Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 120 IV 6



120 IV 6

2. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 18. März
1994 i.S. A. gegen Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich
(Nichtigkeitsbeschwerde) Regeste

    Art. 71 Abs. 2 und Art. 187 Ziff. 1 StGB; Zusammenfassung mehrerer
strafbarer Handlungen zu einer verjährungsrechtlichen Einheit; sexuelle
Handlungen mit Kindern.

    Wer als Primarlehrer die sexuellen Handlungen mit den gleichen
Schülern nach deren Übertritt in die Oberstufe in derselben Art und Weise
weiterpflegt, handelt andauernd pflichtwidrig. Seine Straftaten bilden
eine verjährungsrechtliche Einheit (E. 2c/cc).

Sachverhalt

    A.- Der Primarlehrer A. nahm über Jahre hinweg mit vielen Kindern
im schulischen Bereich mehrfach sexuelle Handlungen vor, so auch mit dem
Mädchen F. und dem Knaben G.

    B.- Das Bezirksgericht Bülach verurteilte A. am 5. Mai 1992 nach
Art. 191 aStGB zu 6 1/2 Jahren Zuchthaus. Gegen dieses Urteil appellierten
der Verurteilte und die Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich. F. und
G. erhoben Anschlussappellation.

    Das Obergericht des Kantons Zürich bestrafte A. am 7. Mai 1993 wegen
mehrfacher sexueller Handlungen mit Kindern gemäss Art. 187 Ziff. 1 StGB
mit 5 1/2 Jahren Zuchthaus, ordnete eine vollzugsbegleitende ambulante
Massnahme nach Art. 43 Ziff. 1 Abs. 1 StGB an und untersagte ihm, während 5
Jahren den Lehrerberuf auszuüben sowie Mitglied einer Behörde oder Beamter
zu sein. Es verpflichtete ihn, F. und G. Fr. 20'000.-- bzw. Fr. 16'000.--
Genugtuung und Fr. 19'500.-- bzw. Fr. 1'100.-- Schadenersatz zu bezahlen
sowie für die weiteren Therapiekosten aufzukommen.

    C.- A. führt dagegen eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde und
beantragt sinngemäss, den angefochtenen Entscheid aufzuheben und die
Sache zur Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen.

    D.- Das Kassationsgericht des Kantons Zürich trat am 8. Oktober 1993
auf eine Beschwerde von A. nicht ein.

    Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab, soweit es darauf eintritt.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- a) Gemäss den Ausführungen der Vorinstanz sind die Taten vor dem
7. November 1985 grundsätzlich (Art. 187 Ziff. 5 StGB) verjährt. Doch habe
sich der Beschwerdeführer (geb. 1943) gegen das Mädchen F. (geb. 1971)
und den Knaben G. (geb. 1972) während der fünften und sechsten Klasse
(1983/84 und 1984/85) in dichter Folge intensivst vergangen und dies in
zahlreichen Fällen nach deren Übertritt in die Oberstufe nahtlos bis 1987
bzw. 1988 fortgesetzt, und zwar weiterhin im schulischen Milieu und in den
Klassenlagern. Er habe durch raffiniertes und sehr subtiles Vorgehen in
Ausnützung seiner Stellung als Lehrer und Vertrauter den Widerstand der
Kinder gebrochen und anschliessend ihr Vertrauen in der Schule dauernd
missbraucht. Dadurch, dass die Kinder am Ende der sechsten Primarklasse
(Frühling 1985) seine Klasse verlassen hätten, sei sein anhaltendes
pflichtwidriges Verhalten nicht unterbrochen worden. Der Beschwerdeführer
habe die sehr intensiven intimen Beziehungen aktiv weitergepflegt. Die
Straftaten seien daher gemäss Art. 71 Abs. 2 StGB nicht verjährt.

    b) Der Beschwerdeführer macht für die Delikte der Primarschulzeit
Verjährung geltend. Rechtsgut im Sinne des insoweit zu berücksichtigenden
qualifizierten Tatbestands von Art. 191 Ziff. 1 Abs. 2 aStGB sei
nicht nur die sexuelle Integrität von Kindern, sondern ebenso das
unbelastete Verhältnis zwischen Lehrern und Schülern. Die Kontakte
während der Oberstufe seien ausserhalb eines Lehrer-Schüler-Verhältnisses
erfolgt. Daher sei nicht ein gleichartiges Rechtsgut betroffen. Zwischen
den Taten der Primarschulzeit und jenen der Oberstufe liege eine klare
Zäsur, keine nahtlose Fortsetzung. Mithin bestehe keine andauernde
Pflichtverletzung.

Erwägung 2

    2.- Wer mit einem Kind unter 16 Jahren eine sexuelle Handlung vornimmt,
es zu einer solchen Handlung verleitet oder es in eine sexuelle Handlung
einbezieht, wird mit Zuchthaus bis zu fünf Jahren oder mit Gefängnis
bestraft. Die Verjährung tritt in fünf Jahren ein (Art. 187 Ziff. 1 und
5 StGB).

    a) Die Vorinstanz beurteilte die Sache zu Recht aufgrund dieser neuen
und milderen Strafnorm und ihrer Verjährungsordnung (Art. 2 Abs. 2 und
Art. 337 StGB). Nach Art. 72 Ziff. 2 Abs. 2 StGB ist die Strafverfolgung
in jedem Fall verjährt, wenn die ordentliche Verjährungsfrist um die
Hälfte überschritten ist. Die (absolute) Verfolgungsverjährung einer
Straftat nach Art. 187 StGB tritt somit nach 7 1/2 Jahren ein. Gemäss
Art. 71 StGB beginnt die Verjährung mit dem Tag, an dem der Täter die
strafbare Tätigkeit ausführt (Abs. 1); wenn er die strafbare Tätigkeit zu
verschiedenen Zeiten ausführt, mit dem Tag, an dem er die letzte Tätigkeit
ausführt (Abs. 2); wenn das strafbare Verhalten dauert, mit dem Tag,
an dem dieses Verhalten aufhört (Abs. 3). Die Vorinstanz stützt sich auf
Abs. 2 dieser Bestimmung.

    b) Das Bundesgericht verzichtete in BGE 117 IV 408 auf die Rechtsfigur
des fortgesetzten Delikts. Ob und unter welchen Bedingungen eine Mehrzahl
strafbarer Handlungen jeweils zu einer entsprechenden rechtlichen Einheit
zusammenzufassen ist, ist in den Sachbereichen, in denen das fortgesetzte
Delikt bisher Anwendung gefunden hat, gesondert zu beurteilen. Verschiedene
strafbare Handlungen sind gemäss Art. 71 Abs. 2 StGB dann als eine
Einheit (bei der die Verjährung für sämtliche Teilhandlungen erst
mit der letzten Teilhandlung zu laufen beginnt) anzusehen, wenn sie
gleichartig und gegen dasselbe Rechtsgut gerichtet sind und - ohne
dass bereits ein eigentliches Dauerdelikt gegeben ist (Art. 71 Abs. 3
StGB) - ein andauerndes pflichtwidriges Verhalten bilden, das der in
Frage stehende gesetzliche Straftatbestand ausdrücklich oder sinngemäss
mitumfasst. Unter welchen genauen Voraussetzungen dies der Fall ist, kann
nicht abschliessend in einer abstrakten Formel umschrieben werden (BGE 119
IV 73 E. 2b). Das Bundesgericht bejahte die Verbindung mehrerer strafbarer
Einzelhandlungen zu einer verjährungsrechtlichen Einheit bei der ungetreuen
Geschäftsführung (BGE 117 IV 408), hinsichtlich der Strafantragsfrist
bei fortwährender Vernachlässigung von Unterhaltspflichten (BGE 118 IV
325) und bei gewohnheitsmässiger Widerhandlung gegen das Zollgesetz (BGE
119 IV 73). Demgegenüber verneinte es eine verjährungsrechtliche Einheit
bei der Annahme von Geschenken (BGE 118 IV 309) sowie bei übler Nachrede
(BGE 119 IV 199).

    c) Massgebend für eine Zusammenfassung zu einer verjährungsrechtlichen
Einheit (Art. 71 Abs. 2 StGB) in einem konkreten Fall ist demnach, dass
die Delikte gleichartig sind, sich gegen dasselbe Rechtsgut richten und
auf einem andauernden pflichtwidrigen Verhalten beruhen, das die anwendbare
Strafnorm ihrem Gehalt nach mitumfasst.

    aa) Die sexuellen Handlungen mit den Kindern waren gleichartig. Sie
richteten sich gegen dasselbe Rechtsgut. Rechtsgut ist zunächst die
Freiheit der sexuellen Selbstbestimmung bzw. der Schutz vor sexueller
Nötigung (Art. 189 StGB). Bei Art. 187 StGB tritt zusätzlich der
Jugendschutz in den Vordergrund, nämlich der Schutz der ungestörten
sexuellen Entwicklung Unmündiger, die besonders gefährdet erscheint,
wenn Kinder und Jugendliche zu anderen als altersspezifischen Formen
sexueller Betätigung veranlasst werden (STRATENWERTH, Schweizerisches
Strafrecht, Bes. Teil I, 4. Auflage, S. 135 f.). Jugendschutz und
Selbstbestimmung sind Ausformungen desselben Persönlichkeitsrechts auf
sexuelle Integrität. Art. 187 StGB setzt eine absolute Altersgrenze,
weshalb allfälliges Einwilligen eines Kindes in sexuelle Handlungen
unerheblich ist.

    bb) Der qualifizierte Tatbestand des Art. 191 Ziff. 1 Abs. 2 aStGB
sah bei Abhängigkeitsverhältnissen mindestens zwei Jahre Zuchthaus
vor. Art. 187 Ziff. 1 StGB enthält dieses Tatbestandsmerkmal nicht mehr,
ohne indessen den strafrechtlichen Schutz der Kinder vor sexueller
Ausbeutung durch Erwachsene zu relativieren. Es bedurfte dazu nicht
eines auf ein Abhängigkeitsverhältnis hinweisenden Tatbestandsmerkmals,
da Kinder durchwegs abhängig sind. Diese Abhängigkeit findet sich
ausgeprägt im Schulwesen. Insbesondere der Primarlehrer trägt hier
in einer entwicklungspsychologisch bedeutsamen Lebensphase aufgrund
seines erzieherischen Auftrags und seiner Vertrauensstellung erhöhte
Verantwortung.

    cc) Der Beschwerdeführer wendet im wesentlichen ein, sein Verhalten
sei nicht andauernd pflichtwidrig gewesen. Soweit er dazu vorbringt,
er hätte an unterschiedlichen Orten und zu verschiedenen Zeiten
delinquiert und den Tatentschluss immer wieder neu gefasst, richtet er
sich gegen die tatsächlichen Feststellungen der Vorinstanz, worauf nicht
einzutreten ist (Art. 273 Abs. 1 lit. b BStP). Wie die Vorinstanz für
das Bundesgericht bindend (Art. 277bis BStP; SR 312.0) feststellt, beging
der Beschwerdeführer die Straftaten auch nach dem Übertritt der Kinder in
die Oberstufe weiterhin im schulischen Milieu und in den Klassenlagern.
Zwischen den Handlungen während der Primarschule und jenen im Verlaufe
der Oberstufe liegt der bloss äusserliche Unterschied, dass F. und
G. nicht mehr Schüler einer von ihm unterrichteten Klasse waren. Im
schulischen Bereich und in den Klassenlagern amtete er gleichwohl als
Lehrer. Die verbotenen Sexualbeziehungen hatte der Beschwerdeführer
durch raffiniertes und subtiles Vorgehen gerade in Ausnützung seiner
Stellung als Lehrer und Vertrauter der Kinder aufgebaut. Er pflegte nach
dem Übertritt der Geschädigten in die Oberstufe dieselben Beziehungen
in derselben Art und Weise weiter. Die Grundlage dazu bildeten das
Macht- und Autoritätsgefälle der Primarschule und die in dieser Zeit
gefestigte persönliche Abhängigkeit. Zu Recht bewertet die Vorinstanz die
unveränderten sexuellen Übergriffe als nahtlose Fortsetzung des strafbaren
Verhaltens während der Primarschulzeit, weil der Beschwerdeführer die
pädosexuellen Beziehungen zielgerichtet ausbaute und über Jahre hinweg
aufrechterhielt. Sein Handeln war somit auf Dauer angelegt. Die Übergriffe
erscheinen nicht als abgelöste Einzelakte, sondern als eine Abfolge
strafbaren Verhaltens, dessen einzelne Akte in ein Beziehungsgeflecht
eingebettet waren, das der Beschwerdeführer dank seiner Lehrerposition
weiterentwickeln und für seine Interessen ausnützen konnte. Damit hat
der Beschwerdeführer in einem grundsätzlich unveränderten funktionellen
und örtlichen Rahmen (Lehrer-Schüler-Verhältnis im schulischen Bereich)
delinquiert. Ein derartiger Zusammenhang ist unter den Umständen des
vorliegenden Falles verjährungsrechtlich als Einheit zu betrachten.

    Die Vorinstanz nimmt somit zu Recht eine verjährungsrechtliche Einheit
im Sinne von Art. 71 Abs. 2 StGB an. Die Delikte vor dem 7. November 1985
sind daher nicht verjährt. Der Schuldspruch für sämtliche Delikte gegen
F. und G. verletzt kein Bundesrecht.