Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 120 V 150



120 V 150

21. Auszug aus dem Urteil vom 24. März 1994 i.S. S. gegen Ausgleichskasse
der Schweizer Maschinenindustrie Regeste

    Art. 139a in Verbindung mit Art. 135 OG, Art. 38 in Verbindung mit
Art. 135 OG, Art. 132 in Verbindung mit Art. 114 Abs. 2 OG, Art. 41 IVG,
Art. 14 in Verbindung mit Art. 6 Ziff. 1 EMRK, Art. 50 EMRK. Das Eidg.
Versicherungsgericht hatte in einem IV-rechtlichen Revisionsverfahren den
Anspruch einer bisher an einer ganzen Invalidenrente Berechtigten nach
innerstaatlichem Recht mit der Ausfällung seines Urteils endgültig, d. h.
formell und materiell rechtskräftig zu deren Ungunsten beurteilt. Der
hierauf angerufene Europäische Gerichtshof für Menschenrechte erachtete
die Beweisbeibringung und -würdigung, die dem Urteil des Eidg.
Versicherungsgerichts zugrunde lag, als geschlechtsdiskriminierend und
damit konventionswidrig, weshalb er die Individualbeschwerde teilweise
guthiess.

    - Welche Auswirkungen hat ein solcher völkerrechtlicher Entscheid
auf das landesrechtlich rechtskräftige Urteil? (Erw. 2).

    - Wie gestaltet sich (landes- und völkerrechtlich betrachtet) der
im Nachgang an den Gerichtshofentscheid angehobene Revisionsprozess im
Sinne von Art. 139a OG? (Erw. 3).

Sachverhalt

    A.- a) Durch Verfügung vom 25. März 1980 war S. (geboren 1948)
rückwirkend ab 1. Mai 1978 in den Genuss einer ganzen Invalidenrente
gekommen. Nachdem diese Rente in zwei Revisionsverfahren am 10. Juni
1981 und 23. August 1984 bestätigt worden war, beauftragte die
damals zuständige kantonale Invalidenversicherungs-Kommission (IVK)
in einem erneuten Revisionsverfahren die Medizinische Abklärungsstelle
(MEDAS) mit einer stationären Abklärung des Gesundheitszustandes der
Versicherten. Aufgrund des MEDAS-Gutachtens vom 14. Januar 1986, welchem
der Konsiliarbericht des Dr. med. B., Spezialarzt FMH für Psychiatrie
und Psychotherapie, vom 24. Dezember 1985 beilag, gelangte die IVK zum
Schluss, S. sei in ihrer Eigenschaft als Hausfrau, welche Tätigkeit
sie seit der Geburt ihres Sohnes am 4. Mai 1984 ausübe, höchstens noch
zu 30% eingeschränkt. Demgemäss hob die Ausgleichskasse der Schweizer
Maschinenindustrie (vormals Ausgleichskasse der Schweizerischen Maschinen-
und Metallindustrie) die ganze Invalidenrente mit Verfügung vom 21.
März 1986 auf Ende April 1986 auf.

    b) Hiegegen liess S. Beschwerde an die Rekurskommission X für die
AHV/IV/EO führen mit dem Rechtsbegehren, es sei ihr, unter Aufhebung
der angefochtenen Verfügung, weiterhin eine ganze, eventuell eine halbe
Invalidenrente auszurichten. Mit Entscheid vom 8. Mai 1987, zugestellt
am 6. August 1987, wies die kantonale Rekurskommission die Beschwerde ab.

    c) Am 18. August 1987 wandte sich S. selber mit einem
Akteneditionsbegehren an das Eidg. Versicherungsgericht. ... Der
Antrag lautete auf Zusprechung einer vollen Invalidenrente, wobei
in prozessualer Hinsicht das vollumfängliche Akteneinsichtsrecht
verlangt wurde. Die Durchführungsstelle schloss auf Abweisung der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde, ebenso das Bundesamt für Sozialversicherung
(BSV).

    Am 23. November 1987 gewährte das Eidg. Versicherungsgericht
S. Akteneinsicht durch Auflegung ihres Dossiers bei der kantonalen
Rekurskommission. Die Versicherte übte ihr Recht am 30. November 1987
aus. Danach schaltete sich Fürsprecher R. ins Verfahren ein. Er ersuchte
um Fristerstreckung für die Einreichung einer Beschwerdeergänzung nach
vollzogener Akteneinsicht. Am 8. Januar 1988 teilte S. dem Gericht
mit, sie werde, nachdem sie Fürsprecher R. die Vollmacht entzogen
habe, die Ergänzung selber einreichen. Dem kam sie am 11. Januar 1988
nach. Nach Einholung einer zusätzlichen Stellungnahme der Verwaltung
ging das Eidg. Versicherungsgericht zur Beurteilung der Streitsache
über. Im Rahmen der Prüfung der veränderten Verhältnisse im massgebenden
Vergleichszeitraum (25. März 1980 bis 21. März 1986) kam es zum Schluss,
die Versicherte sei, anders als bei der Zusprechung der ganzen Rente,
invalidenversicherungsrechtlich als Hausfrau zu qualifizieren, ihr
Invaliditätsgrad somit nach der spezifischen Methode zu ermitteln. Das
Gericht liess sich hiebei vom Umstand leiten, dass die Versicherte
am 4. Mai 1984 ein Kind geboren hatte, welches der vollständigen
Pflege und Erziehung (durch die Mutter) bedürfe. Damit erübrige
sich eine Prüfung der Erwerbsunfähigkeit im angestammten Beruf als
Büroangestellte. Unter pulmologischen Aspekten (keine Reaktivierung
der 1975 erlittenen Lungentuberkulose) bezeichnete das Gericht die
Versicherte als uneingeschränkt arbeitsfähig, wobei es vorgängig die
Kritik an der Vollständigkeit der medizinisch-somatischen Unterlagen
zurückgewiesen hatte. ... Das Eidg. Versicherungsgericht hiess die
Beschwerde dispositivmässig teilweise gut, hob den Entscheid der kantonalen
Rekurskommission und die angefochtene Revisionsverfügung auf und stellte
fest, dass der Invaliditätsgrad ab 1. Mai 1986 einen Drittel betrage. Die
Sache wurde an die Ausgleichskasse der Schweizer Maschinenindustrie
zurückgewiesen, damit diese, nach erfolgter Abklärung im Sinne der
Erwägungen (Härtefall), neu verfüge (Urteil vom 21. Juni 1988).

    d) Mit Verfügung vom 17. Juli 1989 lehnte die Ausgleichskasse mangels
Vorliegens der wirtschaftlichen Voraussetzungen die Zusprechung einer
Härtefallrente ab. ...

    e) Die Versicherte rief, nunmehr vertreten durch Rechtsanwalt M., mit -
von der Europäischen Kommission für Menschenrechte als zulässig erklärter
- Individualbeschwerde den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte
(nachfolgend "Gerichtshof") an. Dieser fällte am 24. Juni 1993 folgendes
Urteil:

    "1. Dit, à l'unanimité, que l'article 6 § 1 s'appliquait en l'espèce;

    2. Rejette, à l'unanimité, les exceptions préliminaires du
Gouvernement;

    3. Dit, à l'unanimité, qu'elle n'a pas compétence pour connaître
du grief
   relatif à l'indépendance des experts médicaux;

    4. Dit, par huit voix contre une, qu'il n'y a pas eu violation de
   l'article 6 § 1;

    5. Dit, par huit voix contre une, qu'il y a eu violation de l'article
14
   combiné avec l'article 6 § 1;

    6. Dit, à l'unanimité, que le présent arrêt constitue par lui-même une
   satisfaction équitable suffisante quant au préjudice moral allégué;

    7. Dit en l'état, par huit voix contre une, que la Confédération doit
   verser à la requérante, dans les trois mois, 7500 (sept mille cinq
   cents) francs suisses pour frais et dépens;

    8. Dit, par huit voix contre une, que la question de l'application de
   l'article 50 ne se trouve pas en état pour le dommage matériel;

    en conséquence,

    a) la réserve sur ce point;

    b) invite le Gouvernement et la requérante à lui adresser par écrit,
   dans les six mois, leurs observations sur ladite question et notamment
   à lui donner connaissance de tout accord auquel ils pourraient aboutir;

    c) réserve la procédure ultérieure et délègue au président le soin de
   la fixer au besoin."

    B.- Wiederum vertreten durch Rechtsanwalt M. lässt S. am 1. November
1993 ein Revisionsgesuch einreichen mit folgenden Anträgen:

    1. Aufhebung des Urteils vom 21. Juni 1988.

    2. Feststellung, dass der Invaliditätsgrad ab 1. Mai 1986 weiterhin
100%,
   eventualiter 60% betrage.

    3. Zusprechung einer ganzen, eventualiter einer halben Invalidenrente
ab

    1. Mai 1986.

    ...

    Zum Revisionsgesuch holte das Eidg. Versicherungsgericht
Stellungnahmen der - seit dem 1. Juni 1992 neu zuständigen - Kantonalen
Invalidenversicherungsstelle und des Bundesamtes für Justiz ein, welche
dem Rechtsvertreter der Versicherten am 3. März 1994 zu Kenntnis- und
allfälliger Stellungnahme zugestellt wurden. Mit Replik vom 16. März 1994
hielt Rechtsanwalt M. die Revisionsbegehren vollumfänglich aufrecht. Ferner
wurde die Ausgleichskasse eingeladen, sich zu den prozessrechtlichen
Aspekten des Falls zu äussern.

    Auf die Rechtsschriften, insbesondere die Begründung der einzelnen
Revisionsanträge, wird, soweit erforderlich, in den Erwägungen eingegangen.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- a) Nach Art. 135 in Verbindung mit Art. 38 OG werden die
Entscheidungen des Eidg. Versicherungsgerichts mit der Ausfällung formell
und materiell rechtskräftig (POUDRET, Commentaire de la loi fédérale
d'organisation judiciaire, Bern 1990, N. 2 ff. zu Art. 38 OG). Dabei
bedeutet die materielle Rechtskraft, dass die (letztinstanzlich) definitiv
beurteilte Sache nicht wiederaufgenommen und zum Gegenstand eines neuen
Verfahrens gemacht werden kann, und zwar insbesondere nicht durch das
höchste Gericht selber (POUDRET, aaO, N. 4 zu Art. 38 OG).

    Der gesetzlich vorgesehene prozessuale Weg zur Überwindung dieser
negativen Wirkung eines formell und materiell rechtskräftigen Urteils
(ne bis in idem; vgl. HABSCHEID, Schweizerisches Zivilprozess- und
Gerichtsorganisationsrecht, 2. Aufl. Basel und Frankfurt a.M. 1990,
S. 277) ist das ausserordentliche Rechtsmittel der Revision, wie es für
die Bundesrechtspflege in Art. 136 ff. OG normiert ist.

    b) Aufgrund der Rechtslage, wie sie vor Inkrafttreten des Art. 139a
OG am 15. Februar 1992 bestand, bildete ein Urteil des Gerichtshofes,
welches eine gegen einen letztinstanzlichen innerstaatlichen Entscheid
gerichtete Individualbeschwerde aus der Feststellung einer begangenen
Konventionsverletzung heraus guthiess, keinen Revisionsgrund im
Sinne von Art. 136 ff. OG (VILLIGER, Handbuch der Europäischen
Menschenrechtskonvention [EMRK], Zürich 1993, S. 157, besonders Fn. 36
mit Hinweisen auf die Rechtsprechung). Da aber die Schweiz mit der
Ratifizierung der EMRK am 28. November 1974 (AS 1974 2151 ff.) die
Verpflichtung eingegangen war, sich nach den Entscheidungen eines
EMRK-Organs zu richten (Art. 32 Ziff. 4 und Art. 53 EMRK) und, falls der
Gerichtshof eine Konventionsverletzung feststellt, Wiedergutmachung zu
leisten, stellte sich die Frage, wie dieser völkerrechtlichen Verpflichtung
nachzukommen sei (Botschaft des Bundesrates vom 29. Mai 1985 betreffend die
Änderung des Bundesgesetzes über die Organisation der Bundesrechtspflege,
Separatausgabe, S. 125 unten f.; POLAKIEWICZ, Die Verpflichtungen der
Staaten aus den Urteilen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte,
Berlin, Heidelberg usw. 1993, S. 121 f.). Zu diesem Zweck wurde Art. 139a
OG in das Gesetz aufgenommen (vgl. auch Art. 66 Abs. 1 lit. b VwVG;
Art. 229 Ziff. 4 BStP), welcher unter der Marginalie "Verletzung der
Europäischen Menschenrechtskonvention" lautet:

    "1. Die Revision eines Entscheides des Bundesgerichts oder einer

    Vorinstanz ist zulässig, wenn der Europäische Gerichtshof für

    Menschenrechte (...) eine Individualbeschwerde wegen Verletzung der

    Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und

    Grundfreiheiten (EMRK) und deren Protokolle gutgeheissen hat und eine

    Wiedergutmachung nur durch Revision möglich ist.

    2. Stellt das Bundesgericht fest, dass die Revision geboten, aber eine

    Vorinstanz zuständig ist, so überweist es ihr die Sache zur
Durchführung
   des Revisionsverfahrens.

    3. Die kantonale Vorinstanz hat auch dann auf das Revisionsgesuch
   einzutreten, wenn das kantonale Recht diesen Revisionsgrund nicht
   vorsieht."

    Dazu hat der Bundesrat in der Botschaft (aaO, S. 126) ausgeführt:

    "Nun kann bei der Wiedergutmachung einer Konventionsverletzung eine
   geldwerte Entschädigung wirkungslos, möglicherweise sogar unangebracht
   sein. Dies wäre hauptsächlich der Fall, wenn ein kantonales Strafurteil,
   das rechtskräftig geworden ist und dessen Begründetheit nicht
   angezweifelt wird, mit einem Verfahrensmangel behaftet ist (so wenn
   beispielsweise das

    Gericht nicht rechtsmässig besetzt war). Verschiedene
Unterzeichnerstaaten
   der Europäischen Menschenrechtskonvention haben die Erfahrung gemacht,
   dass in solchen Fällen intern ein einziges befriedigendes Mittel zur

    Wiedergutmachung einer Konventionsverletzung gegeben ist, nämlich die

    Wiederaufnahme des Verfahrens.

    In diesem Sinne schlägt der Bundesrat vor, die Verfahrensgesetze des

    Bundes so zu ändern, dass in solchen Fällen ein abgeschlossenes
Verfahren
   wieder aufgenommen werden kann (...)."

    c) Die Gesuchstellerin hält die Voraussetzungen des Art. 139a
OG vorliegendenfalls für erfüllt: Der Gerichtshof habe ihre
Individualbeschwerde mit Urteil vom 24. Juni 1993 gutgeheissen
und festgestellt, dass das Urteil des Eidg. Versicherungsgerichts
vom 21. Juni 1988 eine Konventionsverletzung beinhalte. Die durch
dieses - rechtskräftig gewordene - Urteil angeordnete Überprüfung der
finanziellen Verhältnisse seitens der Verwaltung habe ergeben, dass
kein wirtschaftlicher Härtefall vorliege (Verfügung vom 17. Juli 1989),
so dass ihr die vorher ausgerichtete Invalidenrente ganz und endgültig
entzogen worden sei. Die Rechtskraftwirkung dieser Entscheide könne nur
auf dem Weg der Revision überwunden werden.

    d) Die Auffassung der Gesuchstellerin ist richtig. Im Hinblick auf
die Frage der Anwendung des Art. 50 EMRK, welcher dem Gerichtshof für den
Fall der unvollkommenen Wiedergutmachung nach innerstaatlichem Recht die
Kompetenz zur gerechten Entschädigung nach billigem Ermessen zugesteht
(FROWEIN/PEUKERT, EMRK-Kommentar, Kehl, Strassburg, Arlington 1985, N. 3
f. zu Art. 50), hatte dieser in bezug auf den hier allein zur Diskussion
stehenden materiellen Schaden den Hinweis der Regierung aufgenommen,
wonach es das schweizerische Recht seit dem 15. Februar 1992 dem
Betroffenen einer vom Gerichtshof festgestellten Konventionsverletzung
erlaube, die Wiederaufnahme des streitigen Verfahrens zu beantragen:
"Il estime donc que la question (der Entschädigung durch den Gerichtshof
selbst) ne se trouve pas en état." Dem schloss sich der Gerichtshof an:
"Tel est aussi l'avis de la Court. Partant, il y a lieu de réserver
ladite question et de fixer la procédure ultérieure, en tenant compte
de l'éventualité d'un accord entre l'état défendeur et la requérante
(article 54 §§ 1 et 4 du règlement)." Der Gerichtshof hat folglich die
Voraussetzungen für ein Vorgehen nach Art. 50 EMRK zumindest vorläufig
verneint, indem er im Sinne des Standpunktes der Regierung annahm, die
festgestellte Konventionsverletzung von Art. 14 in Verbindung mit Art. 6
Ziff. 1 EMRK (Geschlechtsdiskriminierung bei der Beibringung der Beweise)
könne auf dem Weg der Verfahrenswiederaufnahme nach innerstaatlichem
Recht Wiedergutmachung finden.

Erwägung 3

    3.- a) Aus dem Gesagten ergibt sich, dass der Revisionsgrund von
Art. 139a OG vorliegt (vgl. auch POUDRET, aaO, N. 2.3 zu Art. 139a). Es
stellt sich demnach die Frage, inwieweit der inkriminierte Entscheid
zur Wiedergutmachung aufgehoben werden muss; denn das Verfahren ist nur
so weit wieder aufzurollen, als der Revisionsgrund reicht (HABSCHEID,
aaO, S. 497; BEERLI-BONORAND, Die ausserordentlichen Rechtsmittel in der
Verwaltungsrechtspflege des Bundes und der Kantone, Diss. Zürich 1985,
S. 163 ff.). Das zu revidierende, formell und materiell rechtskräftige
Urteil des Eidg. Versicherungsgerichts vom 21. Juni 1988 griff verändernd
im Sinne von Art. 41 IVG in ein Dauerschuldverhältnis zwischen der
Invalidenversicherung und der Gesuchstellerin ein. Grundlage dieser
Änderung bildete die Tatsache, dass die Gesuchstellerin nicht mehr wie
früher als Erwerbstätige, sondern als Hausfrau beurteilt wurde. Die
Beweiserhebung und -würdigung wiederum, worauf diese Beurteilung
fusste, hielt der Gerichtshof für geschlechtsdiskriminierend und
also konventionswidrig. Damit ist der beanstandeten Beurteilung der
Boden entzogen. Soll der Weg zu einer materiellen Neubeurteilung des
Rechtsverhältnisses frei werden, muss deshalb das Urteil vom 21. Juni 1988,
wie mit dem ersten Revisionsantrag anbegehrt, als Ganzes aufgehoben werden
(Art. 144 Abs. 1 OG).

    b) Es fragt sich sodann, welche Instanz zur damit ermöglichten und
gebotenen materiellen Neubeurteilung zuständig ist. Das kann vorliegend
nur das Eidg. Versicherungsgericht sein; denn mit der revisionsweisen
Aufhebung des Urteils vom 21. Juni 1988 steht die gegen den kantonalen
Rekursentscheid erhobene Verwaltungsgerichtsbeschwerde der Gesuchstellerin
wieder unbehandelt im Raum. Über diese Verwaltungsgerichtsbeschwerde
hat das Eidg. Versicherungsgericht neu zu urteilen. Der wiedergegebene
Art. 139a Abs. 2 OG (vgl. Erw. 2a) ändert daran nichts, weil man bei der
gegebenen prozessualen Lage nicht sagen kann, es müsse wegen erfolgter
revisionsweiser Beseitigung des letztinstanzlichen Urteils gleichzeitig
auch das Verfahren der Vorinstanz neu aufgerollt werden (Botschaft, aaO,
S. 157 unten f.; vgl. auch POUDRET, aaO, N. 3 zu Art. 139a). Art. 139a
Abs. 2 OG ist daher keine Vorschrift über die Zuständigkeit zur materiellen
Neubeurteilung nach gutgeheissenem Revisionsgesuch, vielmehr eine
Zuständigkeitsvorschrift hinsichtlich der Durchführung des nach Abs. 1
gebotenen Revisionsverfahrens selber. An dieser Betrachtungsweise ändert
nichts, dass die Ausgleichskasse mit unangefochten gebliebener Verfügung
vom 17. Juli 1989 den Anspruch auf eine halbe Invalidenrente im Härtefall,
zufolge Fehlens der hiefür verlangten wirtschaftlichen Voraussetzungen,
formell rechtskräftig verneinte. Diese Verfügung verliert mit der
revisionsweisen Aufhebung des sie tragenden Rückweisungsurteils vom
21. Juni 1988 ihre Rechtsbeständigkeit (vgl. BGE 109 V 234).

    c) Da nunmehr feststeht, dass das Eidg. Versicherungsgericht - nach
Aufhebung des Urteils vom 21. Juni 1988 zufolge bejahten Revisionsgrundes
- selber zur materiellen Neubeurteilung zuständig ist, stellt sich die
Frage, gemäss welchen Regeln diese zu erfolgen hat. Wegleitend hiefür
sind einerseits die landesrechtlichen materiell- und verfahrensrechtlichen
Normen, anderseits die völkerrechtlichen Anforderungen gemäss EMRK, wie sie
durch das Dispositiv des Urteils des Gerichtshofs vom 24. Juni 1993 für die
Beurteilung der vorliegenden Sache verbindlich konkretisiert worden sind.

    aa) Gemäss Art. 132 in Verbindung mit Art. 114 Abs. 2 OG stehen
dem Eidg. Versicherungsgericht im Rahmen einer nach gutgeheissenem
Revisionsgesuch möglich gewordenen und gebotenen materiellen Neubeurteilung
drei prozessuale Erledigungsarten zu, nämlich die Gutheissung der
Anträge in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde, deren Abweisung und die
Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde in dem Sinne, dass die
Sache zur Aktenergänzung an die Verwaltung (oder an die kantonale
Gerichtsinstanz) zurückgewiesen wird, damit anschliessend über den
streitigen Rechtsanspruch (hier jener auf eine ganze/halbe Invalidenrente
ab 1. Mai 1986) erneut verfügt (oder entschieden) werde (BGE 117 V 241
Erw. 2a, nicht veröffentlichtes Urteil V. vom 24. Oktober 1990 Erw. 2b;
GRISEL, Traité de droit administratif, Neuenburg 1984, S. 935 unten f.;
GYGI, Bundesverwaltungsrechtspflege, 2. Aufl. Bern 1983, S. 319).

    bb) Der Anwendung einer dieser landesrechtlich vorgesehenen Arten der
Verfahrenserledigung steht das Völkerrecht nicht entgegen. Der Gerichtshof
stellt es den Konventionsstaaten in ständiger Rechtsprechung anheim,
wie sie verfahrensmässig auf eine festgestellte Konventionsverletzung
reagieren (vgl. POLAKIEWICZ, aaO, S. 97 ff. und 112 ff.; VILLIGER, aaO,
S. 149 f.). Indessen bleibt für das Revisionsverfahren das Dispositiv
des Urteilsspruchs vom 24. Juni 1993 beachtlich. Darin hat der Gerichtshof
entschieden (Ziff. 8 lit. a, b und c), dass Art. 50 EMRK hinsichtlich des
materiellen Schadens derzeit nicht zur Anwendung komme ("ne se trouve pas
en état"), weshalb folgerichtig ("en conséquence") angeordnet wurde, dass

    - der Gerichtshof bezüglich der Anwendung von Art. 50 EMRK einen

    Vorbehalt anbringt;

    - der Gerichtshof die Regierung und die Beschwerdeführerin einlädt, ihm
   innerhalb von sechs Monaten schriftlich ihre Bemerkungen zur Anwendung
   von

    Art. 50 EMRK mitzuteilen und ihm insbesondere Kenntnis zu geben
von jeder
   Übereinkunft, zu welcher sie gelangen könnten;

    - der Gerichtshof das spätere Verfahren vorbehält und dessen allfällige

    Einleitung ins Ermessen des Präsidenten stellt.

    Der Gerichtshof hat demnach das Verfahren ausgesetzt, um dem für die
Konventionsverletzung verantwortlichen Staat Gelegenheit zu geben, darauf
nach eigenem Landesrecht zu reagieren. Dabei unterliegt der Staat der
völkerrechtlichen Verpflichtung, für eine restitutio in integrum besorgt zu
sein, d.h. den Betroffenen ungeschmälert in diejenige Lage zu versetzen,
in welcher er sich ohne Konventionsverletzung befände (POLAKIEWICZ, aaO,
S. 97 f.). Nur hierauf richtet sich der Wiedergutmachungsanspruch der
Gesuchstellerin, vorliegend also auf die Beseitigung der festgestellten
geschlechtsdiskriminierenden Beweisbeibringung ("recevabilité des preuves",
"mode de présentation des moyens de preuve"), welche Art. 14 in Verbindung
mit Art. 6 Ziff. 1 EMRK verletzte. Demnach muss sich die materielle
Neubeurteilung, um der völkerrechtlichen Verpflichtung zu genügen, nach
der geschlechtsneutralen Beantwortung der beweisrechtlichen Frage richten,
ob die Gesuchstellerin im IV-rechtlichen Revisionsverfahren von 1986,
gleich wie im Zeitpunkt ihrer Berentung, als Erwerbstätige zu betrachten
sei oder ob gesicherte Änderungstatsachen im Sinne der Rechtsprechung zu
Art. 41 IVG dafür vorliegen, dass sie sich ohne Invalidität vor dem 1. Mai
1986 ganz oder teilweise einem anderen nicht erwerblichen Aufgabenbereich
zugewandt hätte.

Entscheid:

        Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

    In Gutheissung des Revisionsgesuches wird das Urteil des Eidg.
Versicherungsgerichts vom 21. Juni 1988 aufgehoben.