Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 120 IV 252



120 IV 252

41. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 8. Juli
1994 i.S. H. gegen Staatsanwaltschaft des Kantons Schwyz
(Nichtigkeitsbeschwerde) Regeste

    Art. 36 Abs. 2 u. 4, Art. 26 Abs. 1 SVG; Nichtgewähren des Vortritts,
Vertrauensgrundsatz.

    Hängt die Beantwortung der Frage, ob ein Verkehrsteilnehmer eine
Verkehrsregel verletzt hat, davon ab, ob und inwieweit er sich auf das
verkehrsgerechte Verhalten eines anderen Verkehrsteilnehmers verlassen
durfte, darf ihm die Berufung auf den Vertrauensgrundsatz nicht mit
der Begründung abgeschnitten werden, er habe sich nicht verkehrskonform
verhalten (Präzisierung der Rechtsprechung).

    Auch der Wartepflichtige kann sich auf das Vertrauensprinzip berufen,
wenn sich der Vortrittsberechtigte in einer für den Wartepflichtigen
nicht vorhersehbaren Weise verkehrswidrig verhält (Bestätigung der
Rechtsprechung).

Sachverhalt

    A.- H. fuhr am 13. Dezember 1991 kurz vor Mitternacht in Küssnacht
am Rigi mit seinem Personenwagen von der Autobahn herkommend auf die
vortrittsberechtigte Zugerstrasse, in der Absicht, nach links in Richtung
Küssnacht am Rigi abzubiegen. Gleichzeitig nahte auf der Zugerstrasse der
mit seinem Auto von Küssnacht in Richtung Risch fahrende X. In der Folge
kam es zwischen den beiden Fahrzeugen auf der Fahrspur Küssnacht-Risch
zu einer schweren Kollision.

    Der Einzelrichter des Bezirks Küssnacht sprach H. mit Urteil vom 24.
September 1993 des Nichtgewährens des Vortritts im Sinne von Art. 36 Abs. 2
und 4 in Verbindung mit Art. 90 Ziff. 1 SVG schuldig und verurteilte
ihn zu einer Busse von Fr. 350.--. Eine gegen diesen Entscheid erhobene
Nichtigkeitsbeschwerde wies das Kantonsgericht des Kantons Schwyz mit
Beschluss vom 11. November 1993 ab.

    Gegen diesen Beschluss führt H. eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde
mit dem Antrag auf Aufhebung des angefochtenen Entscheids und
Rückweisung der Sache an die Vorinstanz zur Anordnung und Würdigung einer
verkehrstechnischen Expertise über die vom Kollisionsgegner X. gefahrene
Geschwindigkeit und zum Freispruch von Schuld und Strafe.

    Die Staatsanwaltschaft des Kantons Schwyz beantragt in ihrer
Vernehmlassung Abweisung der Beschwerde, soweit darauf einzutreten sei.

    Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut, soweit es darauf eintritt,
und hebt das angefochtene Urteil in Anwendung von Art. 277 BStP auf.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- d) aa) Der Beschwerdeführer beruft sich sodann auf den
Vertrauensgrundsatz. Nach diesem aus der Grundregel von Art. 26 Abs. 1 SVG
abgeleiteten Grundsatz darf jeder Strassenbenützer, sofern nicht besondere
Umstände dagegen sprechen, darauf vertrauen, dass sich die anderen
Verkehrsteilnehmer ebenfalls ordnungsgemäss verhalten, ihn also nicht
behindern oder gefährden (BGE 118 IV 277 E. 4a mit weiteren Hinweisen).

    Auf den Vertrauensgrundsatz kann sich nur stützen, wer sich
selbst verkehrsregelkonform verhalten hat. Wer gegen die Verkehrsregeln
verstösst und dadurch eine unklare oder gefährliche Verkehrslage schafft,
kann nicht erwarten, dass andere diese Gefahr durch erhöhte Vorsicht
ausgleichen (BGE 118 IV 277 E. 4a mit weiteren Hinweisen; SCHAFFHAUSER,
aaO, S. 117 N. 312; VON WERRA, Du principe de la confiance dans le droit
de la circulation routière ..., RVJ 1970, S. 200). Jedoch gilt diese
Einschränkung dort nicht, wo gerade die Frage, ob der Verkehrsteilnehmer
eine Verkehrsvorschrift verletzt hat, davon abhängt, ob er sich auf den
Vertrauensgrundsatz berufen kann oder nicht. Denn es wäre zirkelschlüssig,
in einem solchen Fall den Vertrauensgrundsatz nicht anzuwenden mit
der Begründung, der Täter habe eine Verkehrsregel verletzt. Dies hängt
ja gerade davon ab, ob und inwieweit er sich auf das verkehrsgerechte
Verhalten der anderen Verkehrsteilnehmer verlassen darf (vgl. auch unten
E. bb).

    Das Vertrauensprinzip kann auch der Wartepflichtige anrufen. Erlaubt
die Verkehrslage dem Wartepflichtigen das Einbiegen ohne Behinderung eines
Vortrittsberechtigten, so ist ihm auch dann keine Vortrittsverletzung
vorzuwerfen, wenn dadurch ein Vortrittsberechtigter in seiner Weiterfahrt
behindert wird, weil dieser sich in einer für den Wartepflichtigen
nicht vorhersehbaren Weise verkehrswidrig verhält. Im Interesse einer
klaren Vortrittsregelung wird jedoch nicht leichthin anzunehmen sein, der
Wartepflichtige habe nicht mit der Vorbeifahrt eines Vortrittsberechtigten
bzw. mit dessen Behinderung rechnen müssen. Nach der Rechtsprechung
darf nach dem Vertrauensprinzip der vortrittsbelastete Fahrzeuglenker,
der in die Hauptstrasse einbiegen will, auf Hauptstrassen ausserorts
davon ausgehen, dass keine Motorfahrzeuge mit einer 80 km/h erheblich
überschreitenden Geschwindigkeit herannahen (BGE 118 IV 277 E. 5b mit
Hinweisen).

    bb) Die Vorinstanz nahm an, der Beschwerdeführer dürfe
sich nicht auf den Vertrauensgrundsatz berufen, weil er sich
selbst nicht verkehrsregelkonform verhalten habe. Wenn sie die
Verkehrsregelverletzung indes u.a. damit begründet, den Beschwerdeführer
könnte auch ein allfälliges Überschreiten der Höchstgeschwindigkeit des
vortrittsberechtigten Fahrzeuglenkers X. nicht entlasten, erliegt sie wie
dargelegt (E. aa) einem Zirkelschluss. Denn ob der Beschwerdeführer den
Vortritt missachtete, lässt sich erst sagen, wenn feststeht, ob er sich
auf den Vertrauensgrundsatz berufen kann, d.h. ob er darauf vertrauen
durfte oder nicht, der Vortrittsberechtigte überschreite die zulässige
Geschwindigkeit nicht.

    Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus dem Satz, das Strafrecht
kenne keine Schuldkompensation. Wo die strafrechtliche Verantwortlichkeit
eines Verkehrsteilnehmers, wie beim Vertrauensgrundsatz, davon abhängt,
ob sich ein anderer in einer Weise verkehrsregelwidrig verhalten hat, mit
der nicht gerechnet werden musste, kann auch nicht mit der Begründung, eine
Schuldkompensation sei ausgeschlossen, von der Prüfung der Frage abgesehen
werden, ob sich der Andere verkehrsregelwidrig verhielt oder nicht.