Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 120 IV 256



120 IV 256

42. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 18. Juli 1994
i.S. S. gegen Generalprokurator des Kantons Bern (Nichtigkeitsbeschwerde)
Regeste

    Art. 19 Ziff. 1 Satz 1 BetmG; Cannabis.

    Cannabis-Produkte sind nicht geeignet, die körperliche und
seelische Gesundheit vieler Menschen in eine naheliegende und ernstliche
Gefahr zu bringen (E. 2b; Bestätigung der Rechtsprechung). Sie sind
in gesundheitlicher Hinsicht dennoch nicht unbedenklich und stellen
Betäubungsmittel im Sinne der erwähnten Bestimmung dar (E. 2c; Bestätigung
der Rechtsprechung).

Sachverhalt

    A.- S. erwarb von ca. Ende 1988 bis ca. Ende 1990 mit Bezügen von
meist einem Kilogramm, teilweise auch zwei Kilogramm, insgesamt mindestens
30 Kilogramm Haschisch zu einem Durchschnittspreis von Fr. 5'800.--
pro Kilo. Er verkaufte das Haschisch in der Regel in kleineren Portionen
an unbekannte Abnehmer zu einem Durchschnittspreis von Fr. 6'200.-- bis
Fr. 6'500.-- pro Kilo weiter und erzielte damit einen Gesamtgewinn von
ca. Fr. 12'000.-- bis Fr. 21'000.--.

    Das Strafamtsgericht von Bern verurteilte S. am 27. April 1993 wegen
gewerbsmässiger Widerhandlung gegen das Betäubungsmittelgesetz (Art. 19
Ziff. 1 und 2 lit. c BetmG) zu einer unbedingten Gefängnisstrafe von 14
Monaten. Zudem verfügte es die Rückerstattung des unrechtmässigen Gewinns
im Betrag von Fr. 10'000.--. Dieses Urteil bestätigte das Obergericht
des Kantons Bern am 15. Oktober 1993.

    S. führt Nichtigkeitsbeschwerde und beantragt, das angefochtene
Urteil sei aufzuheben und die Sache zur Neubeurteilung an die Vorinstanz
zurückzuweisen.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- a) Die Vorinstanz führt zum Schuldspruch der gewerbsmässigen
Widerhandlung gegen das Betäubungsmittelgesetz (Art. 19 Ziff. 1
und 2 lit. c BetmG; SR 812.121) aus, das Gesetz selbst definiere
abhängigkeitserzeugende Stoffe und Präparate der Wirkungstypen Cannabis
als Betäubungsmittel. Damit sei vorliegend durch Kauf und Verkauf von 30
Kilogramm Haschisch die Widerhandlung gegen Art. 19 Ziff. 1 BetmG erfüllt.

    Das Bundesgericht habe zwar in BGE 117 IV 314 in Abänderung seiner
früheren Praxis erkannt, bei Cannabis bzw. Haschisch sei nach dem
derzeitigen Erkenntnisstand die Annahme eines schweren Falles im Sinne von
Art. 19 Ziff. 2 lit. a BetmG ausgeschlossen. Dabei sei zu berücksichtigen,
dass das Bundesgericht bei Haschisch auch in grossen Mengen - im Vergleich
zu anderen Drogen wie Heroin - bloss die naheliegende und ernstliche Gefahr
für die seelische und körperliche Gesundheit vieler Menschen verneint habe;
darüber hinaus könne dem Entscheid nicht entnommen werden, Haschisch sei
geradezu ungefährlich; gegenteils werde ausdrücklich die Schlussfolgerung
gezogen, die Droge Cannabis sei nicht unbedenklich. Hinzu komme, dass
gemäss diesem Entscheid Verkehr und Konsum mit und von Cannabis-Produkten
weiterhin strafbar seien; das Bundesgericht habe ausdrücklich die
Qualifikationsgründe des bandenmässigen und des gewerbsmässigen Vorgehens
bei Cannabis (weiterhin) für anwendbar erklärt.

    Auch eine verfassungskonforme Auslegung führe nicht zu einem anderen
Ergebnis. Abgesehen davon, dass kein Auslegungsraum hinsichtlich
Prüfung einer allfälligen Verletzung der verfassungsmässigen Rechte
der persönlichen Freiheit und der Handels- und Gewerbefreiheit bleibe,
könne ohnehin keine Rede davon sein, das gemäss Betäubungsmittelgesetz
unter Strafe gestellte Verbot (auch) des Handels mit Haschisch verletze
die genannten verfassungsmässigen Rechte.

    b) Der Beschwerdeführer macht geltend, die Vorinstanz habe Art. 1,
8 und Art. 19 Ziff. 1 und 2 lit. c BetmG bundesrechtswidrig,
insbesondere nicht verfassungskonform ausgelegt. Die gesamte
Betäubungsmittelgesetzgebung habe den Schutz der Gesundheit als
Rechtsgut zur Aufgabe. Betäubungsmittel würden deshalb verboten, weil
sie die Gesundheit des Konsumenten schädigten. Wie das Bundesgericht
ausgeführt habe, stimmten all diese Annahmen des Gesetzgebers
nicht. Damit entfalle aber gemäss einer historisch teleologischen
verfassungskonformen Auslegung des Betäubungsmittelgesetzes die Anwendung
von Art. 19 Ziff. 1 und 2, insbesondere auch von Art. 19 Ziff. 2 lit. c
BetmG, bei Cannabis-Substanzen. Wenn Haschisch demnach nicht schade,
könne rechtslogisch auch keine Gewerbsmässigkeit gegeben sein. Noch
weitergehend heisse dies aber auch, dass Cannabis fälschlicherweise
im Betäubungsmittelgesetz als Betäubungsmittel aufgeführt sei und dass
deshalb der Richter heute verpflichtet sei, im Sinne des Gesetzgebers,
gestützt auf die teleologische, historische und verfassungskonforme
Auslegung, Art. 19 Ziff. 1 und 2 und insbesondere Art. 19 Ziff. 2 lit. c
im Einzelfall auf Cannabis-Produkte nicht anzuwenden. Darüber hinaus habe
die Vorinstanz nicht nur Art. 19 BetmG nicht bundesrechtskonform ausgelegt,
sondern auch die Art. 1 Abs. 1 und 2 lit. a Ziff. 4 sowie lit. b Ziff. 3
und Art. 8 Abs. 1 lit. d BetmG, in welchen überall von Haschisch, Hanf
oder Hanfkraut die Rede sei.

Erwägung 2

    2.- Art. 19 Ziff. 1 Satz 1 BetmG stellt den unbefugten Anbau, Handel
und Besitz von Betäubungsmitteln in allen seinen Formen unter Strafe.

    a) Nach konstanter bundesgerichtlicher Rechtsprechung unterstehen die
verschiedenen Handelsformen des Cannabis (Marihuana, Haschisch, Haschischöl
usw.) dem Betäubungsmittelgesetz (BGE 95 IV 179 E. 1; 106 IV 227 E. 3;
117 IV 314 E. 2e, f/cc; Urteil vom 29. August 1991, veröffentlicht in
SJ 114/1992 S. 90; unveröffentlichter Entscheid des Kassationshofs
vom 20. Dezember 1993 in Sachen R. T., E. 3c). Dabei ist unbestritten,
dass die verschiedenen Produkte der Hanfpflanze unterschiedliche
Wirkstoffkonzentrationen aufweisen (BGE 117 IV 314 E. 2f/cc).

    b) Das Bundesgericht hat sich in BGE 117 IV 314 mit dem Cannabis unter
dem Gesichtspunkt des schweren Falles nach lit. a von Art. 19 Ziff. 2
BetmG auseinandergesetzt. Zusammenfassend führte es dazu aus (E. 2g/aa),
dieses Betäubungsmittel sei zwar nicht unbedenklich. Es könne insbesondere
bei lange dauerndem und übermässigem Gebrauch durchaus zu psychischen und
physischen Belastungen führen. Die Gefahren, die vom Konsum von Cannabis
für die menschliche Gesundheit ausgingen, seien jedoch vergleichsweise
gering. Sie unterschritten deutlich jene der harten Drogen, insbesondere
von Heroin, und blieben in verschiedener Beziehung sogar hinter jenen
des Alkohols zurück. Anders als Heroin und Alkohol sei Cannabis auch bei
akuter Vergiftung nicht lebensgefährlich. Die auf den Gebrauch von Cannabis
zurückzuführenden Schädigungen der Atemwege und der Lunge träten überdies
in der Regel, wie beim Genuss von Tabakwaren, - wenn überhaupt - erst
nach geraumer Zeit ein, und auch das nur, wenn die Drogen geraucht, nicht
aber, wenn sie, beispielsweise in Teeform, oral aufgenommen werden. Durch
Cannabis hervorgerufene psychische Schäden seien ausserdem selten, sie
träfen vor allem Personen, die entsprechend vorbelastet seien. Der Gebrauch
von Cannabis führe ferner keineswegs zwangsläufig zu jenem gefährlicherer
Stoffe; nach neuesten Schätzungen griffen insgesamt etwa fünf Prozent aller
Jugendlichen, die Erfahrung mit Cannabis hätten, zu härteren Drogen. Nach
dem gegenwärtigen Stand der Kenntnisse lasse sich somit nicht sagen,
dass Cannabis geeignet sei, die körperliche und seelische Gesundheit
vieler Menschen in eine naheliegende und ernstliche Gefahr zu bringen.

    c) Es besteht kein Anlass, von dieser Rechtsprechung
abzuweichen. Auszugehen ist nach wie vor davon, dass Cannabis zwar nicht
geeignet ist, die körperliche und seelische Gesundheit vieler Menschen
in eine naheliegende und ernstliche Gefahr zu bringen. Trotzdem ist
Cannabis in gesundheitlicher Hinsicht nicht unbedenklich, auch wenn eine
"Schrittmacherfunktion" zum Gebrauch härterer Drogen nicht anzunehmen
ist (BGE 117 IV 314 E. 2g/aa). In diesem Sinn äussern sich auch die
einschlägige Fachliteratur (THOMAS GESCHWINDE, Rauschdrogen, 2. Aufl.,
Berlin usw. 1990, N. 155 ff.; HARALD KÖRNER, Betäubungsmittelgesetz,
3. Aufl. München 1990, S. 1067 Ziff. 46 lit. g; HANS KIND, Die
Gefährlichkeit der Drogen und die heutige Drogenpolitik, Neue Wege in der
Drogenpolitik, Zürich 1991, S. 123; ANDREAS MANZ, Medizinische Aspekte
des Cannabis-Gebrauchs, Neue Wege in der Drogenpolitik, Zürich 1991,
S. 112 ff.; KARL-LUDWIG TÄSCHNER, Probleme der Aussagetüchtigkeit bei
Drogenabhängigen, NStZ 1993, S. 322 f.; weniger weitgehend STEFAN QUENSEL,
Wirkungen und Risiken des Cannabis-Gebrauchs, Drogen und Drogenpolitik,
herausgegeben von SEBASTIAN SCHEERER und IRMGARD VOGT, Frankfurt/New York
1989, S. 379 ff.) und das Deutsche Bundesverfassungsgericht (Beschluss
des zweiten Senats vom 9. März 1994, S. 45 ff.).

    Insbesondere Jugendliche mit grösseren Schwierigkeiten können
durch den Genuss von Cannabis zusätzlich in der Festigung ihrer
Persönlichkeit gehindert werden (GESCHWINDE, aaO, N. 164; MANZ, aaO,
S. 117). Den Cannabis-Produkten wohnen deshalb auch nach dem heutigen
Wissensstand nicht vernachlässigbare Gefahren und Risiken inne. Dieser
Gefährdung des Einzelnen wie auch der Allgemeinheit entspricht das
vom Betäubungsmittelgesetz gewählte Konzept, den Umgang mit diesem
Betäubungsmittel mit Strafe zu bedrohen. Die Vorinstanz hat den
Beschwerdeführer demnach wegen Kaufs und Verkaufs von 30 Kilogramm
Haschisch grundsätzlich zu Recht der Widerhandlung gegen Art. 19 Ziff. 1
BetmG schuldig gesprochen.

    Zu Unrecht beruft sich der Beschwerdeführer auf verfassungskonforme
Auslegung des Betäubungsmittelgesetzes. Denn der Sache nach will er die
Verfassungsmässigkeit der Unterstellung des Cannabis unter das BetmG
überhaupt in Frage stellen, was über verfassungskonforme Auslegung
hinausgeht und mit Art. 113 Abs. 3 BV nicht zu vereinbaren ist.