Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 120 IV 94



120 IV 94

17. Urteil des Kassationshofes vom 23. März 1994 i.S. W. gegen I.
(Nichtigkeitsbeschwerde) Regeste

    Art. 270 Abs. 1 BStP. Legitimation des Geschädigten zur eidgenössischen
Nichtigkeitsbeschwerde.

    Die Geschädigte, die gegen ein den Angeschuldigten vom Vorwurf des
Betrugs freisprechendes Urteil auf Grund kantonalen Rechts selbständig
appelliert hat, ist nicht legitimiert, das Appellationsurteil
mit eidgenössischer Nichtigkeitsbeschwerde anzufechten, wenn sie im
Appellationsverfahren, obwohl zumutbar, ihre Zivilforderung nicht geltend
gemacht hat.

Sachverhalt

    A.- I. übergab W. am Abend des 26. Juli 1991 einen sogenannten
WIR-Buchungsauftrag in Höhe von Fr. 3'000.-- und erhielt als Gegenleistung
einen Geldbetrag von Fr. 2'500.--. W. konnte diesen Auftrag mangels
Deckung nicht realisieren.

    B.- Der Gerichtspräsident von Olten-Gösgen sprach I. am 27. April
1992 vom Vorwurf des Betruges frei.

    Auf Appellation der Strafanzeigerin und Verletzten W. sprach auch
das Obergericht des Kantons Solothurn I. am 23. Juni 1993 vom Vorwurf
des Betruges frei.

    C.- W. erhebt eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag,
das Urteil des Obergerichts sei aufzuheben und I. in Anwendung von Art. 148
StGB angemessen zu bestrafen, eventuell sei die Sache zur Neubeurteilung
an die Vorinstanz zurückzuweisen.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- a) Nach Art. 270 Abs. 1 BStP (SR 312.0) in der Fassung gemäss
Bundesgesetz über die Hilfe an Opfer von Straftaten (OHG [SR 312.5]) vom
4. Oktober 1991, in Kraft seit 1. Januar 1993, steht die eidgenössische
Nichtigkeitsbeschwerde unter anderem der Geschädigten zu, wenn sie sich
bereits vorher am Verfahren beteiligt hat und soweit sich der Entscheid
auf die Beurteilung ihrer Zivilforderung auswirken kann. Diese Bestimmung
entspricht im wesentlichen Art. 8 Abs. 1 lit. c OHG, wonach das Opfer
im Sinne des OHG (Art. 2) den Gerichtsentscheid mit den gleichen
Rechtsmitteln anfechten kann wie der Beschuldigte, wenn es sich bereits
vorher am Verfahren beteiligt hat und soweit der Entscheid sich auf die
Beurteilung seiner Zivilansprüche auswirken kann. Der Strafantragsteller
und der Privatstrafkläger sind mithin, anders als nach dem alten Recht
(Art. 270 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 3 aBStP), nicht mehr schon in dieser
Eigenschaft zur eidgenössischen Nichtigkeitsbeschwerde legitimiert (BGE
120 IV 50 E. 3a).

    Die Legitimation zur eidgenössischen Nichtigkeitsbeschwerde bestimmt
sich vorliegend nach dem neuen Recht, da der angefochtene Entscheid
nach dem 1. Januar 1993, also unter der Herrschaft des neuen Rechts,
ausgefällt worden ist (BGE 120 IV 46 E. 1).

    aa) Das Opfer im Sinne des OHG ist zur eidgenössischen
Nichtigkeitsbeschwerde gegen ein den Angeschuldigten freisprechendes
Urteil nur unter der Voraussetzung legitimiert, dass es, soweit zumutbar,
im kantonalen Verfahren adhäsionsweise eine Zivilforderung geltend
gemacht hat. Gegen einen (gerichtlich bestätigten) Einstellungsbeschluss
kann es dagegen ungeachtet der Geltendmachung von Zivilforderungen im
Strafverfahren eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde erheben. Dies gilt in
gleicher Weise für die Geschädigte, die nicht Opfer im Sinne des OHG ist
(BGE 120 IV 51 E. 4).

    bb) Allerdings müssen die in Art. 8 Abs. 1 lit. c OHG respektive
Art. 270 Abs. 1 BStP ausdrücklich genannten und die sich aus diesen
Bestimmungen ergebenden Legitimationsvoraussetzungen nicht in jedem Fall
erfüllt sein. So kann das Opfer die Verletzung von Rechten, die ihm das
OHG einräumt (etwa die Verletzung des Rechts, einen Gerichtsentscheid
zu verlangen, wenn das Verfahren eingestellt wird, Art. 8 Abs. 1 lit. b
OHG), ungeachtet dieser Legitimationsvoraussetzungen mit eidgenössischer
Nichtigkeitsbeschwerde rügen. Sodann kann der Strafantragsteller
unabhängig von diesen Legitimationsvoraussetzungen einen Entscheid mit
eidgenössischer Nichtigkeitsbeschwerde anfechten, soweit es um Fragen
des Strafantragsrechts als solches geht (BGE 120 IV 57 E. 7).

    cc) Sodann ist der Privatstrafkläger ungeachtet der in Art. 8 Abs. 1
lit. c OHG respektive Art. 270 Abs. 1 BStP genannten Voraussetzungen
zur eidgenössischen Nichtigkeitsbeschwerde legitimiert, wenn andernfalls
mangels Beschwerdelegitimation der Anklagebehörden der Rechtsweg allzu
stark eingeschränkt wäre und das Bundesgericht daher nicht mehr ausreichend
für die einheitliche Anwendung des Bundesrechts sorgen könnte (BGE 120
IV 50 E. 3b).

    dd) Da die Auslegung von Art. 8 Abs. 1 lit. c OHG und von Art. 270
Abs. 1 BStP sowie die übergangsrechtlichen Fragen in verschiedener
Hinsicht einige Schwierigkeiten bereiten, tritt der Kassationshof im Sinne
einer übergangsrechtlichen Lösung einstweilen auf die eidgenössischen
Nichtigkeitsbeschwerden von Strafantragstellern und Privatstrafklägern, die
nach dem alten Recht dazu legitimiert waren, ein, wenn eine Zivilforderung
aus der eingeklagten strafbaren Handlung immerhin denkbar ist und der
angefochtene Entscheid sich auf deren Beurteilung auswirken kann (BGE
120 IV 58 E. 9).

    b) Im Lichte der vorstehenden Erwägungen ist im vorliegenden Fall
wie folgt zu entscheiden.

    Die Nichtigkeitsbeschwerde richtet sich gegen ein den Beschwerdegegner
freisprechendes Urteil. Betrug ist unter Vorbehalt von Art. 148 Abs. 3
StGB (betreffend Angehörige und Familiengenossen) ein Offizialdelikt. Die
in Art. 148 Abs. 3 StGB genannten Voraussetzungen sind vorliegend
nicht erfüllt. Zwar sind die Parteien miteinander bekannt, doch sind
sie nicht Angehörige bzw. Familiengenossen. Die Beschwerdeführerin
ist daher nicht Strafantragstellerin. Ihr stand allerdings nach dem
kantonalen Strafprozessrecht ein selbständiges Appellationsrecht zu, da
sie an der erstinstanzlichen Hauptverhandlung im Strafpunkt Parteirechte
ausgeübt hatte (siehe § 174 lit. b Ziff. 2 StPO/SO), doch war auch die
Staatsanwaltschaft zur Appellation befugt (§ 174 lit. c StPO/SO). Die
Beschwerdeführerin war daher auch nicht Privatstrafklägerin im Sinne
der bundesgerichtlichen Rechtsprechung zu Art. 270 Abs. 3 aBStP (siehe
BGE 110 IV 114 betr. den Kanton Solothurn). Sie war somit nach dem alten
Recht nicht zur eidgenössischen Nichtigkeitsbeschwerde legitimiert. Sie
hat sich zwar im Sinne von Art. 270 Abs. 1 BStP in der Fassung gemäss OHG
am kantonalen Verfahren "beteiligt", doch hat sie vor dem Obergericht,
anders als noch vor der ersten Instanz, nicht eine Zivilforderung aus
der angeblichen strafbaren Handlung adhäsionsweise geltend gemacht. Es
wäre ihr durchaus möglich und zumutbar gewesen, ihre Zivilforderung
aus dem angeblichen Betrug im Appellationsverfahren vor dem Obergericht
wiederum einzubringen. Zwar ist gemäss § 17 Abs. 1 Satz 2 StPO/SO bei
Freispruch des Beschuldigten die Beurteilung des Zivilanspruchs durch
den Strafrichter ausgeschlossen und konnte die erste Instanz daher,
da sie den Beschwerdegegner freisprach, die von der Beschwerdeführerin
adhäsionsweise geltend gemachte Zivilforderung von Fr. 3'000.-- nicht
beurteilen. Das hinderte die Beschwerdeführerin, die gestützt auf § 174
lit. b Ziff. 2 StPO/SO gegen den Freispruch appellierte, aber nicht, im
Appellationsverfahren vor dem Obergericht ihre Zivilforderung wiederum
geltend zu machen (vgl. § 179 StPO/SO). Denn mit der Appellation
im Strafpunkt wurden auch ihre zivilrechtlichen Ansprüche wieder
überprüfbar (ULRICH ISCH, Die Stellung des Geschädigten im solothurnischen
Strafprozess, Diss. Bern 1971, S. 110; ferner KLAUS JÜRGEN SEISER in:
HANS HEINER KÜHNE (Hrsg.), Opferrechte im Strafprozess, ein europäischer
Vergleich, 1988, S. 43; zur alten StPO/SO WALTER BRÜGGER, Die Rechtsmittel
der solothurnischen Strafprozessordnung, Diss. Zürich 1942, S. 40). Keiner
der vorgenannten Umstände, unter denen die Geschädigte ungeachtet der
in Art. 270 Abs. 1 BStP genannten Voraussetzungen (siehe vorne E. 1a/bb
und 1a/cc) bzw. unabhängig von der Geltendmachung von Zivilforderungen
im kantonalen Verfahren (siehe vorn E. 1a/dd) zur eidgenössischen
Nichtigkeitsbeschwerde gegen ein den Angeschuldigten freisprechendes
Urteil legitimiert ist, ist vorliegend erfüllt.

    Auf die Nichtigkeitsbeschwerde ist daher nicht einzutreten.