Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 120 V 145



120 V 145

20. Auszug aus dem Urteil vom 10. März 1994 i.S. Kantonales Amt für
Industrie, Gewerbe und Arbeit gegen G. und Verwaltungsgericht des Kantons
Bern Regeste

    Art. 14 Abs. 2 AVIG. Weder die Arbeitslosigkeit noch im Zusammenhang
mit einem Konkurs der früheren Arbeitgeberfirma erlittene Verluste eines
Ehegatten haben für den andern eine Befreiung von der Erfüllung der
Beitragszeit "aus ähnlichen Gründen" im Sinne von Art. 14 Abs. 2 AVIG
zur Folge.

Sachverhalt

    A.- Die 1951 geborene G. war seit 1984 als teilzeitbeschäftigte
Sekretärin beim Kanton Bern angestellt. Nachdem ihr Ehegatte seine Stelle
als Geschäftsleiter der Firma S. AG verloren hatte, versuchte sie zunächst,
eine zweite Halbtagesstelle zu finden. Als ihr dies nicht gelang, unterzog
sie sich ab 7. Mai 1992 der Stempelkontrolle und beanspruchte Taggelder
der Arbeitslosenversicherung. Mit Verfügung vom 24. Juli 1992 lehnte das
Amt für Industrie, Gewerbe und Arbeit des Kantons Bern (KIGA) ihr Begehren
indessen mit der Begründung ab, sie habe die Mindestbeitragszeit für ein
50% übersteigendes Arbeitspensum nicht erfüllt und auch die Voraussetzungen
für eine Befreiung von der Erfüllung der Beitragszeit seien nicht gegeben.

    B.- In Gutheissung der hiegegen erhobenen Beschwerde wies das
Verwaltungsgericht des Kantons Bern die Sache mit Entscheid vom
23. April 1993 an das KIGA zurück, damit es nach Prüfung der weiteren
Anspruchsvoraussetzungen über das Leistungsbegehren neu verfüge.

    C.- Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragt das KIGA die Aufhebung
des kantonalen Entscheids.

    G. schliesst sinngemäss auf Abweisung der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde, während das Bundesamt für Industrie,
Gewerbe und Arbeit (BIGA) dem Beschwerdeantrag beipflichtet.

    Auf die einzelnen Vorbringen in den Rechtsschriften wird, soweit
erforderlich, in den Erwägungen eingegangen.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- Eine der gesetzlichen Voraussetzungen für den Anspruch auf
Arbeitslosenentschädigung besteht darin, dass der Versicherte die
Beitragszeit erfüllt hat oder von der Erfüllung der Beitragszeit befreit
ist (Art. 8 Abs. 1 lit. e in Verbindung mit Art. 13 und 14 AVIG).

    a) Unbestrittenermassen hat die Versicherte innerhalb der zweijährigen
Rahmenfrist für die Beitragszeit (Art. 9 Abs. 1 und 3 AVIG) neben
ihrer Halbtagesstelle als Verwaltungsbeamtin des Kantons Bern keine
weitere beitragspflichtige Beschäftigung ausgeübt, weshalb für die von
ihr gesuchte zweite Halbtagesstelle die Beitragszeit nicht erfüllt ist
(Art. 13 Abs. 1 AVIG); auch liegen keine Gründe vor, welche eine Anrechnung
gewisser Zeitabschnitte trotz fehlenden Arbeitsverhältnisses zuliessen
(Art. 13 Abs. 2 AVIG).

    b) Fragen kann sich damit lediglich, ob die Leistungsansprecherin
im Sinne von Art. 14 AVIG als von der Erfüllung der Beitragszeit befreit
gelten kann.

    Ausser Betracht fallen dabei offensichtlich die in Abs. 1 dieser
Bestimmung aufgeführten Befreiungsgründe. Zu prüfen bleibt somit einzig
noch eine Befreiung aufgrund von Art. 14 Abs. 2 AVIG. Danach sind von
der Erfüllung der Beitragszeit Personen befreit, die wegen Trennung oder
Scheidung ihrer Ehe, wegen Invalidität oder Todes des Ehegatten oder aus
ähnlichen Gründen oder wegen Wegfalls einer Invalidenrente gezwungen sind,
eine unselbständige Erwerbstätigkeit aufzunehmen oder zu erweitern. Im
vorliegenden Fall stellt sich nur die Frage, ob die Beschwerdegegnerin aus
den in dieser Norm erwähnten "ähnlichen Gründen" einen Befreiungstatbestand
verwirklicht, sind doch die übrigen darin aufgeführten Befreiungsgründe
zweifellos nicht erfüllt. Bezüglich der dem unbestimmten Rechtsbegriff
"aus ähnlichen Gründen" nach Lehre und Rechtsprechung zukommenden
Bedeutung kann dabei auf die zutreffenden Ausführungen im kantonalen
Entscheid verwiesen werden (vgl. auch BGE 119 V 54 Erw. 3a mit Hinweis).

Erwägung 2

    2.- a) Zur Begründung ihres Standpunktes macht die Beschwerdegegnerin
geltend, ihr Ehemann sei seit Juli 1991 arbeitslos; zudem habe er
ausstehende Lohnforderungen gegenüber seiner früheren Arbeitgeberfirma für
die Monate Januar bis Juli 1991 im Konkurs eingeben müssen, das in diese
Unternehmung investierte Aktienkapital verloren und schliesslich noch eine
Bürgschaftsverpflichtung einlösen müssen; aufgrund der dadurch veränderten
finanziellen Situation der ehelichen Gemeinschaft sei sie gezwungen,
ihre eigene Erwerbstätigkeit auszuweiten, was einen "ähnlichen Grund"
im Sinne von Art. 14 Abs. 2 AVIG darstelle und deshalb eine Befreiung
von der Erfüllung der Beitragszeit bewirke.

    b) Das kantonale Gericht ging ebenfalls davon aus, dass die veränderten
wirtschaftlichen Verhältnisse infolge des Stellenverlusts des Ehemannes
der Beschwerdegegnerin und der weiteren damit verbundenen finanziellen
Nachteile eine Erweiterung der erwerblichen Tätigkeit der Versicherten
selbst aufdrängten; auch sei sie aufgrund des neuen Eherechts verpflichtet
gewesen, ihre ausserhäusliche Arbeit auszudehnen. Damit lag auch nach der
vorinstanzlichen Auffassung hinreichende Veranlassung für eine Befreiung
von der Erfüllung der Beitragszeit "aus ähnlichen Gründen" im Sinne von
Art. 14 Abs. 2 AVIG vor.

Erwägung 3

    3.- a) Das KIGA pflichtet dem kantonalen Gericht insoweit bei,
als die Beschwerdegegnerin unter den gegebenen Umständen aufgrund des
neuen Eherechts gehalten war und auch gerichtlich hätte verpflichtet
werden können, den Umfang ihrer Erwerbstätigkeit zu erhöhen. Es setzt
sich jedoch gegen die vorinstanzliche Folgerung zur Wehr, wonach dies für
eine Befreiung von der Erfüllung der Beitragszeit "aus ähnlichen Gründen"
nach Art. 14 Abs. 2 AVIG bereits genüge.

    Sicherlich gerechtfertigt erscheint die Forderung des KIGA,
dass die unter den Begriff "ähnliche Gründe" in Art. 14 Abs. 2 AVIG
fallenden Umstände den in derselben Bestimmung ausdrücklich erwähnten
Ereignissen "Trennung oder Scheidung der Ehe" und "Invalidität oder Tod
des Ehegatten" in Auswirkung und Tragweite zu entsprechen haben. Wenn das
beschwerdeführende Amt daraus schliesst, dass es sich um Vorkommnisse
handeln müsse, welche dazu führen, dass der Ehepartner, der bisher
allein oder überwiegend für den ehelichen Unterhalt aufgekommen ist,
dazu endgültig nicht mehr in der Lage oder bereit ist und sich der andere
Ehegatte deshalb gezwungen sieht, diese Rolle durch Aufnahme einer eigenen
oder Steigerung seiner bisherigen Erwerbstätigkeit zu übernehmen, lässt
sich dies nicht beanstanden. Tatsächlich muss für die Annahme eines
"ähnlichen Grundes" im Sinne von Art. 14 Abs. 2 AVIG verlangt werden,
dass der Ehegatte des Leistungsansprechers voraussichtlich dauernd oder
zumindest längerfristig nicht mehr bereit oder fähig sein wird, wie bisher
für die ehelichen Bedürfnisse zu sorgen.

    b) Solche Verhältnisse liegen im vorliegenden Fall nicht vor. Der
Ehemann der Beschwerdegegnerin ist zwar seit längerer Zeit arbeitslos
und hat offenbar auch erhebliche Schwierigkeiten auf der Suche nach
einer geeigneten neuen Stelle. Zur zumindest teilweisen Deckung des
dadurch bedingten Lohnausfalles stehen ihm jedoch bereits Ansprüche auf
Arbeitslosenentschädigung zu, womit der finanzielle Engpass einigermassen
überwunden werden kann. Insbesondere lässt sich aber - wie das KIGA
zu Recht einwendet - nicht sagen, dass er dauernd oder zumindest für
voraussichtlich sehr lange Zeit objektiv gar nicht in der Lage wäre,
eine Erwerbstätigkeit aufzunehmen und damit seinen Beitrag an die
ehelichen Lebenshaltungskosten zu leisten, wie dies bei den übrigen in
Art. 14 Abs. 2 AVIG aufgelisteten Beispielen der Fall ist. Daraus ergibt
sich aber, dass der Eintritt der Arbeitslosigkeit eines Ehegatten den in
Art. 14 Abs. 2 AVIG ausdrücklich genannten Beispielen nicht gleichgesetzt
werden kann und demnach nicht unter den in dieser Bestimmung enthaltenen
Begriff der "ähnlichen Gründe" fällt. Wie das KIGA zutreffend ausführt,
lässt sich gegen diese Betrachtungsweise auch nicht BGE 119 V 54 Erw. 3a
anführen, wo das Eidg. Versicherungsgericht für die Ehefrau eines in
Konkurs geratenen Unternehmers einen "ähnlichen Grund" im Sinne von
Art. 14 Abs. 2 AVIG angenommen hat. Anders als im vorliegenden Fall
erhielt der betroffene Ehegatte dort nämlich keinen Ausgleich in Form von
Arbeitslosenentschädigungen. An diesem Ergebnis ändert ferner auch nichts,
dass die durch den Konkurs der früheren Arbeitgeberfirma des Ehemannes der
Beschwerdegegnerin zusätzlich ausgelösten Verluste allenfalls trotz der
Leistungen der Arbeitslosenversicherung eine Weiterführung der bisherigen
Lebenshaltung nicht mehr zulassen. Wie in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde
und auch in der Vernehmlassung des BIGA richtig festgehalten wird,
hat die Arbeitslosenversicherung weder für solche auf die frühere
Risikobereitschaft des Ehepaares zurückzuführende noch für anderweitige,
nicht direkt durch das versicherte Risiko der Arbeitslosigkeit ausgelöste
finanzielle Schwierigkeiten einzustehen. Insbesondere ist festzuhalten,
dass es natürlich nicht angeht, einen Teil des beim Aufbau eines Betriebes
in Kauf genommenen Risikos auf die Arbeitslosenversicherung abzuwälzen und
diese Institution damit zweckfremden Bedürfnissen nutzbar zu machen. Gerade
dies würde indirekt aber erreicht, wollte man einem Leistungsansprecher
eine Befreiung von der Erfüllung der Beitragszeit zubilligen, wenn sein
arbeitslos gewordener Ehegatte infolge von früheren Investitionen in die
in Konkurs geratene Arbeitgeberfirma zu Verlust gekommen ist.

Entscheid:

        Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

    In Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird der Entscheid
des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern vom 23. April 1993 aufgehoben.