Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 120 V 277



120 V 277

37. Urteil vom 30. März 1994 i.S. L. gegen Ausgleichskasse des Kantons
Zürich und AHV-Rekurskommission des Kantons Zürich Regeste

    Art. 13 IVG, Art. 12 Abs. 1 und Art. 21 Abs. 1 Satz 2 IVG.
Ein Anspruch auf Übernahme der Behandlung von Geburtsgebrechen über
das vollendete 20. Altersjahr hinaus kann auch nicht gestützt auf die
Rechtsfigur der Austauschbefugnis begründet werden.

Sachverhalt

    A.- L., geboren am 20. Januar 1972, weist eine Anodontia partialis
congenita auf, indem ihm sechs bleibende Zähne fehlen. Sein Vater
meldete ihn am 12. Dezember 1981 bei der Invalidenversicherung zum
Bezug von Leistungen für Minderjährige an. Gestützt auf einen Bericht
des Dr. med. dent. B., Zürich, vom 31. Januar 1982, sprach ihm die
Ausgleichskasse des Kantons Zürich mit Verfügung vom 22. Februar 1982
die zur Behandlung des Geburtsgebrechens Ziffer 206 GgV notwendigen
medizinischen Massnahmen kieferorthopädischer und kieferchirurgischer
Fachrichtung, einschliesslich ambulanter Kontrollen, "bis 31.1.1992
(Volljährigkeit)" zu.

    Am 9. Dezember 1991 teilte der den Versicherten nunmehr behandelnde
Zahnarzt Dr. med. dent. N., Zürich, der Invalidenversicherungs-Kommission
mit, es sei die Versorgung der Lücken mit Implantaten nach orthodontischer
Vorbehandlung geplant gewesen. Da Implantate erst nach Abschluss
des Wachstums eingesetzt werden könnten, sei mit der Vorbehandlung
erst vor knapp einem Jahr begonnen worden. Durch die orthodontische
Lückenöffnung hätten sich die Knochenverhältnisse im Implantatbereich
derart verändert, dass nunmehr zuerst ein Kammaufbau durchgeführt werden
müsse, was eine Verzögerung von etwa neun Monaten zur Folge habe. Auch
für andere Sanierungsvarianten sei, wenn seriös durchgeführt, ein
Kammaufbau notwendig. Der Präsident der Invalidenversicherungs-Kommission
gelangte am 13. Dezember 1991 zum Schluss, dass das als Leistungsgesuch
betrachtete Begehren des Zahnarztes abzuweisen sei, da eine Verlängerung
der Kostengutsprache über das 20. Altersjahr hinaus nicht möglich und die
Anspruchsvoraussetzungen für die Übernahme der Behandlung nach Art. 12
IVG nicht erfüllt seien. Dies eröffnete die Ausgleichskasse dem Vater
des Versicherten mit Verfügung vom 10. Januar 1992.

    B.- Die hiegegen erhobene Beschwerde wies die AHV-Rekurskommission
mit Entscheid vom 8. Dezember 1992 ab.

    C.- Der Vater von L. führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem
Antrag auf Übernahme der Hälfte der Kosten für die "Instandstellung
(Einbau eines Kiefer-Implantats)" oder für diejenigen Kosten, die durch
die Versorgung mit zwei Brücken entstanden wären.

    Die Ausgleichskasse verweist auf eine ablehnende Stellungnahme
der Invalidenversicherungs-Kommission, wogegen das Bundesamt für
Sozialversicherung (BSV) Rückweisung der Sache an die Verwaltung beantragt.

Auszug aus den Erwägungen:

      Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- (Kognition)

Erwägung 2

    2.- Nach Art. 13 IVG haben minderjährige Versicherte Anspruch
auf die zur Behandlung von Geburtsgebrechen notwendigen medizinischen
Massnahmen (Abs. 1). Der Bundesrat bezeichnet die Gebrechen, für welche
diese Massnahmen gewährt werden; er kann die Leistungen ausschliessen,
wenn das Gebrechen von geringfügiger Bedeutung ist (Abs. 2).

    Gestützt auf die Delegationskompetenz von Art. 13 Abs. 2 IVG hat der
Bundesrat die Verordnung über Geburtsgebrechen (GgV) erlassen. Gemäss
Art. 3 GgV erlischt der Anspruch auf Behandlung eines Geburtsgebrechens
am Ende des Monats, in dem der Versicherte das 20. Altersjahr zurückgelegt
hat, selbst wenn eine vor diesem Zeitpunkt begonnene Massnahme fortgeführt
wird. Das Eidg. Versicherungsgericht ist in seiner Rechtsprechung
stets ausdrücklich von der Gesetzmässigkeit der absoluten Begrenzung
des Anspruchs auf den Zeitpunkt der Volljährigkeit ausgegangen (ZAK 1990
S. 476 mit Hinweisen). Im erwähnten Urteil hat es sodann erwogen, dass
keine unechte Gesetzeslücke vorliege, welche ausnahmsweise richterlich
zu schliessen wäre. An dieser Rechtsprechung ist festzuhalten. Sowohl
bei der Privilegierung der Geburtsinvaliden im Sinne der Gewährung von
Leistungen unabhängig von der Möglichkeit einer Eingliederung in das
Erwerbsleben (Art. 8 Abs. 2 IVG; BGE 98 V 37 Erw. 2a) als auch bei der
Begrenzung dieser bevorzugten Rechtsstellung auf Minderjährige handelt
es sich um gesetzgeberische Grundentscheidungen, welche seitens des
Richters hinzunehmen sind. Der Beschwerdeführer kann demzufolge über den
31. Januar 1992 hinaus keine medizinische Massnahmen gestützt auf Art.
13 IVG beanspruchen.

Erwägung 3

    3.- a) Zu prüfen ist weiter, ob die Voraussetzungen für eine
Kostenübernahme unter dem Gesichtspunkt von Art. 12 IVG erfüllt sind. Nach
dieser Bestimmung hat ein Versicherter Anspruch auf medizinische
Massnahmen, die nicht auf die Behandlung des Leidens an sich, sondern
unmittelbar auf die berufliche Eingliederung gerichtet und geeignet
sind, die Erwerbsfähigkeit dauernd und wesentlich zu verbessern oder vor
wesentlicher Beeinträchtigung zu bewahren. Um Behandlung des Leidens an
sich geht es in der Regel bei der Heilung oder Linderung pathologischen
Geschehens. Die Invalidenversicherung übernimmt in der Regel nur solche
medizinische Vorkehren, die unmittelbar auf die Beseitigung oder Korrektur
stabiler oder wenigstens relativ stabilisierter Defektzustände oder
Funktionsausfälle hinzielen und welche die Wesentlichkeit und Beständigkeit
des angestrebten Erfolges gemäss Art. 12 Abs. 1 IVG voraussehen lassen
(BGE 115 V 194 f. Erw. 3, 112 V 349 Erw. 2, 105 V 19 und 149 Erw. 2a,
104 V 82 Erw. 1).

    b) Vorliegend fehlt es an der erforderlichen qualifizierten
Eingliederungswirksamkeit im Sinne von Art. 12 IVG der in Frage stehenden
Vorkehr. Die Anomalie des Beschwerdeführers ist nicht derart ausgeprägt,
dass sie prognostisch gesehen eine rechtserhebliche Beeinträchtigung
der Erwerbsfähigkeit - welche am allgemeinen Arbeitsmarkt zu messen ist
(ZAK 1983 S. 446 Erw. 1b) - zu bewirken vermöchte. So enthalten denn
auch weder die Parteivorbringen noch die Akten abklärungsbedürftige
Hinweise dafür, dass der Beschwerdeführer wegen des Fehlens von sechs
bleibenden hinteren Zähnen (5 4 + 4 5 und 5 - 5) erwerblich wesentlich
beeinträchtigt bzw. bei der Stellensuche benachteiligt wäre. Daraus folgt,
dass ein Anspruch gestützt auf Art. 12 IVG ebenfalls ausscheidet.

Erwägung 4

    4.- Aufgrund der Angaben im Bericht des Dr. N. vom 9.  Dezember 1991
stellt sich indes die auch vom BSV aufgeworfene Frage, ob die anbegehrten
Leistungen gestützt auf die von Rechtsprechung und Lehre anerkannte
Rechtsfigur der Austauschbefugnis (BGE 111 V 215 und 213 Erw. 2b; ZAK
1986 S. 527 Erw. 3a; nicht publizierte Urteile K. vom 5. August 1993 und
S. vom 22. März 1989; MEYER-BLASER, Zum Verhältnismässigkeitsgrundsatz
im staatlichen Leistungsrecht, Diss. Bern 1985, S. 87 ff.; vgl. auch
Art. 2 Abs. 5 HVI) zuzusprechen sind. Diese Voraussetzungen sind
im vorliegenden Fall nicht erfüllt, weil der Beschwerdeführer nach
dem vollendeten 20. Altersjahr keinerlei Anspruch auf medizinische
Massnahmen aus Geburtsgebrechen mehr hat (Erw. 2), so dass es an einem
substitutionsfähigen Rechtsanspruch im Sinne der vom BSV erwähnten
Rechtspraxis fehlt.