Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 120 IV 342



120 IV 342

57. Auszug aus dem Urteil der Anklagekammer vom 13. Oktober 1994 i.S. K.
gegen Schweizerische Bundesanwaltschaft Regeste

    Art. 51 Abs. 2, Art. 52 Abs. 2 und Art. 105bis BStP.  Haftbeschwerde;
Kognition.

    Die Verweigerung der Akteneinsicht sowie die Nichtzulassung des
Verteidigers bei der Einvernahme des Beschuldigten unterliegen nicht der
Beschwerde gemäss Art. 105bis Abs. 2 BStP (E. 1).

    Beschwerden gegen die Abweisung von Haftentlassungsgesuchen durch
die Bundesanwaltschaft überprüft die Anklagekammer mit voller Kognition
(E. 2; Praxisänderung).

    Bereits die im gerichtspolizeilichen Ermittlungsverfahren
ausschliesslich wegen Kollusionsgefahr angeordnete Untersuchungshaft darf
nur mit Bewilligung der Anklagekammer länger als 14 Tage aufrechterhalten
werden (E. 3; Praxisänderung).

Sachverhalt

    A.- Gestützt auf eine Anzeige der Eidgenössischen Finanzkontrolle
eröffnete die Bundesanwaltschaft am 11. August 1994 ein
gerichtspolizeiliches Ermittlungsverfahren gegen die deutschen
Staatsangehörigen K. und Dr. S. wegen Verdachts der ungetreuen
Geschäftsführung, der aktiven und passiven Bestechung oder der Annahme
von Geschenken, der Urkundenfälschung und des Betruges.

    B.- Am 30. August 1994 verfügte die Bundesanwältin die Verhaftung
von K. und Dr. S. wegen Verdunkelungs- und Fluchtgefahr.

    Mit begründeter Verfügung vom 31. August 1994 versetzte der eidg.
Untersuchungsrichter als Haftrichter K. in Untersuchungshaft. Er erachtete
den dringenden Tatverdacht sowie die Kollusionsgefahr als gegeben;
grundsätzlich offengelassen wurde der von der Bundesanwaltschaft ebenfalls
geltend gemachte Haftgrund der Fluchtgefahr.

    C.- Mit Eingaben vom 8./9. September 1994 ersuchte der Beschuldigte
K. die Bundesanwältin um sofortige Entlassung aus der Untersuchungshaft.

    Mit Verfügung vom 15. September 1994 wies die Bundesanwältin das
Haftentlassungsgesuch ab.

    D.- Mit Beschwerde vom 19. September 1994 beantragt K. der
Anklagekammer des Bundesgerichts zur Hauptsache, die Verfügung der
Bundesanwaltschaft vom 15. September 1994 aufzuheben und ihn sofort aus
der Haft zu entlassen.

    Die Bundesanwaltschaft beantragt, die Beschwerde abzuweisen.

    In seiner Stellungnahme vom 29. September 1994 hält der
Beschwerdeführer an seinen Anträgen fest.

Auszug aus den Erwägungen:

                     Aus den Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- a) Soweit der Beschwerdeführer die teilweise Verweigerung der
Akteneinsicht sowie die Nichtzulassung der anwaltlichen Vertretung bei
seinen Einvernahmen rügt, ist auf die Beschwerde nicht einzutreten,
da der Beschwerde an die Anklagekammer nur Zwangsmassnahmen bzw. damit
zusammenhängende Amtshandlungen des Bundesanwalts unterliegen (Art. 105bis
BStP).

    b) Da der Bundesanwalt im übrigen der Aufsicht des Bundesrates
untersteht, ist gegen seine Handlungen und Unterlassungen im Rahmen der
Ermittlungen der gerichtlichen Polizei ausserhalb des Anwendungsbereiches
von Art. 105bis BStP nur die Aufsichtsbeschwerde an das Eidg. Justiz-
und Polizeidepartement oder den Bundesrat gegeben (Art. 14 Abs. 1
und Art. 17 Abs. 1 BStP; BGE 109 IV 58 E. 1; HANSJÖRG STADLER,
Bemerkungen zur Teilrevision vom 1. Juli 1993 des Bundesgesetzes über die
Bundesstrafrechtspflege [BStP] im Zusammenhang mit dem eidgenössischen
Datenschutzgesetz [DSG], ZStrR 112 [1994] 296).

    Die Beschwerde wird diesbezüglich im Einverständnis mit den Parteien
dem Eidg. Justiz- und Polizeidepartement überwiesen.

Erwägung 2

    2.- a) Der Beschwerdeführer macht zunächst geltend, die Anklagekammer
des Bundesgerichts habe die vorliegende Beschwerde "angesichts
der Europäischen Menschenrechtskonvention" mit voller Kognition zu
prüfen. In diesem Zusammenhang rügt er eine Verletzung von Art. 5
Ziffer 4 EMRK, nach welcher Bestimmung der Verhaftete das Recht hat,
ein Verfahren zu beantragen, in welchem von einem Gericht raschmöglichst
über die Rechtmässigkeit der Haft entschieden wird und im Falle der
Widerrechtlichkeit seine Entlassung angeordnet wird.

    b) Mit dem Inkrafttreten des Bundesgesetzes über das
Verwaltungsstrafrecht am 1. Januar 1975 wurde Art. 52 Abs. 2
BStP geändert. Die Änderung wurde damit begründet, dass der
verhaftete Beschuldigte gemäss Art. 5 Ziff. 4 EMRK bereits während des
gerichtspolizeilichen Ermittlungsverfahrens die Möglichkeit haben sollte,
gegen die Abweisung eines Haftentlassungsgesuches an eine gerichtliche
Behörde zu gelangen; auch gegen die Abweisung eines Haftentlassungsgesuches
durch den Bundesanwalt könne daher bei der Anklagekammer des Bundesgerichts
Beschwerde geführt werden. Gleichzeitig wurde (in Art. 52 Abs. 2 zweiter
Satz BStP) bestimmt, dass bei Haftbeschwerden gegen den Bundesanwalt die
Verfahrensvorschriften der Art. 215 - 219 sinngemäss gelten (BBl 1971 I
1017 und 1062). Entsprechend der bis dahin geübten Praxis der Anklagekammer
bei Beschwerden gegen die Abweisung von Haftentlassungsgesuchen durch
den eidgenössischen Untersuchungsrichter konnte damit die Beschwerde
gegen die Abweisung der Haftentlassung durch den Bundesanwalt auch nur
dann gutgeheissen werden, wenn dieser das Gesetz verletzt oder das ihm
eingeräumte Ermessen offensichtlich überschritten hatte (BGE 96 IV 139
E. 2).

    c) Mit der Änderung vom 19. Juni 1992 wurde Art. 52 Abs. 2 zweiter
Satz BStP aufgehoben und in Abs. 3 des neuen Art. 105bis BStP aufgenommen,
in welchem Artikel die Beschwerdemöglichkeiten gegen Zwangsmassnahmen
insgesamt geregelt werden (BBl 1988 II 500 und 505, 190 III 1230 und
1235). Die damit erfolgte Ausweitung des Beschwerderechts auf alle
Zwangsmassnahmen und damit zusammenhängende Amtshandlungen bedeutete
jedoch nach der ausdrücklichen Absicht des Gesetzgebers nicht, dass die
Anklagekammer in das untersuchungsrichterliche Ermessen eingreifen oder
jede Untersuchungshandlung auf ihre Angemessenheit prüfen solle; eine
Änderung der geltenden Praxis der Anklagekammer (es wird in der Botschaft
dazu verwiesen auf BGE 96 IV 141 und 95 IV 47) sei nicht beabsichtigt
(BBl 1988 II 505 und 1990 III 1235).

    d) An der bisherigen Rechtsprechung kann indessen - soweit sie
Beschwerden gegen die Abweisung von Haftentlassungsgesuchen durch die
Bundesanwaltschaft betrifft - nicht länger festgehalten werden. Denn
bereits in BGE 115 Ia 293 hat das Bundesgericht in bezug auf Art. 5 Ziff. 4
EMRK und Art. 4 BV festgehalten, dass Art. 4 BV dem Beschuldigten zwar
nicht das Recht zubillige, vor jeder Hafterstreckung angehört zu werden,
ihm aber dennoch Gewähr dafür biete, gegen den Hafterstreckungsentscheid
bei einer mit voller Kognition ausgestatteten richterlichen Behörde
Einsprache erheben und seine Gründe und Einwendungen vorbringen zu können;
diese Mindestgarantie entspreche im übrigen dem Recht, einen Rekurs
an ein Gericht zu erheben, damit es sich zur Rechtmässigkeit der Haft
äussere (E. 5b). Dasselbe muss auch für die dem Hafterstreckungsentscheid
gleichzusetzende Abweisung eines Haftentlassungsgesuches gelten.

Erwägung 3

    3.- a) Der Beschwerdeführer bringt vor, die Frist gemäss Art.  51
Abs. 2 BStP - wonach eine wegen Kollusionsgefahr verfügte Untersuchungshaft
nur mit Zustimmung der Anklagekammer länger als 14 Tage aufrechterhalten
werden darf - sei umgangen worden; denn diese Bestimmung sei nicht erst in
der Voruntersuchung, sondern bereits im polizeilichen Ermittlungsverfahren
anwendbar.

    b) Das vorliegende Verfahren befindet sich im Stadium der
gerichtspolizeilichen Ermittlungen. Gemäss der Verfügung des eidg.
Untersuchungsrichters (als Haftrichter) vom 31. August 1994 wurde die
Untersuchungshaft wegen dringenden Tatverdachts und Kollusionsgefahr
(Art. 44 Ziff. 2 BStP) angeordnet, denn der Haftgrund der Fluchtgefahr
wurde ausdrücklich "grundsätzlich offengelassen".

    c) Nach der bisherigen ständigen Rechtsprechung der Anklagekammer
findet Art. 51 Abs. 2 BStP im gerichtspolizeilichen Ermittlungsverfahren
keine Anwendung (vgl. BÖSCH, Die Anklagekammer des Schweizerischen
Bundesgerichts, Diss. Zürich 1978, S. 54; PETER, Ermittlungen nach
Bundesstrafprozess, Kriminalistik 1974, S. 36).

    Dieser Rechtsprechung ist Kritik erwachsen (vgl. BÖSCH, aaO, S. 55;
SCHUBARTH, Die Rechte des Beschuldigten im Untersuchungsverfahren,
besonders bei Untersuchungshaft, Bern 1973, S. 143 ff.).

    Art. 51 BStP befindet sich im ersten Abschnitt "Allgemeine
Bestimmungen" des Zweiten Teils des Bundesstrafprozesses unter dem
Titel "VIII. Untersuchungs- und Sicherungshaft". Die Bestimmungen des
Bundesstrafprozesses kennen indessen keine Randtitel bei den einzelnen
Artikeln, wie dies etwa im Bundeszivilprozess der Fall ist. Allein
der Umstand, dass nach Absatz 1 von Art. 51 BStP nur die während der
Voruntersuchung verfügte Verhaftung oder Haftentlassung der Anklagekammer
des Bundesgerichts zu melden ist, schliesst an sich nicht aus, Absatz 2
auch im (bundesrechtlichen) gerichtspolizeilichen Ermittlungsverfahren
anzuwenden.

    Im Lichte der dem Beschuldigten durch das Inkrafttreten der EMRK
zustehenden Rechte drängt sich eine weite Auslegung dieser Bestimmung
auf. Nach Art. 5 Ziff. 3 EMRK hat der Verhaftete Anspruch auf Aburteilung
innerhalb einer angemessenen Frist oder auf Haftentlassung während des
Verfahrens. Aus diesem Beschleunigungsgebot ergibt sich ein Anspruch des
Verhafteten auf zeitliche Begrenzung der Untersuchungshaft (vgl. HAUSER,
Kurzlehrbuch des Strafprozessrechts, S. 191). Es ist deshalb eine
unzulässige Beschneidung der Freiheitsrechte des Beschuldigten und
widerspricht auch dem Gebot der Verfahrensbeschleunigung (vgl. SCHMID,
Strafprozessrecht, N. 714 und 714a, und HAUSER, aaO, S. 190), ihn erst nach
Eröffnung der Voruntersuchung in den Genuss der Begrenzung der Haftdauer
kommen zu lassen. Mit der Eröffnung könnte sonst einfach zugewartet
und damit die Frist in jedem Fall umgangen werden. Demnach kann nach
konventionskonformer Auslegung der Sinn der Vorschrift von Art. 51
Abs. 2 BStP nur sein, dass jede wegen Kollusionsgefahr verhängte
Haft nur mit besonderer Bewilligung der Anklagekammer länger als 14
Tage aufrechterhalten werden darf. Die Möglichkeit, jederzeit ein
Haftentlassungsgesuch stellen zu können (Art. 52 Abs. 1 BStP), bietet
dem Inhaftierten zwar auch einen gewissen Schutz, da in diesem Verfahren
die Berechtigung der Weiterführung der Haft geprüft wird. Dieser Schutz
versagt indessen dem gegenüber, der gar kein Haftentlassungsgesuch
stellt. Weil der Verhaftete freizulassen ist, sobald kein Grund mehr
vorliegt, die Verhaftung aufrechtzuerhalten (Art. 50 BStP), müssen auch
gegenüber jenen Verhafteten, die kein Haftentlassungsgesuch stellen, die
Voraussetzungen der Haft überprüft werden; denn ein geeignetes Mittel
gegen die Fortdauer einer unrechtmässigen Haft ist die Statuierung von
Haftfristen (vgl. unveröffentlichtes Urteil der Anklagekammer vom 31. Juli
1991 i.S. A. S. gegen Schweizerische Bundesanwaltschaft, E. 5, in welchem
die Frage indessen noch offengelassen wurde, weil die Untersuchungshaft
auch wegen Fluchtgefahr verfügt worden war, die nach wie vor bestand).

    Die bisherige Auslegung von Art. 51 Abs. 2 BStP kann aus diesen
Gründen nicht länger aufrechterhalten werden.

    d) Da im vorliegenden Fall die Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft
über die in Art. 51 Abs. 2 BStP vorgesehene Dauer hinaus durch die
Anklagekammer nicht besonders bewilligt wurde, wäre sie aufzuheben, sofern
nicht neu der von der Bundesanwaltschaft in der angefochtenen Verfügung
ebenfalls geltend gemachte Haftgrund der Fluchtgefahr zu bejahen ist.