Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 120 V 182



120 V 182

26. Auszug aus dem Urteil vom 2. Mai 1994 i.S. Er. F., K. F.,
Erben der E. F. gegen Ausgleichskasse des Kantons Thurgau und
AHV/IV-Rekurskommission des Kantons Thurgau Regeste

    Art. 3 Abs. 1 lit. f ELG, Art. 17 ELV: Bewertung von
Verzichtsvermögen. Im Rahmen der Bewertung von Verzichtsvermögen ist
Art. 17 ELV in der seit 1. Januar 1992 geltenden Fassung im Sinne einer
unechten Rückwirkung auch auf Verzichtstatbestände anwendbar, welche sich
vor Inkrafttreten dieser Bestimmung verwirklicht haben (Erw. 4b).

    Art. 17 Abs. 4 ELV: Bewertung von Liegenschaften. Diese Bestimmung
gelangt nur zur Anwendung, wenn die dem Ansprecher gehörende Liegenschaft
nicht von ihm selber (oder einer anderen in die EL-Berechnung
miteinzubeziehenden Person) bewohnt wird (Erw. 4c).

    Art. 3 Abs. 1 lit. f ELG: Vermögensverzicht. Im Rahmen der Prüfung,
ob eine adäquate Gegenleistung vorliegt, sind als solche eingeräumte
Wohnrechte und Leibrenten nach den von der Eidg. Steuerverwaltung
herausgegebenen Tabellen zu kapitalisieren; Bestätigung der Rechtsprechung
(Erw. 4e).

    Art. 3 Abs. 1 lit. f ELG: Vermögensverzicht. Ein Vermögensverzicht im
Sinne dieser Bestimmung ist auch dann zu berücksichtigen, wenn er mehr
als fünf Jahre vor der Anmeldung zum EL-Bezug erfolgte. Soweit sich aus
Rz. 2064.1 der Wegleitung des BSV über die Ergänzungsleistungen zur AHV
und IV (WEL; in der ab 1. Januar 1990 gültigen Fassung) etwas Abweichendes
ergibt, erweist sich diese Verwaltungsweisung als gesetzwidrig (Erw. 4f).

Auszug aus den Erwägungen:

                     Aus den Erwägungen:

Erwägung 4

    4.- a) Laut Erbteilungsvertrag vom 29. November 1985 verzichtete
die Versicherte auf Zuteilung einer Liegenschaft; dafür wurde ihr ein
lebenslängliches unentgeltliches Wohnrecht eingeräumt und eine an den
Lebenskostenindex gebundene Leibrente von damals Fr. 500.-- pro Monat
zugesprochen. Da der Nachlass ihres verstorbenen Ehemannes nach der
Aktenlage und gemäss Teilungsvertrag einzig von den zur Verteilung
gelangenden Grundstücken gebildet wurde, verzichtete die Versicherte
mit dieser Vereinbarung effektiv auf ihren Erbteil von einem Viertel
der gesamten Hinterlassenschaft (Art. 462 Abs. 1 aZGB), und zwar ohne
dazu rechtlich verpflichtet gewesen zu sein. Folglich fragt sich,
ob Wohnrecht und Leibrente eine adäquate Gegenleistung darstellen. Um
dies beurteilen zu können, muss zunächst der Wert des der Versicherten
zustehenden Nachlassanteils ermittelt werden, was nach den allgemeinen
EL-rechtlichen Regeln über die Bewertung von Vermögen zu erfolgen hat.

    b) Ob die Versicherte auf Vermögen verzichtet hat, beurteilt
sich nach den relevanten Gegebenheiten im Zeitpunkt der Erbteilung
von November 1985 (vgl. BGE 113 V 192 Erw. 4c/aa mit Hinweis). Weil
jedoch Ergänzungsleistungen frühestens ab April 1992 streitig sind,
ist für die Bemessung der seinerzeit geteilten Vermögenswerte - im
Einklang mit dem Bundesamt für Sozialversicherung (BSV) - Art. 17 ELV in
der ab 1. Januar 1992 geltenden Fassung massgebend. Zwar wird damit an
einen Sachverhalt angeknüpft, welcher vor Inkrafttreten der revidierten
Verordnungsbestimmung eingetreten ist. Indessen dauert dieser Sachverhalt
insofern an, als sich unter der Herrschaft des neuen Rechts die Frage
der Bewertung dieses Verzichtsvermögens stellt. In diesem Sinne liegt
hier ein Anwendungsfall der sog. unechten Rückwirkung vor (vgl. dazu
BGE 114 V 151 Erw. 2, 113 V 299, 110 V 254 Erw. 3a, je mit Hinweisen
auf die Rechtsprechung und Lehre). In masslicher Hinsicht ist daher
von den Grundsätzen der Gesetzgebung über die direkte kantonale Steuer
auszugehen (Art. 17 Abs. 1 ELV). Dies unter Vorbehalt von Art. 17 Abs. 4
ELV, wonach Grundstücke zum Verkehrswert einzusetzen sind, wenn sie dem
Bezüger oder einer Person, die in der EL-Berechnung eingeschlossen ist,
nicht zu eigenen Wohnzwecken dienen.

    c) Soweit das BSV die letztgenannte Verordnungsbestimmung
dahingehend auslegt, dass "die Liegenschaft, in der der EL-Bezüger
wohnt, ihm gehören muss (seine eigene sein muss), um der Aufwertung
auf den Verkehrswert zu entgehen", und daraus folgert, es sei im
vorliegenden Fall Art. 17 Abs. 4 ELV anwendbar, weil die Liegenschaft
mit der Abtretung nicht mehr der Versicherten gehört habe, kann ihm nicht
gefolgt werden. Die Ergänzungsleistung entspricht der Differenz zwischen
der auf den Anspruchsberechtigten anwendbaren Einkommensgrenze und dessen
(niedrigerem) anrechenbaren Einkommen, zu dem auch ein Teil des Vermögens
(und/oder Verzichtsvermögens) hinzugerechnet wird (Art. 2 Abs. 1, Art. 3
und 5 Abs. 1 ELG). Aus dieser EL-rechtlichen Grundkonzeption ergibt sich,
dass es bei dem von Art. 17 ELV erfassten Vermögen von vornherein nur um
solches gehen kann, welches dem Ansprecher gehört. Der Begriff "eigen" in
Art. 17 Abs. 4 ELV kann daher nicht im Sinne von "Eigentum" am Grundstück
verstanden werden. Vielmehr bezieht er sich - als attributives Adjektiv -
auf das Nomen "Wohnzweck" und kann nur bedeuten, dass der Bezüger (oder
eine andere in die EL-Berechnung eingeschlossene Person) die Liegenschaft
selber bewohnt (nichts anderes folgt aus der französischen und der
italienischen Fassung der fraglichen Bestimmung). Demzufolge gelangt
Art. 17 Abs. 4 ELV nur zur Anwendung, wenn die dem Bezüger gehörende
Liegenschaft nicht von ihm selber (oder einer im Rahmen der EL-Berechnung
mitzuberücksichtigenden Person) bewohnt wird.

    d) Der streitigen Kassenverfügung wie auch der bundesamtlichen
Vernehmlassung liegt offenbar die Auffassung zugrunde, dass es sich bei
den im Teilungsvertrag angeführten Grundstückswerten um EL-rechtlich
relevante Wertangaben handelt. Dies trifft indessen nicht zu:
Der Vergleich zwischen den neuen Steuerwerten der Er. F. zugeteilten
Liegenschaften gemäss Mitteilung der Steuerverwaltung des Kantons Thurgau
vom 14. Februar 1986 mit den Wertangaben laut Teilungsvertrag ergibt ohne
weiteres, dass letztere keine kantonalen Schatzungswerte darstellen. Sie
beruhen offenbar - wie in solchen Fällen üblich - auf einer privaten
Verkehrswertschätzung. Hinsichtlich der Parzelle Nr. 144 (mit dem von
der Versicherten bis zum Eintritt ins Alters- und Pflegeheim bewohnten
Haus) lässt sich dies denn auch direkt dem Wortlaut des Teilungsvertrages
entnehmen. Für die Belange der Ergänzungsleistungen ist jedoch entweder
der Wert der kantonalen Schatzung oder der Verkehrswert nach Art. 17
Abs. 4 ELV (vgl. AHI 1993 S. 129) massgebend.

    Die vorliegenden Akten geben keine Auskunft über die Steuerwerte
der fraglichen Liegenschaften im Zeitpunkt der Erbteilung. Unter diesen
Umständen ist die Streitsache an die Ausgleichskasse zurückzuweisen,
damit diese den Wert des Nachlassanteils der Versicherten bei Abschluss
des Teilungsvertrages vom 29. November 1985 nach Massgabe von Art. 17
ELV ermittle.

    e) Steht dieser Wert fest, stellt sich anschliessend die Frage,
ob die Gegenleistung an die Versicherte als adäquat betrachtet
werden kann. Das ihr eingeräumte unentgeltliche Wohnrecht im Wert
von Fr. 4'800.-- pro Jahr (vgl. den Nachtrag auf der Steuererklärung
für die Veranlagungsperiode 1985/86) und die jährliche Leibrente von
Fr. 6'000.-- sind praxisgemäss nach den von der Eidg. Steuerverwaltung
herausgegebenen Tabellen zu kapitalisieren (nicht veröffentlichte Urteile
F. vom 28. Juli 1993, W. vom 23. März 1992, A. vom 6. März 1992 und D. vom
15. April 1991). Im Zeitpunkt der Erbteilung war die Versicherte 77 Jahre
alt. Der entsprechende Kapitalisierungsfaktor von 10,16 (1000: 98,44 =
10,16; vgl. die vorliegend anwendbare Tabelle gemäss Kreisschreiben der
Eidg. Steuerverwaltung vom 28. Oktober 1980, in: ASA 49 S. 238 ff.) führt
zum Barwert von Wohnrecht und Leibrente von insgesamt Fr. 109'728.--,
wie das BSV in seiner Vernehmlassung zutreffend festgestellt hat.

    Liegt dieser Betrag unter dem Wert des Nachlassanteils der
Versicherten, so ist die Differenz, vermindert um die bisherige
Amortisation nach Art. 17a ELV (BGE 119 V 436), als Verzichtsvermögen in
die EL-Berechnung miteinzubeziehen. Ferner ist ein hypothetischer Ertrag
auf diesem Vermögen als Einkommen zu berücksichtigen (BGE 110 V 22 Erw. 4;
ZAK 1985 S. 243 Erw. 2, 1984 S. 511 Erw. 4b). Was den anwendbaren Zinssatz
betrifft, ist nach der Rechtsprechung - vorbehältlich besonderer Umstände
im Einzelfall - auf die allgemeinen Bedingungen auf dem Kapitalmarkt
abzustellen, wobei in der Regel der Zins für Spareinlagen der fünf
grössten Kantonalbanken (laut dem Statistischen Jahrbuch der Schweiz)
heranzuziehen ist (BGE 110 V 24 Erw. 5b; ZAK 1988 S. 200 Erw. 6). Nachdem
das Statistische Jahrbuch nunmehr den Durchschnittszins für Spareinlagen
aller Banken enthält, ist auf diesen Zinssatz abzustellen. Aus praktischen
Erwägungen und Gründen der Rechtsgleichheit ist dabei in der Regel vom
durchschnittlichen Zins für Spareinlagen im Vorjahr des Bezugsjahres
auszugehen (AHI 1994 S. 158). Im vorliegenden Fall ist somit der
mittlere Zins für Spareinlagen im Jahre 1991 von 5,5% zu berücksichtigen
(Statistisches Jahrbuch der Schweiz 1994, S. 268, T 12.6). Dies entspricht
denn auch dem Zinssatz, welcher gemäss Akten im Jahre 1991 dem Sparheft
der Versicherten bei der Raiffeisenkasse Tägerwilen gutgeschrieben wurde.

    f) In der Verwaltungsgerichtsbeschwerde wurde - wie bereits in der
vorinstanzlich eingereichten Beschwerde - geltend gemacht, dass die
Söhne des Erblassers ihrer Mutter bis zur Erbteilung die Erträge aus
dem Erbschaftsvermögen überlassen hätten. Diesem Umstand kann jedoch
bei der Frage nach der Gegenleistung an die Versicherte nicht Rechnung
getragen werden, da er im Teilungsvertrag vom 29. November 1985 keinerlei
Erwähnung findet.

    Schliesslich lässt sich auch aus der Tatsache, dass die Erbteilung
bereits im genannten Zeitpunkt durchgeführt worden ist, nichts
zugunsten der Versicherten ableiten. Denn entgegen ihrem Einwand ist ein
Vermögensverzicht in EL-rechtlicher Hinsicht auch von Belang, wenn er mehr
als fünf Jahre vor der Anmeldung zum Leistungsbezug erfolgte. Soweit sich
aus Rz. 2064.1 der Wegleitung des BSV über die Ergänzungsleistungen zur
AHV und IV (in der ab 1. Januar 1990 gültigen Fassung) etwas Abweichendes
ergibt, widerspricht diese Verwaltungsweisung der Gesetzesvorschrift von
Art. 3 Abs. 1 lit. f ELG und ist mithin für den Sozialversicherungsrichter
unbeachtlich (BGE 118 V 131 Erw. 3a, 210 Erw. 4c, 117 V 284 Erw. 4c,
116 V 19 Erw. 3c, je mit Hinweisen).