Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 120 V 340



120 V 340

46. Urteil vom 4. Juli 1994 i.S. L. gegen Fürsorgefonds X und
Verwaltungsgericht des Kantons Bern Regeste

    Art. 73 Abs. 1 und 4 BVG.

    - Gesamtarbeitsvertragliche Bestimmungen über die berufliche Vorsorge
müssen in die Statuten oder das Reglement der einzelnen Vorsorgeeinrichtung
umgesetzt werden, damit sie im Vorsorgeverhältnis Wirkung entfalten und
vorsorgerechtlich durchsetzbar sind (Erw. 3b).

    - Unzuständigkeit des BVG-Richters zur Beurteilung der Frage, ob
ein Versicherter gestützt auf einen Gesamtarbeitsvertrag (GAV) höhere
Freizügigkeitsleistungen beanspruchen kann, als ihm nach Gesetz und
Reglement zustehen (Erw. 3b).

    - In casu statuiert Art. 54 L-GAV des Gastgewerbes vom
6. September 1988 volle Freizügigkeit, während das Reglement der
Personalfürsorgestiftung (Art. 89bis ZGB) lediglich einen angemessenen
Freizügigkeitsanspruch nach Massgabe der Anzahl der Beitragsjahre
(Art. 331a Abs. 2 OR) vorsieht.

Sachverhalt

    A.- Der 1951 geborene L. arbeitete ab 1. Juni 1976 für
die Firma Y und war seit 1. Juli 1978 beim "Fürsorgefonds der
Firma Y" (nachfolgend: Fürsorgefonds) vorsorgeversichert. Der
Fürsorgefonds führte eine Alterssparkasse und Risikoversicherungen
auf den Invaliditäts- und Todesfall, wobei die Stiftung für die
Risikoleistungen einen Kollektivlebensversicherungsvertrag mit der VITA
Lebensversicherungs-Aktiengesellschaft abgeschlossen hatte (Ziff. 1.1 und
1.3 des Reglementes vom 1. März 1982). Auf den Zeitpunkt des Inkrafttretens
des BVG am 1. Januar 1985 schloss sich die Firma Y für die Durchführung
der obligatorischen beruflichen Vorsorge der Sammelstiftung BVG der VITA
an. Der Fürsorgefonds wurde zugunsten der leitenden Angestellten der
Firma noch als Risikoversicherung gegen Tod und Invalidität weitergeführt
(Ziff. 1.1, 3.1 und 4.1 des Reglementes vom 1. Januar 1985). In die
Alterssparkasse erfolgten keine Einlagen mehr, das bis dahin angehäufte
Alterskapital wurde jedoch verzinst.

    L. löste das Arbeitsverhältnis mit der Firma (nun: Y Management
AG) auf den 28. Februar 1991 auf und trat auf diesen Zeitpunkt aus dem
Fürsorgefonds aus. Dieser errechnete ihm eine Freizügigkeitsleistung von
Fr. 16'374.90, die sich aus den persönlich geleisteten Beiträgen samt
Zins (Fr. 10'916.60) und einem Freizügigkeitszuschlag nach Massgabe
von 14 vollen Dienstjahren (Fr. 5'458.30 [= 50% von Fr. 10'916.60])
zusammensetzte (Ziff. 6 des Reglementes vom 1. März 1982). Mit
dieser Abrechnung war L. nicht einverstanden. Die Union Helvetia, der
Schweizerische Zentralverband der Hotel- und Restaurant-Angestellten,
Luzern, teilte ihm auf entsprechende Anfrage mit,

    "dass der L-GAV des Gastgewerbes in Art. 54 die volle Freizügigkeit
   vorsieht.

    Bei einem Stellenwechsel hat der Arbeitnehmer demnach Anspruch auf das
   volle Altersguthaben. Gemäss L-GAV gilt dies auch für die vor- und
   überobligatorische Vorsorge.

    Dadurch bleibt die bereits aufgebaute Altersvorsorge erhalten,
unabhängig
   davon, ob ein Stellenwechsel erfolgt oder nicht. Im Gastgewerbe sind
   demnach die vielzitierten 'goldenen Fesseln' gesprengt worden.

    Ein Stellenwechsel Ihrerseits darf demnach das von Ihnen bereits
   erworbene

    Altersguthaben in keiner Weise schmälern." (Schreiben vom 20. Februar

    1991.)

    Die für die Auslegung des Landes-Gesamtarbeitsvertrages (L-GAV)
des Gastgewerbes zuständige paritätische Aufsichtskommission (Art. 87
Ziff. 1.1 L-GAV 88) gelangte zum Schluss, die volle Freizügigkeit des
L. betrage gemäss L-GAV 80-88 Fr. 16'635.30 oder Fr. 260.40 mehr als nach
Stiftungsreglement (Schreiben vom 12. März 1992).

    B.- Klageweise beantragte L. sinngemäss die Gewährung der vollen
Freizügigkeit und Ausrichtung der gesamten ab 1. Juli 1978 einbezahlten
Arbeitnehmer- und Arbeitgeberbeiträge samt Zins.

    Das Verwaltungsgericht des Kantons Bern wies die Klage mit Urteil
vom 19. April 1993 ab.

    C.- L. führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde und beantragt, der kantonale
Entscheid sei aufzuheben und der Fürsorgefonds sei zu verpflichten,
ihm den Betrag von Fr. 5'458.30 nebst Zins zu 4,5% vom 1. März 1991 bis
12. April 1992 und zu 5% ab 13. April 1992 zu bezahlen.

    Während der Fürsorgefonds sich nicht vernehmen lässt, verzichtet das
Bundesamt für Sozialversicherung auf einen Antrag.

Auszug aus den Erwägungen:

      Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- (Zuständigkeit)

Erwägung 2

    2.- (Kognition)

Erwägung 3

    3.- Streitig und zu prüfen ist, ob der Beschwerdeführer Anspruch
auf das gesamte von der früheren Arbeitgeberin im Zeitraum Juli 1978 bis
Dezember 1984 finanzierte Alterssparkapital samt Zins hat.

    a) Der Fürsorgefonds führte als Personalfürsorgestiftung im Sinne
von Art. 89bis ZGB bis zum Inkrafttreten des BVG am 1. Januar 1985 eine
Alterssparkasse gemäss Art. 331a OR. Auf diesen Zeitpunkt nahm die Firma
eine organisatorische Umstrukturierung des Fürsorgefonds vor, indem sie auf
die selbständige Weiterführung der reglementarischen beruflichen Vorsorge
mit Ausnahme der Risikoversicherung gegen Tod und Invalidität zugunsten der
leitenden Angestellten verzichtete und sich der Sammelstiftung BVG der VITA
zur Durchführung der obligatorischen beruflichen Vorsorge anschloss. Dabei
wurde kein Alterssparkapital auf den neuen Vorsorgeträger übertragen,
mithin weder bereits fällig gewordene Ansprüche beeinträchtigt noch die
bisher geäufneten Mittel ihrem Vorsorgezweck entfremdet, weshalb diese
Änderung des Reglementes durch den Stiftungsrat zulässig war (Ziff. 8
des Reglementes vom 1. März 1982; RIEMER, Das Recht der beruflichen
Vorsorge in der Schweiz, 1985, S. 83 f. N. 109). Ab 1. Januar 1985
erfolgten keine Einlagen mehr, das bis dahin geäufnete Alterssparkapital
(samt Zins) wurde jedoch verzinst. Die vom Fürsorgefonds bei Austritt
des Beschwerdeführers Ende Februar 1991 errechnete vorobligatorische
Freizügigkeitsleistung von Fr. 16'374.90 entspricht den einschlägigen
Gesetzes- und Reglementsbestimmungen (Art. 331a Abs. 2 OR und Ziff. 6
des Reglementes vom 1. März 1982), was denn auch nicht bestritten wird.

    b) Beschwerdeführer und Vorinstanz sind der Auffassung, die
streitige Frage beurteile sich in erster Linie nach den einschlägigen
Bestimmungen der L-GAV des Gastgewerbes, soweit sie die berufliche Vorsorge
betreffen. Ihre Meinungen gehen jedoch hinsichtlich der Anwendbarkeit der
bis 28. Februar 1991 gültig gewesenen L-GAV 80 und 83 (1. Juli 1981 bis
30. Juni 1988), welche die Freizügigkeit branchenbezogen unterschiedlich
regeln, sowie L-GAV 88 (1. November 1988 bis 30. Juni 1992), welcher
die volle Freizügigkeit vorsieht, auseinander. Wie es sich damit verhält,
kann jedoch aus den nachstehenden Gründen offenbleiben.

    Arbeitsvertrag und Vorsorgevertrag regeln unterschiedliche
Rechtsverhältnisse zwischen verschiedenen Rechtssubjekten (RIEMER, aaO,
S. 102 N. 13 f.). Durch Arbeitsvertrag können daher grundsätzlich keine
verbindlichen Regelungen zu Lasten einer nicht am Vertrag beteiligten
Vorsorgeeinrichtung getroffen werden (KRAMER, Berner Kommentar, OR
Allg. Einleitung, N. 44; vgl. BGE 114 II 97 Erw. 4a/aa). Dies gilt
für Einzel- wie für Gesamtarbeitsverträge (REHBINDER, Schweizerisches
Arbeitsrecht, 11. Aufl., S. 180). Zwar können gesamtarbeitsvertraglich im
Verhältnis zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer, die als solche nicht
Vertragspartei sind, unmittelbar oder mittelbar Rechte und Pflichten
begründet werden, wie beispielsweise die Verpflichtung des Arbeitgebers,
seine Arbeitnehmer im Rahmen der beruflichen Vorsorge für bestimmte
Minimalleistungen im Invaliditätsfall zu versichern (REHBINDER, aaO, S. 186
ff.). Diese gesamtarbeitsvertragliche Besonderheit gilt jedoch, trotz der
grossen Bedeutung der GAV für die berufliche Vorsorge (vgl. Botschaft zu
einem Bundesgesetz über die Freizügigkeit in der beruflichen Alters-,
Hinterlassenen- und Invalidenvorsorge vom 26. Februar 1992, BBl 1992
III S. 533 ff., 541 f.; HELBLING, Personalvorsorge und BVG, 5. Auflage,
S. 51 f.), nicht auch im Verhältnis zwischen einer Vorsorgeeinrichtung
und einem Arbeitgeber oder Arbeitnehmer. Vielmehr müssen die Rahmen- und
Mindestbedingungen eines GAV zur beruflichen Vorsorge, wie vorliegend
der Anspruch des Arbeitnehmers auf volle Freizügigkeit gemäss Art. 54
L-GAV des Gastgewerbes vom 6. September 1988, in die Statuten oder das
Reglement der einzelnen Vorsorgeeinrichtung umgesetzt werden, damit sie
greifen. Nur ausnahmsweise sind sie vorsorgerechtlich direkt anwendbar,
nämlich dann, wenn sich nach Statuten oder Reglement Rechte und Pflichten
von Arbeitgeber und Arbeitnehmer im Vorsorgeverhältnis nach dem jeweils
geltenden GAV richten. Dies ist jedoch vorliegend nicht der Fall.

    Aus dem Gesagten folgt, dass der Beschwerdeführer aus den L-GAV des
Gastgewerbes keinen vorsorgerechtlich durchsetzbaren Anspruch auf höhere
Freizügigkeitsleistungen gegen den Fürsorgefonds ableiten kann, weshalb
insoweit auf die Verwaltungsgerichtsbeschwerde nicht einzutreten ist. Im
übrigen ist, wie erwähnt, die streitige Freizügigkeitsleistung gesetzes-
und reglementskonform ermittelt worden und daher der geltend gemachte
Anspruch auch materiell abzuweisen.

Erwägung 4

    4.- Sollten die im vorliegenden Fall anwendbaren L-GAV des
Gastgewerbes mehr als die (minimalen) gesetzlichen und reglementarischen
Freizügigkeitsleistungen garantieren und ist dem Beschwerdeführer
dadurch, dass diese Bestimmungen bis zum Zeitpunkt seines Austritts aus
dem Fürsorgefonds Ende Februar 1991 noch nicht ins Reglement umgesetzt
worden waren, ein Schaden entstanden, ist darüber in diesem Verfahren
nicht zu befinden. Denn das Eidg. Versicherungsgericht ist im Rahmen von
Art. 73 Abs. 4 BVG nicht zuständig zur Beurteilung von Schadenersatzklagen
eines Arbeitnehmers gegen den Arbeitgeber (BGE 120 V 26 Erw. 3) oder eine
Vorsorgeeinrichtung (BGE 117 V 42 Erw. 3d).