Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 120 V 288



120 V 288

39. Urteil vom 28. März 1994 i.S. P. gegen Kantonale Ausgleichskasse des
Wallis, Sitten, und Kantonales Versicherungsgericht, Sitten Regeste

    Art. 16 Abs. 1 IVG, Art. 5 Abs. 3 und Abs. 4 IVV:

    - Transportkostenvergütung im Rahmen der erstmaligen beruflichen
Ausbildung: Anwendung der Austauschbefugnis.

    - Der Versicherte, der infolge Invalidität die Vergütung der
Taxikosten für die Fahrten zwischen seinem Wohnort und der von ihm
besuchten Mittelschule beanspruchen könnte, den Schulweg aber nicht
im Taxi zurücklegt, sondern von seinen Eltern mit dem Auto zur Schule
gebracht und von dort abgeholt wird, hat Anspruch auf Übernahme der durch
den Transport im elterlichen Fahrzeug tatsächlich anfallenden Mehrkosten
durch die Invalidenversicherung.

    - Berechnung der invaliditätsbedingten Mehrkosten.

Sachverhalt

    A.- Der 1974 geborene, in V. wohnhafte P. leidet an der
Werdnig-Hoffmann-Krankheit, einer progressiven spinalen Muskelatrophie. Die
Invalidenversicherung erbrachte Leistungen zur Behandlung dieses
Geburtsgebrechens, sprach Pflegebeiträge zu, gab Hilfsmittel ab und
übernahm die für den Schulbesuch notwendigen, invaliditätsbedingten
Transportkosten. Unter diesem Titel gewährte sie dem Versicherten, der
seit August 1988 die Maturitätsschule in X besucht, je Fahrt von seinem
Wohnort zur Schule und zurück im von seinen Eltern geführten Personenwagen
(Nissan "Prairie") einen Betrag von Fr. 18.--, dies so lange, bis die
Beiträge die Höhe des Kaufpreises des Autos erreicht hatten (Verfügung der
Kantonalen Ausgleichskasse des Wallis vom 12. Oktober 1984). Nach diesem
Zeitpunkt vergütete die Invalidenversicherung eine Kilometer-Entschädigung
von 45 Rappen.

    Im Sommer 1991 teilte der Vater von P. der
Invalidenversicherungs-Kommission mit, sein Sohn sei seit 1984 erheblich
grösser und schwerer geworden. Er beabsichtige deshalb, im Hinblick auf
den Transport seines an den Rollstuhl gebundenen Sohnes zur Schule ein
grösseres Fahrzeug zu erwerben. Mit dieser Begründung ersuchte er um
Vergütung eines Betrages von Fr. 25.-- je Fahrt zur Schule, entsprechend
den Kosten eines Taxitransportes, dies bis zur Höhe der Anschaffungskosten
des Personenwagens, die sich, einschliesslich der behinderungsbedingt
notwendigen Umbaukosten, auf rund Fr. 60'000.-- beliefen. Gestützt auf
einen Beschluss der Invalidenversicherungs-Kommission eröffnete die
Ausgleichskasse dem Vater von P., dass für die Transportkosten lediglich
eine Kilometerentschädigung von 45 Rappen ausgerichtet werde, während
sie die Begehren um Übernahme der invaliditätsbedingten Änderungen am
Fahrzeug und um Beteiligung an den Anschaffungskosten ablehnte (Verfügung
vom 17. Januar 1992).

    B.- Der Vater des Versicherten liess Beschwerde führen mit den
Anträgen, es sei ihm, unter Aufhebung der angefochtenen Verfügung, eine
Entschädigung für das benötigte Fahrzeug im Sinne eines Hilfsmittels
zuzusprechen; eventuell sei die Sache zu neuer Beurteilung an die
Verwaltung zurückzuweisen. Mit Entscheid vom 28. Januar 1993 wies das
Kantonale Versicherungsgericht des Wallis die Beschwerde ab.

    C.- Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde lässt der Vater des Versicherten
den vorinstanzlich gestellten Hauptantrag erneuern.

    Während die Ausgleichskasse auf eine Stellungnahme der
Invalidenversicherungs-Kommission verweist, die sich in ablehnendem
Sinne äussert, beantragt das Bundesamt für Sozialversicherung (BSV),
in teilweiser Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde seien die
Transportkosten in Anwendung der Austauschbefugnis zu vergüten; dabei sei
die Entschädigung auf der Grundlage der tatsächlichen Transportkosten
mit dem eigenen Fahrzeug, der hypothetischen Aufwendungen für die
Taxibenützung und der Kosten eines Personenwagens der unteren Preisklasse
zu berechnen. Die hypothetischen Taxikosten stellten die höchstmögliche
Entschädigung dar. Von den effektiven Transportkosten seien, im Sinne
eines Selbstbehaltes, die Kosten eines Personenwagens der unteren
Preisklasse abzuziehen, könne doch davon ausgegangen werden, dass die
Eltern auch ohne Invalidität ihres Sohnes einen solchen benützen würden.

Auszug aus den Erwägungen:

      Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Ein Anspruch des Beschwerdeführers auf Leistungen gestützt
auf Art. 21 und 21bis IVG fällt nach den zutreffenden Erwägungen der
Vorinstanz, auf welche verwiesen werden kann, nicht in Betracht.

Erwägung 2

    2.- a) Nach Art. 16 Abs. 1 IVG haben Versicherte, die noch nicht
erwerbstätig waren und denen infolge Invalidität bei der erstmaligen
beruflichen Ausbildung in wesentlichem Umfange zusätzliche Kosten
entstehen, Anspruch auf Ersatz dieser Kosten, sofern die Ausbildung
den Fähigkeiten des Versicherten entspricht. Als erstmalige berufliche
Ausbildung gilt gemäss Art. 5 Abs. 1 IVV jede Berufslehre oder Anlehre
sowie, nach Abschluss der Volks- oder Sonderschule, der Besuch einer
Mittel-, Fach- oder Hochschule und die berufliche Vorbereitung auf eine
Hilfsarbeit oder auf die Tätigkeit in einer geschützten Werkstätte. Laut
Art. 5 Abs. 3 IVV werden die aus der erstmaligen beruflichen Ausbildung
entstehenden zusätzlichen Kosten ermittelt, indem die Kosten der Ausbildung
des Invaliden den mutmasslichen Aufwendungen gegenübergestellt werden, die
bei der Ausbildung eines Gesunden zur Erreichung des gleichen beruflichen
Zieles notwendig wären. Anrechenbar im Rahmen dieser Bestimmung sind
insbesondere die Transportkosten (Art. 5 Abs. 4 IVV).

    b) Nach der Verwaltungspraxis (Rz. 27 des Kreisschreibens des BSV über
die Eingliederungsmassnahmen beruflicher Art, gültig ab 1. Januar 1983, in
Verbindung mit Rz. 20 und Rz. 39 sowie Anhang 4 des Kreisschreibens des BSV
über die Vergütung der Reisekosten, gültig ab 1. März 1982) wird im Rahmen
der erstmaligen beruflichen Ausbildung unter dem Titel Transportkosten
für die Verwendung privater Personenwagen ein Kilometer-Ansatz von 45
Rappen vergütet.

Erwägung 3

    3.- Im vorliegenden Fall steht fest, dass der Beschwerdeführer aufgrund
seines Gebrechens nicht in der Lage ist, den täglichen Schulweg in einem
öffentlichen Verkehrsmittel oder mit dem Fahrrad zurückzulegen, weshalb
er gestützt auf Art. 16 Abs. 1 IVG in Verbindung mit Art. 5 Abs. 4 IVV
Anspruch auf Vergütung der mit der erstmaligen beruflichen Ausbildung
verbundenen invaliditätsbedingten Mehrkosten für den Transport zur
Schule hat. Streitig und näher zu prüfen ist, ob und gegebenenfalls in
welchem Umfang die durch den Transport im von den Eltern angeschafften
und mit Rücksicht auf die Behinderung des Beschwerdeführers umgebauten
Personenwagen entstehenden Kosten von der Invalidenversicherung zu
übernehmen sind.

    a) In Anwendung der vorstehend zitierten Verwaltungsweisungen
hat die Ausgleichskasse dem Versicherten für diese Kosten eine
Kilometer-Entschädigung von 45 Rappen zugesprochen, was nach den
unbestritten gebliebenen Ausführungen in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde
umgerechnet auf ein Jahr einen Betrag von rund Fr. 1'080.--
ergibt (200 Schultage à 12 km x 45 Rappen). Die Vorinstanz hat die
angefochtene Verwaltungsverfügung unter Hinweis auf das in ZAK 1986 S.
633 ff. publizierte Urteil F. vom 22. Mai 1986 bestätigt.

    In der Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird eingewendet, dass der
Versicherte einen weit höheren Betrag beanspruchen könnte, wenn er die
Fahrten zwischen seinem Wohnort und der Schule statt als Mitfahrer im
Auto seiner Eltern in einem Taxi zurücklegte.

    Das BSV weist darauf hin, dass bei Anwendung der Kilometerentschädigung
von 45 Rappen in Anbetracht der kurzen Wegstrecke zwischen dem
Wohnort des Versicherten und der Ausbildungsstätte für die Eltern eine
bescheidene, nicht kostendeckende Vergütung resultiere, die zudem in
einem Missverhältnis zu den Kosten eines entsprechenden Taxi-Transportes
stehe. Der Entscheid der Eltern, ein eigenes Fahrzeug anzuschaffen,
statt die Transporte mit dem Taxi durchführen zu lassen, habe für die
Invalidenversicherung beträchtliche Einsparungen zur Folge. Unter diesen
Umständen erscheine es gerechtfertigt, die Entschädigung in Anwendung
der Austauschbefugnis festzusetzen.

    b) Im Urteil F. vom 22. Mai 1986 (ZAK 1986 S. 633 ff.) hat das Eidg.
Versicherungsgericht zum Anspruch auf die Vergütung der Transportkosten
im Rahmen der erstmaligen beruflichen Ausbildung ausgeführt, dass der für
die Fortbewegung auf einen Rollstuhl angewiesene Versicherte lediglich die
Übernahme der Transportkosten im Rahmen von Art. 5 Abs. 4 IVV verlangen
kann, und diesbezüglich festgehalten, dass der Betrag von 45 Rappen pro
Kilometer den hiefür geltenden Richtlinien der Verwaltung entspricht
(S. 635 Erw. 4b).

    c) Im Hilfsmittelbereich der Invalidenversicherung hat das Eidg.
Versicherungsgericht folgenden Grundsatz aufgestellt: Umfasst ein vom
Versicherten selber angeschafftes Hilfsmittel, auf das kein Anspruch
besteht, auch die Funktion eines ihm an sich zustehenden Hilfsmittels,
so steht einer Gewährung von Amortisations- oder Kostenbeiträgen nichts
entgegen; diese sind alsdann auf der Basis der Anschaffungskosten des
Hilfsmittels zu berechnen, auf das der Versicherte an sich Anspruch
hat (BGE 111 V 213 Erw. 2b und 215, 107 V 89; ZAK 1988 S. 182 Erw. 2b,
1986 S. 527 Erw. 3a; vgl. auch Art. 2 Abs. 5 HVI). Diese sogenannte
Austauschbefugnis des Versicherten (vgl. dazu MEYER-BLASER, Zum
Verhältnismässigkeitsgrundsatz im staatlichen Leistungsrecht, Diss. Bern
1985, S. 87 ff.) hat das Gericht nicht nur im Hilfsmittelbereich,
sondern namentlich auch auf dem Gebiete der medizinischen Massnahmen
(Art. 12 ff. IVG) als zulässig erachtet (BGE 120 V 280, K. vom 5. August
1993 und S. vom 22. März 1989). Wie das BSV zutreffend feststellt, steht
einer Anwendung der Rechtsprechung über die Austauschbefugnis auch im
Bereich der Transportkostenvergütung im Sinne von Art. 16 Abs. 1 IVG in
Verbindung mit Art. 5 Abs. 4 IVV - betreffend das Verhältnis der von
den Eltern des Versicherten durchgeführten Fahrten im eigenen Auto zum
Transport mit einem Taxi - nichts entgegen. Insbesondere lässt sich
auch dem vorstehend zitierten Urteil F. (ZAK 1986 S. 633 ff.) nicht
entnehmen, dass die Austauschbefugnis des Versicherten im Zusammenhang
mit der Transportkostenvergütung gemäss Art. 5 Abs. 4 IVV nicht zum
Tragen kommen könnte; in jenem Fall war in erster Linie streitig, ob der
Versicherte die Anspruchsvoraussetzungen in bezug auf Beiträge an die
Kosten von Dienstleistungen Dritter im Sinne von Art. 21bis Abs. 2 IVG
und Art. 9 Abs. 1 HVI erfüllte, während die vorliegend interessierende
Frage der Austauschbefugnis des Versicherten nicht erörtert wurde.

    d) Der Beschwerdeführer hätte gestützt auf Art. 16 Abs. 1 IVG und
Art. 5 Abs. 4 IVV für den Transport von der elterlichen Wohnung zur
Schule und zurück unbestrittenermassen Anspruch auf die Vergütung der
anfallenden Taxikosten, abzüglich der Kosten, die ihm auch ohne Invalidität
für den Schulweg entstünden. Seine Eltern gaben indessen einer anderen
zweckmässigen Lösung den Vorzug, indem sie ein geeignetes Auto kauften,
dieses mit Rücksicht auf die Behinderung umbauen liessen und damit den
Transport zwischen Wohnort und Schule bewerkstelligen. Auf die Übernahme
dieser Anschaffungs- und Abänderungskosten durch die Invalidenversicherung
besteht kein gesetzlicher Anspruch. Hingegen kann der Beschwerdeführer in
Anwendung der Austauschbefugnis die Vergütung der durch den Transport im
elterlichen Fahrzeug tatsächlich entstehenden Kosten, abzüglich der auch
ohne Invalidität anfallenden Kosten für den Schulweg, beanspruchen. Es
stellt sich die Frage, wie die Kosten des Transports mit dem Auto der
Eltern zu berechnen sind.

    e) Um die tatsächlich entstehenden Mehrkosten im Sinne von Art. 5
Abs. 3 IVV zu ermitteln, ist vom Kaufpreis des angeschafften Fahrzeuges,
zuzüglich der Kosten für die invaliditätsbedingten Abänderungen,
auszugehen. Von diesem Betrag sind die Anschaffungskosten für einen
Personenwagen mittlerer Preislage abzuziehen, den die Eltern aller
Wahrscheinlichkeit nach erworben hätten, wenn ihr Sohn nicht invalid
wäre. Diese Kosten sind bei der Berechnung des Anspruchs daher ausser acht
zu lassen. Der auf diese Weise bestimmte Differenzbetrag ist durch sechs
Jahre, entsprechend der "heute zu erwartenden Lebensdauer" eines Fahrzeuges
(BGE 119 V 255; Rz. 10.05.3* der Wegleitung des BSV über die Abgabe
von Hilfsmitteln durch die Invalidenversicherung, gültig ab 1. Januar
1989), zu dividieren. Zum daraus resultierenden Betrag sind sodann
einerseits die auf den Transport zur Schule zurückzuführenden Betriebs-
und Unterhaltskosten des Fahrzeuges - zweckmässigerweise mittels einer
Kilometerpauschale - hinzuzuzählen; andererseits sind die in einem Jahr
anfallenden, hypothetischen Kosten für die Zurücklegung des Schulweges
mit einem öffentlichen Verkehrsmittel oder Fahrrad abzuziehen. Das
Ergebnis entspricht den jährlichen invaliditätsbedingten Mehrkosten für
den Transport zwischen Wohnort und Schule, die dem Beschwerdeführer von
der Invalidenversicherung zu vergüten sind. Dabei darf die Entschädigung
die hypothetischen Taxikosten nicht übersteigen.

    Die Verwaltung, an welche die Sache zurückzuweisen ist, wird die zur
Berechnung der Transportkostenentschädigung erforderlichen Abklärungen
treffen und hernach über den Anspruch neu verfügen.