Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 120 V 337



120 V 337

45. Urteil vom 4. Juli 1994 i.S. Vorsorgestiftung der Frey-Unternehmungen
gegen H. und Versicherungsgericht des Kantons Basel-Landschaft Regeste

    Art. 50 Abs. 3 BVG. Hält eine Vorsorgeeinrichtung in ihrem
Reglement fest, dass sie die obligatorischen Leistungen gemäss BVG
in jedem Fall ausrichtet, kann sie sich dieser Leistungspflicht nicht
unter Berufung auf den guten Glauben in die Gesetzeskonformität einer
leistungssausschliessenden Reglementsbestimmung entziehen, die sich als
gesetzeswidrig erwiesen hat.

Auszug aus den Erwägungen:

                     Aus den Erwägungen:

Erwägung 4

    4.- ...

    a) Das Eidg. Versicherungsgericht hat sich mit Art. 50 Abs. 3 BVG in
einem - zu einem ähnlichen Sachverhalt - heute ergangenen Urteil erstmals
eingehender befasst (BGE 120 V 319).

    b) Aufgrund dieser Rechtsprechung vermöchte sich die beschwerdeführende
Vorsorgeeinrichtung ihrer Leistungspflicht im vorliegenden Fall nach
Kenntnisnahme des Urteils C. vom 31. August 1990 nicht mehr zu entziehen.
Was die Zeit davor anbelangt, bestehen keinerlei Anzeichen, die ihren guten
Glauben in die Gesetzeskonformität von Art. 13 Ziff. 2 des Reglements als
zweifelhaft erscheinen liessen, so dass es insoweit mit der entsprechenden
Vermutung (Art. 3 Abs. 1 ZGB) sein Bewenden haben kann. Zu prüfen bliebe
demnach nur noch der genaue Zeitpunkt, ab dem der Beschwerdeführerin die
Berufung auf ihren guten Glauben zu versagen wäre (vgl. BGE 119 II 25, 27
und 102 V 246 Erw. b mit Hinweisen) und der Anspruch des Beschwerdegegners
(ex nunc et pro futuro) aufleben würde.

    Wie im folgenden zu zeigen ist, besteht hiezu freilich kein Anlass.

Erwägung 5

    5.- Im IV. Abschnitt des Reglements ("Anspruch auf versicherte
Leistungen und Auszahlung") der Beschwerdeführerin findet sich in Art. 15
der "Grundsatz", dass die obligatorischen Leistungen gemäss BVG in jedem
Fall erbracht werden.

    a) Diese auf den BVG-Obligatoriumsbereich bezogene Reglementsbestimmung
(vgl. Art. 50 Abs. 1 lit. a BVG) ist wie das Gesetz in erster Linie
nach ihrem Wortlaut auszulegen. Ist der Text nicht ganz klar und sind
verschiedene Auslegungen möglich, so muss nach seiner wahren Tragweite
gesucht werden unter Berücksichtigung aller Auslegungselemente,
namentlich des Zwecks, des Sinnes und der dem Text zugrunde liegenden
Wertung. Wichtig ist ebenfalls der Sinn, der einer Norm im Kontext
zukommt. Vom klaren, d.h. eindeutigen und unmissverständlichen Wortlaut
darf nur ausnahmsweise abgewichen werden, u.a. dann nämlich, wenn
triftige Gründe dafür vorliegen, dass der Wortlaut nicht den wahren
Sinn der Bestimmung wiedergibt. Solche Gründe können sich aus der
Entstehungsgeschichte der Bestimmung, aus ihrem Grund und Zweck oder aus
dem Zusammenhang mit andern Vorschriften ergeben (BGE 119 V 126 Erw. 4,
118 Ib 191 Erw. 5a, 452 Erw. 3c, 555 Erw. 4d, 118 II 342 Erw. 3e, je mit
Hinweisen; HÖHN, Praktische Methodik der Gesetzesauslegung, Zürich 1993,
S. 206 f.; RHINOW/KRÄHENMANN, Schweizerische Verwaltungsrechtsprechung,
Ergänzungsband, Nr. 21 B IV, S. 66).

    b) Der Wortlaut der eingangs dargelegten Reglementsbestimmung lässt
in zweierlei Hinsicht keine Zweifel offen. Zum einen verpflichtet sich
die Beschwerdeführerin zur Ausrichtung der obligatorischen Leistungen
gemäss BVG; dabei versteht sich von selbst, dass solche Leistungen
nur dann fliessen können, wenn der betreffende Versicherungsfall unter
die Geltung des BVG fällt und die erforderlichen versicherungsmässigen
Voraussetzungen gegeben sind. Zum andern besteht diese Verpflichtung -
im soeben dargelegten Rahmen - in jedem Fall, mithin ausnahmslos. Aufgrund
des insofern klaren Wortlautes erübrigt sich eine weitere Sinnermittlung
anhand weiterer Auslegungselemente (Erw. 5a hievor).

    aa) Für den vorliegenden Fall bedeutet dies konkret nichts anderes, als
dass der Beschwerdegegner die ihm im Rahmen des gesetzlichen Obligatoriums
zustehenden Leistungen beanspruchen kann. Diesbezüglich steht nach dem
Urteil C. des Eidg. Versicherungsgerichts vom 31. August 1990 fest,
dass im Bereich der obligatorischen beruflichen Vorsorge gemäss Art. 34
Abs. 2 BVG die Gewährung von Invalidenleistungen nicht ausgeschlossen
werden darf, falls im gleichen Versicherungsfall die Leistungspflicht
der Unfallversicherung gegeben ist (BGE 116 V 189). Mit diesem Urteil
wurde folglich nicht nur Art. 25 Abs. 1 BVV 2 in seiner damaligen
Fassung, sondern zwangsläufig - wenn auch nur mittelbar - zugleich
der in Anlehnung daran geschaffene Art. 13 Ziff. 2 des Reglements als
gesetzeswidrig erklärt. Damit ist der in Art. 20 Ziff. 1 (Satz 2) des
Reglements vorbehaltenen Einschränkung der Leistungspflicht (gemäss dessen
Art. 13 Ziff. 2) im Invaliditätsfall jede rechtliche Grundlage entzogen.

    bb) Wird sodann der in Art. 15 des Reglements stipulierte Grundsatz
in bezug auf die Wendung "in jedem Fall" beim Wort genommen, vermag sich
die Beschwerdeführerin ihrer Leistungspflicht ebensowenig unter Berufung
auf Art. 50 Abs. 3 Satz 2 BVG (Erw. 4 hievor) zu entledigen. Denn mit
jenem Grundsatz bekennt sie sich in ihrem Reglement ohne Vorbehalt zum
Vorrang des Gesetzes (Art. 50 Abs. 3 Satz 1 BVG), so dass in der Tat
nicht einzusehen ist, weshalb dessen Geltung sogleich wieder zugunsten
gesetzeswidriger Reglementsbestimmungen ausser Kraft gesetzt werden
sollte. In diesem Sinne kommt Art. 15 des Reglements keineswegs bloss
die deklaratorische Wirkung einer reinen Absichtserklärung zu. Vielmehr
handelt es sich dabei um eine eigentliche Leistungsgarantie, auf der
sich die Beschwerdeführerin im konkreten Fall behaften lassen muss. Dies
wird denn auch der Sache nach von ihr selbst eingeräumt, indem sie
in ihrer Stellungnahme ausführt, Art. 15 des Reglements versichere den
Destinatären, dass ihnen auch bei abweichenden Reglementsbestimmungen über
das Finanzierungs- oder Leistungssystem betragsmässig "in jedem Fall"
die vorgeschriebenen Leistungen gemäss BVG ausgerichtet würden. Um
nichts anderes geht es im vorliegenden Fall. Denn entgegen der von
der Beschwerdeführerin offenbar vertretenen Ansicht zielt der vom
Beschwerdegegner erhobene Anspruch in keiner Weise auf überobligatorische
Leistungen ab, sondern allein darauf, was ihm gemäss Art. 34 Abs. 2 BVG
und Art. 24 BVV 2 - mit welchen Vorschriften sich der Leistungsausschluss
gemäss Art. 13 Ziff. 2 des Reglements nicht vereinbaren lässt (BGE 116
V 189) - zusteht.

    c) Nach dem Gesagten führt die wörtliche Auslegung von Art. 15
des Reglements im vorliegenden Fall zu einer grundsätzlichen und -
jedenfalls aus Sicht von Art. 50 Abs. 3 BVG - in zeitlicher Hinsicht
uneingeschränkten Leistungspflicht der Beschwerdeführerin. Triftige
Gründe, die ein ausnahmsweises Abweichen vom insofern klaren Wortlaut
rechtfertigen würden (Erw. 5a hievor), sind weder geltend gemacht noch
ersichtlich. Namentlich vermögen - wie bereits dargelegt (Erw. 5b/bb) -
auch die Vorbringen der Beschwerdeführerin nicht zu überzeugen, nachdem
die Ausschlussklausel (Art. 13 Ziff. 2 des Reglements) vorliegendenfalls
nicht mehr zum Tragen gelangen kann.

Erwägung 6

    6.- Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass das kantonale
Gericht in Anbetracht von Art. 15 des Reglements weder Art. 50 Abs. 3 BVG
noch den Grundsatz von Treu und Glauben verletzt hat und der angefochtene
Entscheid mithin standhält.