zu betrachten ist.

Erwägung 5

    5.- a) Vorausgesetzt ist im Rahmen von Art. 48 UVV zunächst einmal
ein natürlicher Kausalzusammenhang. Dieser ist, wie von kantonalem
Gericht und den Verfahrensbeteiligten eingeräumt wird, ohne weiteres
gegeben: Der Gleitschirmunfall war zweifellos die entscheidende Wende im
Leben des verstorbenen B. Ein auf der Ebene der psychogenen Reaktion sich
ereignender natürlicher Kausalzusammenhang (siehe dazu Ulrich MEYER-BLASER,
Kausalitätsfragen aus dem Gebiet des Sozialversicherungsrechts, in:
SZS 1994, S. 102 f.) liegt vor, weil man davon ausgehen kann, dass
sich der Versicherte wohl nicht das Leben genommen hätte, wenn er vom
Gleitschirmunfall mit den daraus verbliebenen Folgen, insbesondere dem
Verlust von Geschmacks- und Geruchssinn, verschont geblieben wäre, womit
er sich nicht abfinden konnte.

    b) Zu prüfen ist, ob dieser Zusammenhang auch adäquat kausal ist, was
Art. 48 UVV ebenfalls verlangt. Auszugehen ist davon, dass die Adäquanz
ein Wertungs- und nicht ein Tatsachenproblem ist. Es fragt sich daher,
welche Antworten die Rechtsprechung auf diese Frage gegeben hat.

    aa) Das Eidg. Versicherungsgericht hat bei Unfällen mit psychisch
bedingten Folgeschäden eine Katalogisierung vorgenommen. Danach dient als
geeigneter Anknüpfungspunkt für eine Einteilung der Unfälle mit psychischen
Folgeschäden das (objektiv erfassbare) Unfallereignis. Ausgehend vom
augenfälligen Geschehensablauf hat das Gericht folgende Einteilung der
Unfälle als zweckmässig erachtet: banale bzw. leichte Unfälle einerseits,
schwere Unfälle anderseits und schliesslich der dazwischenliegende
mittlere Bereich. Bei banalen bzw. leichten Unfällen kann der adäquate
Kausalzusammenhang zwischen Unfall und psychischen Gesundheitsstörungen
in der Regel ohne weiteres verneint werden. Bei schweren Unfällen dagegen
ist der adäquate Kausalzusammenhang in der Regel zu bejahen, weil sie nach
dem gewöhnlichen Lauf der Dinge und nach der allgemeinen Lebenserfahrung
geeignet sind, invalidisierende psychische Gesundheitsschäden zu
bewirken. Bei Unfällen im mittleren Bereich müssen weitere, objektiv
erfassbare Umstände, welche unmittelbar mit dem Unfall im Zusammenhang
stehen oder als direkte bzw. indirekte Folgen davon erscheinen, in eine
Gesamtwürdigung einbezogen werden. Der adäquate Kausalzusammenhang setzt
somit grundsätzlich voraus, dass dem Unfallereignis für die Entstehung
einer psychisch bedingten Erwerbsunfähigkeit eine massgebende Bedeutung
zukommt. Dies trifft dann zu, wenn es objektiv eine gewisse Schwere
aufweist oder mit anderen Worten ernsthaft ins Gewicht fällt. Für eine
psychisch bedingte Erwerbsunfähigkeit, welche zum Unfallereignis in einem
krassen Missverhältnis steht, hat die obligatorische Unfallversicherung
nicht einzustehen (BGE 115 V 139 ff. Erw. 6 und 7).

    bb) Das Eidg. Versicherungsgericht hat diese Grundsätze in einem
Urteil angewendet, in welchem es um den Kausalzusammenhang zwischen
einem Unfall und dem nachfolgenden Suizid des Versicherten ging (RKUV
1990 Nr. U 96 S. 190 Erw. 4b/aa) und ist damit von der alten, zuletzt in
BGE 100 V 79 Erw. 1c publizierten Rechtsprechung abgewichen. Diese neue
Rechtsprechung ist zu bestätigen, weshalb die Frage, ob ein adäquater
Kausalzusammenhang zwischen einem versicherten Unfall und einem danach
eingetretenen suizidalen Ereignis (Suizid, Suizidversuch und Artefakt)
bestehe, gemäss den Kriterien der erwähnten Rechtsprechung zu den
psychogenen Unfallfolgen (BGE 115 V 133 ff.) zu beurteilen ist.

    cc) Die Anwendung dieser Rechtsprechung führt vorliegend zu
folgendem Ergebnis: Der Gleitschirmunfall, welchen B. erlitten hat, ist
mit der Vorinstanz als sehr schwer einzustufen. Es kann diesbezüglich
auf die zutreffenden Erwägungen im angefochtenen Entscheid verwiesen
werden. Gründe, welche zu einer hievon abweichenden Betrachtungsweise
Anlass gäben, sind nicht ersichtlich. Die im Anschluss an den
sehr schweren Unfall aufgetretene psychogene Fehlentwicklung
mit letalem Ausgang erscheint unfallversicherungsrechtlich als
entschädigungswürdig. Unter diesen Umständen ist der adäquate
Kausalzusammenhang zwischen dem versicherten Unfall und dem Suizid zu
bejahen (BGE 115 V 140 Erw. 6b). Daran können die Einwendungen in der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde, insbesondere der Hinweis auf die von Giger
entworfene Skala der Sicherheitsgrade bei der Bestimmung der Adäquanz
(Hans Giger, Analyse der Adäquanzproblematik im Haftpflichtrecht, in:
Festschrift für Max Keller zum 65. Geburtstag, Zürich 1989, S. 141 ff.,
insbes. S. 157), nichts ändern.