Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 120 IV 217



120 IV 217

37. Urteil des Kassationshofes vom 8. September 1994
i.S. Staatsanwaltschaft des Kantons Basel-Landschaft gegen
X. (Nichtigkeitsbeschwerde) Regeste

    Aussageverweigerungsrecht eines Kindes in einem gegen seinen Vater
eröffneten Strafverfahren wegen Sexualdelikten zu seinem Nachteil. §§ 65
Ziff. 2, 66 Ziff. 1, 67 Abs. 1 StPO/BL; Art. 7 Abs. 2, Art. 8 Abs. 2 OHG.

    Ob einem vierjährigen Mädchen in einem gegen seinen Vater
eröffneten Strafverfahren wegen Sexualdelikten zu seinem Nachteil nach
dem kantonalen Strafprozessrecht ein Aussageverweigerungsrecht wegen
Verwandtschaft zustehe und ob es dieses rechtswirksam ausgeübt habe,
sind Fragen des kantonalen Rechts, die im Verfahren der eidgenössischen
Nichtigkeitsbeschwerde nicht aufgeworfen werden können (E. 3).

    Die Bejahung dieser Fragen verstösst weder gegen Sinn und Zweck des
Sexualstrafrechts noch gegen Sinn und Zweck des Opferhilfegesetzes (E. 4).

    Offengelassen, ob und auf welche Weise ein vierjähriges Mädchen in
einem solchen Fall als Opfer im Sinne von Art. 7 Abs. 2 OHG die Aussage
zu Fragen betreffend sein Intimsphäre verweigern könne (E. 2).

Sachverhalt

    A.- X. wird von der Anklagebehörde vorgeworfen, er habe in der Zeit von
spätestens Oktober 1989 bis zum 20. Mai 1990 seine Tochter M., geboren
1986, mehrfach zu unzüchtigen Handlungen missbraucht. Die Vorwürfe
stützen sich im wesentlichen auf die Aussagen, welche M. gegenüber
einer Psychologin vom Kinder- und Jugendpsychiatrischen Dienst gemacht
hatte. Dieser Dienst war vom Statthalteramt Waldenburg beauftragt worden,
vom Kind das wirkliche Geschehen und die Person, welche die Handlungen
ausgeführt haben soll, in Erfahrung zu bringen. Im Gutachten des Kinder-
und Jugendpsychiatrischen Dienstes vom 25. Oktober 1990 wird festgehalten,
aus den Aussagen von M. gehe klar hervor, dass sexuelle Übergriffe
stattgefunden hätten.

    Mit Schreiben vom 19. September 1991 machte der Chefarzt des Kinder-
und Jugendpsychiatrischen Dienstes das Statthalteramt Waldenburg darauf
aufmerksam, dass bei der Erarbeitung des Gutachtens dem Recht des Kindes
auf Zeugnisverweigerung keine Beachtung geschenkt worden sei. M. habe
stets deutlich gemacht, dass sie ihren Vater nicht belasten wolle, und
ausdrücklich gewünscht, dass niemandem etwas über das berichtet werde,
was sie dem Personal des Kinder- und Jugendpsychiatrischen Dienstes
anvertraute.

    X. bestritt stets sämtliche Vorwürfe. M. wurde weder im
erstinstanzlichen noch im Appellationsverfahren zur Einvernahme vorgeladen.

    B.- Am 19. März 1993 sprach das Strafgericht des Kantons
Basel-Landschaft X. vom Vorwurf der mehrfachen sexuellen Nötigung sowie
der versuchten Vergewaltigung frei. Dem Gericht erschienen die Zweifel
an der Richtigkeit der Aussagen, die M. gegenüber der Psychologin vom
Kinder- und Jugendpsychiatrischen Dienst gemacht hatte, als so erheblich,
dass es von der Schuld des Angeklagten nicht ausreichend überzeugt war.

    Auf Appellation der Staatsanwaltschaft bestätigte das Obergericht
des Kantons Basel-Landschaft am 6. Dezember 1993 den erstinstanzlichen
Freispruch. Es ging davon aus, dass das Mädchen von dem ihm zustehenden
Recht, die Aussage zu verweigern, Gebrauch gemacht habe und dass daher
dessen Aussagen gegenüber dem Kinder- und Jugendpsychiatrischen Dienst
nicht verwendet werden dürfen. Ohne diese Aussagen sei jedoch kein
rechtsgenüglicher Beweis vorhanden, der eine Verurteilung zulasse.

    C.- Die Staatsanwaltschaft des Kantons Basel-Landschaft führt
eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag, das Urteil des
Obergerichts sei aufzuheben und die Sache zur neuen Entscheidung an die
Vorinstanz zurückzuweisen.

Auszug aus den Erwägungen:

             Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Gemäss § 65 Ziff. 2 der Strafprozessordnung des Kantons
Basel-Landschaft (StPO/BL) sollen nicht als Zeugen einvernommen werden:
Kinder unter 14 Jahren, wenn die Einvernahme für sie mit erheblichen
Nachteilen verbunden oder nicht unerlässlich ist, um den Prozesszweck
zu erreichen. Nach § 66 Ziff. 1 StPO/BL sind u.a. die Verwandten des
Angeschuldigten in auf- und absteigender Linie zur Verweigerung des
Zeugnisses berechtigt, soweit sich das Zeugnis mittelbar oder unmittelbar
auf den Angeschuldigten bezieht, zu dem sie in dem bezeichneten Verhältnis
stehen. § 67 Abs. 1 StPO/BL verpflichtet den Beamten und den Richter,
die Zeugen vor jeder Abhörung über ihr Recht der Zeugnisverweigerung
zu belehren. Nach Art. 7 Abs. 2 des Bundesgesetzes über die Hilfe
an Opfer von Straftaten (OHG; SR 312.5) kann das Opfer (im Sinne von
Art. 2 OHG) die Aussage zu Fragen verweigern, die seine Intimsphäre
betreffen. Art. 8 Abs. 2 OHG verpflichtet die Behörden, das Opfer in
allen Verfahrensstadien über seine Rechte zu informieren.

    a) Die Vorinstanz führt unter Hinweis auf diese Bestimmungen aus,
das im Jahre 1986 geborene Mädchen sei nicht zeugnisfähig. Es könne aber
als Auskunftsperson befragt werden; diese prozessuale Figur sei zwar in
der StPO/BL nicht ausdrücklich vorgesehen, aber von der Praxis entwickelt
worden. Auch einem als Auskunftsperson zu befragenden Kind stehe erstens
ein Aussageverweigerungsrecht wegen Verwandtschaft zum angeschuldigten
Vater nach dem kantonalen Strafprozessrecht und zweitens, soweit es um
Fragen betreffend seine Intimsphäre gehe, ein Antwortverweigerungsrecht
gemäss Art. 7 Abs. 2 OHG zu.

    Der Umstand, dass die Psychologin vom Kinder- und Jugendpsychiatrischen
Dienst, die im Auftrag des Statthalteramtes mehrere Spielgespräche mit dem
Kind führte, dieses nicht auf sein Aussageverweigerungsrecht aufmerksam
gemacht hatte, darf nach den weiteren Ausführungen der Vorinstanz im Sinne
einer pragmatischen Lösung nicht automatisch zu einem vollumfänglichen
Beweisverwertungsverbot führen.

    Die Aussagen des Kindes dürfen nach Ansicht der Vorinstanz aber
deshalb nicht als Beweismittel verwertet werden, weil das Kind von
seinem Aussageverweigerungsrecht rechtsgültig Gebrauch gemacht habe. Wie
sich aus den aufgezeichneten Gesprächen ergebe, habe das Kind der
Psychologin ein Geheimnis anvertrauen wollen und grossen Wert darauf
gelegt, dass der Inhalt dieser Gespräche nicht an Dritte weitererzählt
werde. Die Psychologin habe anlässlich der Appellationsverhandlung als
Expertin bestätigt, dass sich das Mädchen klar in diesem Sinne geäussert
habe. Nach Ansicht der Vorinstanz kann und muss dieser Wunsch des Kindes
respektiert werden. Dem damals vierjährigen Mädchen könne die Fähigkeit
zuerkannt werden, sich zu entscheiden, wem es ein Geheimnis erzählen wolle
und wem nicht. Für die Respektierung des Wunsches des Kindes spreche
auch, dass sich die psychiatrischen Experten daran gebunden fühlten.
Schliesslich sei zu berücksichtigen, dass sich das Mädchen Stillschweigen
ausbedungen habe, obschon es nicht über sein Aussageverweigerungsrecht
aufgeklärt worden sei. Da das Kind somit rechtsgültig das ihm erstens
nach Art. 7 Abs. 2 OHG und zweitens gemäss § 66 Ziff. 1 StPO/BL zustehende
Aussageverweigerungsrecht ausgeübt habe, dürfen nach der Schlussfolgerung
der Vorinstanz die Aussagen des Kindes gegenüber der Psychologin nicht
verwertet werden.

    b) Die Staatsanwaltschaft macht in ihrer Nichtigkeitsbeschwerde
im wesentlichen geltend, die (angebliche) Ausübung des
Aussageverweigerungsrechts durch das damals vierjährige Mädchen sei
rechtlich unbeachtlich. Erstens fehle einem Kind von vier Jahren die für
die rechtswirksame Ausübung des Aussageverweigerungsrechts erforderliche
Urteilsfähigkeit, zweitens sei das Mädchen im vorliegenden Fall unter
starker Beeinflussung von seiten des angeschuldigten Vaters gestanden,
und drittens sei die Annahme eines Aussageverweigerungsrechts unter
den gegebenen Umständen mit Sinn und Zweck des OHG einerseits und des
revidierten Sexualstrafrechts anderseits nicht zu vereinbaren. Diese
Einwände beziehen sich offenbar sowohl auf die Frage der
Aussageverweigerung wegen Verwandtschaft zum Angeschuldigten als auch
auf die Frage der Antwortverweigerung gemäss Art. 7 Abs. 2 OHG.

Erwägung 2

    2.- Der angefochtene Entscheid beruht auf zwei selbständigen,
voneinander unabhängigen Begründungen. Die Vorinstanz hat erstens erkannt,
dass dem damals vierjährigen Mädchen nach dem kantonalen Strafprozessrecht
als Auskunftsperson ein dem Zeugnisverweigerungsrecht entsprechendes
Aussageverweigerungsrecht wegen Verwandtschaft zum Angeschuldigten zustehe
und dass es dieses Recht gültig ausgeübt habe; sie hat zweitens angenommen,
dass dem Mädchen als Opfer im Sinne des OHG ein Antwortverweigerungsrecht
zu Fragen betreffend seine Intimsphäre gemäss Art. 7 Abs. 2 OHG zustehe
und dass es dieses Recht gültig ausgeübt habe.

    Ob die zweite Begründung (betreffend Antwortverweigerung nach Art. 7
Abs. 2 OHG) mit dem Bundesrecht vereinbar sei, kann offenbleiben,
wenn sich ergibt, dass jedenfalls die erste Begründung (betreffend
Aussageverweigerung wegen Verwandtschaft) vor Bundesrecht standhält. Das
gilt auch dann, wenn diese erste Begründung (teilweise) auf kantonalem
Recht beruht, dessen Anwendung im Verfahren der eidgenössischen
Nichtigkeitsbeschwerde nicht überprüft (Art. 269 Abs. 1, 273 Abs. 1
lit. b BStP) und von der Staatsanwaltschaft mit der staatsrechtlichen
Beschwerde mangels Befugnis zur Ergreifung dieses Rechtsmittels nicht
zur Entscheidung gestellt werden kann.

Erwägung 3

    3.- Die Erkenntnis der Vorinstanz, dass dem damals vierjährigen Mädchen
in dem gegen seinen Vater wegen mehrfacher sexueller Nötigung etc. zu
seinem Nachteil eröffneten Strafverfahren nach dem kantonalen Prozessrecht
als Auskunftsperson ein dem Zeugnisverweigerungsrecht entsprechendes
Aussageverweigerungsrecht wegen Verwandtschaft zustehe und dass es dieses
Recht gültig ausgeübt habe, betrifft das kantonale Recht und kann daher
mit der eidgenössischen Nichtigkeitsbeschwerde nicht angefochten werden.
Soweit es um eine Aussageverweigerung nach dem kantonalen Strafprozessrecht
geht, sind auch die Fragen, welche Anforderungen an die geistigen und
intellektuellen Fähigkeiten ("Urteilsfähigkeit") sowie an den Willen
(Fehlen von Willensmängeln) der die Aussage verweigernden Person zu
stellen sind, damit die Aussageverweigerung rechtswirksam ist, Fragen
des kantonalen Rechts. Unzulässig ist somit insbesondere die Rüge der
Beschwerdeführerin, dass ein vierjähriges Mädchen ein kantonalrechtliches
Aussageverweigerungsrecht wegen Verwandtschaft zum Angeschuldigten
mangels der hiefür erforderlichen Urteilsfähigkeit nicht rechtswirksam
ausüben könne. Wohl ist der Begriff der "Urteilsfähigkeit" im Bundesrecht
(Art. 16 ZGB) umschrieben. Das ist indessen nicht entscheidend. Die
Urteilsfähigkeit als (allfällige) Voraussetzung der rechtswirksamen
Ausübung eines kantonalrechtlichen Aussageverweigerungsrechts ist nicht
ein bundesrechtlicher, sondern ein kantonalrechtlicher Begriff.

Erwägung 4

    4.- Zu prüfen ist, ob die auf das kantonale Prozessrecht gestützte
Erkenntnis der Vorinstanz gegen Sinn und Zweck des OHG einerseits
und des revidierten Sexualstrafrechts andererseits verstosse, wie die
Beschwerdeführerin meint. Diese Rüge ist im Verfahren der eidgenössischen
Nichtigkeitsbeschwerde zulässig (BGE 116 IV 19 E. 1 mit Hinweis; vgl. auch
BGE 119 IV 92).

    a) Das Zeugnisverweigerungsrecht wegen Verwandtschaft ist in allen
kantonalen Strafprozessordnungen und auch in den Strafprozessordnungen des
Bundes (Art. 75 BStP, Art. 41 Abs. 2 VStrR i.V.m. Art. 75 BStP, Art. 75
MStP [SR 322.1]) vorgesehen. Es gilt nach den meisten Strafprozessordnungen
uneingeschränkt, also beispielsweise auch dann, wenn die Gegenstand des
Verfahrens bildende Tat des Verwandten sich gegen den Zeugen richtete.

    Einige kantonale Strafprozessordnungen sehen allerdings u.a. insoweit
unter bestimmten - unterschiedlichen - Voraussetzungen Ausnahmen vom
Zeugnisverweigerungsrecht wegen Verwandtschaft vor. Nach Art. 141
Abs. 2 StrV/BE kann sich eine Person unter 16 Jahren nicht auf das
Zeugnisverweigerungsrecht wegen Verwandtschaft berufen, wenn ein Verwandter
einer an ihr persönlich begangenen strafbaren Handlung bezichtigt wird. Die
bernische Praxis hatte schon vor der Einführung dieser Bestimmung
durch die Gesetzesrevision vom 6. November 1973 angenommen, dass das
Zeugnisverweigerungsrecht bei Angriffen auf die sexuelle Integrität von
Kindern ausgeschlossen sei (siehe ZBJV 85/1949 S. 281). Gemäss Art. 68
Abs. 3 StPO/SG besteht das Zeugnisverweigerungsrecht wegen Verwandtschaft
bei bestimmten Delikten gegen Verwandte, ungeachtet des Alters des Opfers
bzw. des Geschädigten, nicht, so u.a. nicht bei Mord, vorsätzlicher Tötung
und Totschlag sowie bei Misshandlung und Vernachlässigung eines Kindes,
Überanstrengung von Kindern und Untergebenen, Unzucht mit Kindern und
Blutschande. Einige weitere kantonale Strafprozessordnungen schliessen
das Zeugnisverweigerungsrecht wegen Verwandtschaft bei Straftaten gegen
Verwandte unter gewissen Umständen aus (siehe z.B. Art. 74 Abs. 2 StPO/AR,
art. 142 al. 2 CPP/JU).

    Derartige gesetzliche Beschränkungen des Zeugnisverweigerungsrechts
wegen Verwandtschaft sind umstritten. Eine entsprechende Bestimmung
wurde anlässlich der Totalrevision der luzernischen Strafprozessordnung
im Jahre 1954 nicht mehr übernommen. Im Kanton Aargau hatte schon die
Expertenkommission den Gedanken, das Zeugnisverweigerungsrecht wegen
Verwandtschaft bei Straftaten gegen Familienmitglieder auszuschliessen,
fallengelassen (siehe zum Ganzen ROBERT HAUSER, Der Zeugenbeweis im
Strafprozess mit Berücksichtigung des Zivilprozesses, 1974, S. 271 f.;
JUDITH STAMM, Das sexuell geschädigte Kind in der Strafuntersuchung,
Diss. Zürich 1967, S. 81 f., je mit Hinweisen).

    Die vorliegend anwendbare Strafprozessordnung des
Kantons Basel-Landschaft enthält keine Bestimmung, die das
Zeugnisverweigerungsrecht wegen Verwandtschaft bei Straftaten gegen
Verwandte unter bestimmten Voraussetzungen ausschliesst. Dieses
Zeugnisverweigerungsrecht gilt vielmehr uneingeschränkt. Nach der
Strafprozessordnung des Kantons Basel-Landschaft ist mithin, wie nach
den meisten andern kantonalen Strafprozessordnungen sowie nach den
Strafprozessgesetzen des Bundes, eine zeugnisfähige Person auch dann
wegen Verwandtschaft zeugnisverweigerungsberechtigt, wenn die Gegenstand
des Strafverfahrens bildende Tat eines nahen Verwandten, z.B. des Vaters,
sich nicht gegen irgendeinen Dritten, sondern gegen sie selbst richtete.

    b) Dass das Zeugnisverweigerungsrecht wegen Verwandtschaft
zum Angeschuldigten auch dem Opfer der Gegenstand des Verfahrens
bildenden Straftat selbst zusteht, kann insbesondere dann als stossend
erscheinen, wenn in der Straftat ein Missbrauch des Vertrauens- und
Abhängigkeitsverhältnisses liegt, und namentlich bei Sexualdelikten
des Vaters zum Nachteil seines Kindes. Es mag ein gewisser Widerspruch
darin bestehen, dass einerseits die Ausnützung eines Vertrauens-
und Abhängigkeitsverhältnisses die Strafbarkeit begründet oder
den Tatbestand qualifiziert und dass anderseits gerade die dieses
Vertrauens- und Abhängigkeitsverhältnis begründende nahe Verwandtschaft
zur Zeugnisverweigerung berechtigt. Das bedeutet aber nicht, dass das im
kantonalen Strafprozessrecht festgelegte Zeugnisverweigerungsrecht auch
des (zeugnisfähigen) Opfers wegen Verwandtschaft bei Sexualdelikten
gegen Sinn und Zweck des Sexualstrafrechts verstosse und daher
bundesrechtswidrig sei. Es bedeutet bloss, dass das ohnehin immer
bestehende, vom Bundesgesetzgeber akzeptierte Spannungsverhältnis zwischen
dem staatlichen Strafanspruch einerseits und dem Zeugnisverweigerungsrecht
(wegen Verwandtschaft) anderseits bei gewissen Straftaten unter
bestimmten Umständen besonders gross ist. Dies könnte allenfalls, trotz
der kantonalen Gesetzgebungshoheit auf dem Gebiet des Strafprozesses, eine
bundesrechtliche Regelung rechtfertigen, welche etwa bei Sexualdelikten
das Zeugnisverweigerungsrecht des Opfers bzw. zumindest des jungen Opfers
wegen Verwandtschaft zum Angeschuldigten ausschliesst, zumal gerade bei
Sexualdelikten die Aussagen des Angeschuldigten und des Opfers oft die
einzigen Beweismittel sind und mit der Zeugnisverweigerung häufig das
entscheidende Beweismittel entfällt. Das dargestellte Spannungsverhältnis
kann aber allein vom Gesetzgeber gelöst werden. Es ist unzulässig,
die Berufung auf ein im Gesetz vorgesehenes Zeugnisverweigerungsrecht
etwa mit dem Hinweis auf das angeblich höherwertige Interesse an der
Aufklärung einer bestimmten schwerwiegenden Straftat zu versagen (ROBERT
HAUSER, op.cit., S. 133; ROBERT HAUSER, Zeugnisverweigerung von Kindern
und Jugendlichen bei Familien-Sittlichkeitsdelikten, ZStrR 84/1968 S. 42
ff., 69 f.; FRANÇOIS CLERC, Note sur le témoignage des enfants en droit
suisse, ZStrR 80/1964 S. 75 ff., 82, 83; anderer Auffassung A. MOPPERT,
Das strafprozessuale Zeugnisverweigerungsrecht von Kindern, SJZ 48/1952
S. 101 ff., 105 f.). Das in den meisten kantonalen Strafprozessgesetzen
ohne Einschränkungen vorgesehene Zeugnisverweigerungsrecht wegen
Verwandtschaft kann mithin nicht auf dem Wege der Gesetzesauslegung den
(jungen) Opfern von Sexualdelikten unter Hinweis auf die Bedeutung des
Kindes- und Jugendschutzes im Sexualstrafrecht abgesprochen werden.

    c) Aus Sinn und Zweck des (am 1. Januar 1993 in Kraft getretenen)
Opferhilfegesetzes kann ebenfalls nicht abgeleitet werden, dass das
in den Strafprozessordnungen der Kantone und des Bundes festgelegte
Zeugnisverweigerungsrecht wegen Verwandtschaft für die Opfer von Straftaten
jedenfalls unter bestimmten Voraussetzungen, etwa bei sexuellen Handlungen
mit Kindern oder mit Abhängigen (Art. 187 f. StGB), nicht gelte, dass mit
anderen Worten das Opfer im Strafverfahren gegen seinen Vater zur Aussage
verpflichtet sei. Das OHG enthält keine entsprechende Bestimmung. Im
Gegenteil kann das Opfer gemäss Art. 7 Abs. 2 OHG die Aussage zu Fragen
verweigern, die seine Intimsphäre betreffen.

    In der bundesrätlichen Botschaft zum OHG (BBl 1990 II 961 ff.) wird
dazu festgehalten (S. 984/985), der Konflikt zwischen dem staatlichen
Strafverfolgungsanspruch, der nach einer möglichst umfassenden und
ungehinderten Aufklärung von Straftaten rufe, und dem Anspruch des Opfers
auf Schutz vor Verletzungen seiner Persönlichkeit im Strafverfahren
werde in den geltenden Regelungen des Zeugnisverweigerungsrechts noch
weitgehend zu Lasten des Opfers gelöst. Bei der Befragung des Opfers
als Zeuge treffe dieses eine allgemeine Zeugnispflicht, die nur durch
einzelne gesetzlich vorgesehene Ausnahmen beschränkt werde, zu denen in
der Regel ein allgemeines Zeugnisverweigerungsrecht naher Verwandter sowie
ein Recht, die Antwort auf Fragen zu verweigern, die den Zeugen oder ihm
nahestehende Personen der Gefahr strafrechtlicher Verfolgung aussetzen
können, gehören. Mit dem vorgeschlagenen Aussageverweigerungsrecht gemäss
Art. 7 Abs. 2 OHG soll laut Botschaft ein gewisser Ausgleich geschaffen
werden. Die Neuregelung werde namentlich den Opfern von Straftaten gegen
die sexuelle Integrität einen besseren Schutz vor Verletzungen ihrer
Intimsphäre gewährleisten.

    Das OHG will also die in den Strafprozessordnungen vorgesehenen
Möglichkeiten der Aussageverweigerung nicht einschränken, sondern
im Gegenteil durch Art. 7 Abs. 2, der abweichendem kantonalem Recht
vorgeht, ergänzen. Aufgrund der Erfahrung, dass manche Opfer von
Sexualdelikten, etwa von Vergewaltigungen, von einer Strafanzeige auch
deshalb absehen, weil sie u.a. die Fragen betreffend ihre Intimsphäre
als demütigend empfinden, sollen die Opfer deren Beantwortung zum Schutz
ihrer Persönlichkeit verweigern dürfen. Damit kann zwar einerseits die
Anzeigebereitschaft der Opfer erhöht werden, doch nimmt der Gesetzgeber
zugleich auch in Kauf, dass der Angeschuldigte der angezeigten Tat nicht
überführt werden kann, wenn und weil das Opfer zu bestimmten Fragen
betreffend seine Intimsphäre im Sinne von Art. 7 Abs. 2 OHG die Aussage
verweigert (siehe dazu THOMAS MAURER, Das Opferhilfegesetz und die
kantonalen Strafprozessordnungen, ZStrR 111/1993 S. 375 ff., 385, 388;
JÜRG AESCHLIMANN, Die Zukunft des schweizerischen Strafprozessrechts,
ZStrR 109/1992 S. 355 ff., 363 Fn. 33).

    d) Die auf das kantonale Strafprozessrecht gestützte Erkenntnis der
Vorinstanz, dass dem damals vierjährigen Mädchen in dem gegen seinen Vater
eröffneten Strafverfahren wegen mehrfacher sexueller Nötigung etc. zu
seinem Nachteil als Auskunftsperson ein dem Zeugnisverweigerungsrecht
entsprechendes Aussageverweigerungsrecht wegen Verwandtschaft zustehe und
dass es dieses Recht gültig ausgeübt habe, verstösst somit weder gegen
Sinn und Zweck des Sexualstrafrechts noch gegen Sinn und Zweck des OHG.