Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 120 IV 63



120 IV 63

12. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 19. Mai 1994 i.S.
Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau gegen K (Nichtigkeitsbeschwerde)
Regeste

    Art. 31 Abs. 1 und 3 SVG, Art. 3 Abs. 1 VRV; Telefonieren während
der Fahrt.

    Der Fahrzeugführer, der während der Fahrt telefoniert und dazu länger
als einen kurzen Augenblick das Telefongerät mit der einen Hand hält
oder es zwischen Kopf und Schulter einklemmt, nimmt eine Verrichtung vor,
welche die Fahrzeugbedienung in unzulässiger Weise erschwert (E. 2d).

Sachverhalt

    A.- K. wurde durch die Polizei am 18. Februar 1993 um 14.20 Uhr in
Baden am Steuer seines Personenwagens angehalten, weil er während der
Fahrt telefonierte und keine Sicherheitsgurten trug.

    Mit Strafbefehl des Bezirksamtes Baden vom 1. März 1993 wurde
K. daraufhin der ungenügenden Aufmerksamkeit im Strassenverkehr und des
Nichttragens der Sicherheitsgurten schuldig gesprochen und mit einer
Busse von Fr. 60.-- bestraft.

    Das Bezirksgericht Baden sprach K. mit Urteil vom 29. April 1993
vom Vorwurf der ungenügenden Aufmerksamkeit gemäss Art. 26 Abs. 1 SVG
(SR 741.01) und Art. 3 Abs. 1 VRV (SR 741.11) frei und büsste ihn mit
Fr. 20.-- wegen Nichttragens der Sicherheitsgurten gemäss Art. 3a Abs. 1
VRV in Verbindung mit Art. 96 VRV.

    Das Obergericht des Kantons Aargau, 2. Strafkammer, wies mit
Urteil vom 23. November 1993 eine dagegen erhobene Berufung der
Staatsanwaltschaft ab.

    Dagegen erhebt die Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau eidgenössische
Nichtigkeitsbeschwerde, mit der sie beantragt, das angefochtene Urteil
sei aufzuheben und die Sache zur Bestrafung des Beschwerdegegners wegen
ungenügender Aufmerksamkeit gemäss Art. 31 Abs. 1 SVG in Verbindung mit
Art. 3 Abs. 1 VRV und wegen Nichttragens der Sicherheitsgurten gemäss
Art. 3a Abs. 1 VRV sowie Art. 90 Ziff. 1 SVG und Art. 96 VRV an die
Vorinstanz zurückzuweisen.

    K. und das Obergericht des Kantons Aargau beantragen die Abweisung
der Beschwerde.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- a) Die Vorinstanz führte aus, der Beschwerdegegner habe einen
Telefonanruf erhalten, nachdem er die Kontrollstelle der Stadtpolizei
bereits passiert hatte, und sei anschliessend angehalten worden. Anzeichen
für eine Beeinträchtigung der Aufmerksamkeit hätten nicht bestanden;
der Beschwerdegegner verfüge über eine langjährige Fahrpraxis und
sein Personenwagen sei mit einem Automatikgetriebe ausgestattet. Auf
dem kontrollierten Strassenabschnitt sei um 14.20 Uhr nicht mit
überdurchschnittlichem Verkehr zu rechnen, und es handle sich nicht
um eine Strecke, die nebst der innerorts üblicherweise notwendigen eine
besonders erhöhte Konzentration des Lenkers erfordere. Unter den genannten
Umständen könne dem Beschwerdegegner kein Verstoss gegen Art. 31 Abs. 1
SVG und Art. 3 Abs. 1 VRV vorgeworfen werden.

    b) Die Beschwerdeführerin macht geltend, Art. 31 Abs. 1 SVG und
Art. 3 Abs. 1 VRV stellten abstrakte Gefährdungsdelikte dar. Das Bedienen
eines Autotelefons zur Entgegennahme eines Anrufs und das Halten des
Telefonhörers zum Führen eines Gesprächs seien Verrichtungen, welche die
Bedienung des Fahrzeugs erschwerten und damit gemäss Art. 3 Abs. 1 Satz
2 VRV verboten seien. Beim einhändigen Lenken könne in Extremsituationen
nicht mehr richtig reagiert werden, und auch die übrigen notwendigen
Manipulationen, wie etwa das Stellen des Blinkers, könnten nicht mehr
korrekt ausgeführt werden. Zudem nehme das Telefonieren einen mehr oder
weniger grossen Teil der Konzentration für sich in Anspruch, was einen
Verstoss gegen Art. 3 Abs. 1 Satz 1 VRV darstelle.

Erwägung 2

    2.- a) Gemäss Art. 31 Abs. 1 SVG hat der Führer sein Fahrzeug ständig
so zu beherrschen, dass er seinen Vorsichtspflichten nachkommen kann.
Er muss also jederzeit in der Lage sein, auf die jeweils erforderliche
Weise auf das Fahrzeug einzuwirken und auf jede Gefahr ohne Zeitverlust
zweckmässig zu reagieren (BGE 76 IV 53 E. 1). Er hat dafür zu sorgen, dass
er weder durch die Ladung oder Mitfahrende noch auf andere Weise behindert
wird (Art. 31 Abs. 3 SVG). Art. 3 Abs. 1 VRV konkretisiert dies wie folgt:

    "Der Fahrzeugführer muss seine Aufmerksamkeit der Strasse
   und dem Verkehr zuwenden. Er darf beim Fahren keine Verrichtung
   vornehmen, welche die Bedienung des Fahrzeugs erschwert. Er hat ferner
   dafür zu sorgen, dass seine Aufmerksamkeit weder durch

    Radio noch andere Tonwiedergabegeräte beeinträchtigt wird."

    Während das allgemeine Mass der Aufmerksamkeit, die der Fahrzeugführer
nach Art. 31 Abs. 1 SVG in Verbindung mit Art. 3 Abs. 1 VRV der Strasse
und dem Verkehr zuzuwenden hat, sich nach den gesamten Umständen richtet,
namentlich der Verkehrsdichte, den örtlichen Verhältnissen, der Zeit,
der Sicht und den voraussehbaren Gefahrenquellen (BGE 116 IV 230 E. 2,
103 IV 101 E. 2b), untersagt Art. 3 Abs. 1 Satz 2 VRV explizit jede die
Fahrzeugbedienung erschwerende Verrichtung, ebenso wie gemäss Art. 3
Abs. 3 VRV jedes Loslassen der Lenkvorrichtung verboten ist (in diesem
Sinne auch GIGER, Strassenverkehrsgesetz, 4. Aufl., S. 76). Gesetz und
Verordnung gehen mithin davon aus, dass bestimmte Verrichtungen an sich
die notwendige Beherrschung des Fahrzeugs beeinträchtigen und dadurch -
im Sinne eines Gefährdungsdelikts - stets zumindest eine abstrakte Gefahr
für die übrigen Verkehrsteilnehmer schaffen.

    b) Die Vorinstanz stellte verbindlich fest, dass der Beschwerdegegner
während der Fahrt telefonierte. Sie liess jedoch offen, ob er während
des Telefongesprächs den Hörer mit der Hand oder zwischen Kopf und
Schulter eingeklemmt hielt. Auf jeden Fall hätten keine Anzeichen für
eine Beeinträchtigung der Aufmerksamkeit bestanden.

    c) Art. 3 Abs. 1 Satz 1 VRV, welcher die Zuwendung der Aufmerksamkeit
dem Verkehr und der Strasse verlangt, ist nicht bereits dadurch verletzt,
dass der Fahrzeuglenker während der Fahrt ein Telefongespräch führt; ein
solches braucht die Konzentration nicht stärker zu beanspruchen als ein
Gespräch mit den Fahrzeuginsassen. Da Anzeichen für eine Beeinträchtigung
der Aufmerksamkeit nicht festgestellt und auch nicht ersichtlich sind,
hält der Freispruch vom Vorwurf der fehlenden Aufmerksamkeit vor dem
Bundesrecht stand.

    d) Hingegen ist näher zu prüfen, ob der Beschwerdegegner durch das
Halten des Telefonhörers eine Verrichtung vorgenommen hat, welche die
Bedienung des Fahrzeugs erschwerte (Art. 3 Abs. 1 Satz 2 VRV).

    Der Fahrzeuglenker muss das Lenkrad mindestens mit der einen Hand
halten (Art. 3 Abs. 3 VRV) und hat so die andere, wenn sie nicht zum Lenken
gebraucht wird, für Handgriffe wie die Betätigung der Warnsignale, der
Richtungsanzeiger, gegebenenfalls des Schalthebels, der Scheibenwischer,
des Lichtschalters und dergleichen zur Verfügung. Ob nun eine Verrichtung
das Lenken oder einen dieser Handgriffe erschwert oder verunmöglicht,
hängt grundsätzlich von der Art der Verrichtung, dem Fahrzeug und der
Verkehrssituation ab. Dauert eine solche Verrichtung nur sehr kurz und
muss dabei weder der Blick vom Verkehr abgewandt noch die Körperhaltung
geändert werden, so kann eine Erschwerung der Fahrzeugbedienung in der
Regel verneint werden. Ist die Verrichtung jedoch von längerer Dauer oder
erschwert sie in anderer Weise die nötigenfalls sofortige Verfügbarkeit
der sich nicht am Lenkrad befindlichen Hand, so ist die Fahrzeugbedienung
in unzulässiger Weise behindert.

    Da das Führen eines Telefongesprächs stets länger als einen kurzen
Augenblick dauert, erschwert ein solches - wenn es das Halten des
Telefonhörers oder -geräts mit der einen Hand erfordert - die Ausführung
der für die Erfüllung der Vorsichtspflichten unter entsprechenden Umständen
unerlässlichen Verrichtungen. Je nachdem mit welcher Hand das Gerät
gehalten werden muss, kann dann beispielsweise beim Abbiegen zumindest der
Richtungsanzeiger nicht gestellt und insbesondere bei einem überraschend
notwendig werdenden Ausweichmanöver das Lenkrad nicht rasch genug in der
erforderlichen Weise betätigt werden; am Strassenrand auftauchende Kinder
können nicht rechtzeitig mit einem Hupsignal gewarnt werden usw. Das Halten
eines Telefonhörers oder -geräts mit der einen Hand während der Fahrt,
wie dies dem Beschwerdegegner zur Last gelegt wird, ist aus diesem Grund
gemäss Art. 31 Abs. 1 und 3 SVG in Verbindung mit Art. 3 Abs. 1 Satz 2
VRV untersagt (vgl. auch den Entscheid des Verwaltungsgerichts Aargau
vom 15. Februar 1990, AGVE 1990 S. 159, wo die Frage allerdings noch
offengelassen wurde).

    e) Nicht anders verhält es sich, wenn der Beschwerdegegner sein Gerät,
wie er vor der ersten Instanz vorbrachte, zwischen der linken Schulter
und der linken Wange eingeklemmt hielt. Auch dadurch war er in der
Ausführung der erwähnten, für die Erfüllung der Vorsichtspflichten unter
entsprechenden Umständen unerlässlichen Verrichtungen beeinträchtigt. Die
linke Hand büsst durch das Einklemmen des Telefonhörers oder -geräts
zwischen Kopf und Schulter erheblich an Beweglichkeit ein; zudem ist das
Gesichtsfeld eingeschränkt. Insbesondere ist die freie Bewegung des Kopfes
für notwendige Seitenblicke oder die Beobachtung des Rückspiegels in mit
Art. 31 SVG nicht vereinbarer Weise behindert oder verunmöglicht. Ferner
besteht die Gefahr von Fehlreaktionen in der Bedienung des Fahrzeugs,
wenn der eingeklemmte Telefonhörer ungewollt abrutscht (vgl. auch das
Urteil des Obergerichts Zürich vom 26. April 1993, SJZ 89/1993, S. 251).

    Die Vorinstanz verletzte somit Bundesrecht, wenn sie eine Widerhandlung
gegen die angeführten Bestimmungen verneinte. Das angefochtene Urteil ist
deshalb aufzuheben und die Sache zur neuen Beurteilung an die Vorinstanz
zurückzuweisen.