Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 120 IV 172



120 IV 172

28. Urteil des Kassationshofes vom 3. August 1994 i.S. S. gegen
Staatsanwaltschaft des Kantons Zug (Nichtigkeitsbeschwerde) Regeste

    Art. 41 StGB, Art. 272 Abs. 7 BStP; erneute Gewährung des bedingten
Strafvollzugs nach Gutheissung der Nichtigkeitsbeschwerde; Anrechnung
der bereits ausgestandenen Probezeit.

    Verurteilt die kantonale Behörde den Betroffenen zu einer bedingten
Freiheitsstrafe und heisst das Bundesgericht eine gegen ihren Entscheid
erhobene Nichtigkeitsbeschwerde gut, hat sie bei der Neubeurteilung
zu berücksichtigen, dass der Betroffene zwischen der Eröffnung ihres
aufgehobenen Urteils und der Mitteilung des Bundesgerichtsentscheids
bereits unter Probe gestanden ist. Spricht sie erneut eine bedingte Strafe
aus, hat sie die bereits ausgestandene auf die neue Probezeit anzurechnen.

Sachverhalt

    A.- Am 1. Dezember 1987 verurteilte das Strafobergericht des Kantons
Zug S. zweitinstanzlich wegen fortgesetzten Pfändungsbetruges zu zwei
Monaten Gefängnis, bedingt bei einer Probezeit von zwei Jahren.

    B.- Am 27. Juni 1988 hiess das Bundesgericht eine von S. dagegen
erhobene eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde teilweise gut, hob das
angefochtene Urteil auf und wies die Sache zur Neubeurteilung an die
Vorinstanz zurück (BGE 114 IV 11).

    C.- Am 14. Dezember 1993 verurteilte das Strafobergericht S. wegen
mehrfachen Pfändungsbetruges zu einem Monat Gefängnis, bedingt bei einer
Probezeit von zwei Jahren.

    D.- S. führt eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag,
das Urteil des Strafobergerichtes vom 14. Dezember 1993 aufzuheben und
die Sache an die Vorinstanz zurückzuweisen, damit diese auf die Ansetzung
einer Probezeit verzichte.

Auszug aus den Erwägungen:

             Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Der Beschwerdeführer wendet sich einzig gegen die Ansetzung der
Probezeit von zwei Jahren. Er macht geltend, er habe sich in der von
der Vorinstanz in ihrem ersten Urteil angesetzten Probezeit bewährt. Es
gehe nicht an, ihm erneut eine Probezeit aufzuerlegen allein deshalb,
weil das erste Urteil der Vorinstanz bundesrechtswidrig gewesen und vom
Bundesgericht daher aufgehoben worden sei. Entgegen der Vorinstanz komme es
nicht einem Strafverzicht gleich, wenn von der Anordnung einer Probezeit
abgesehen würde. Hätte er während der im ersten Urteil festgelegten
Probezeit eine Straftat begangen und wäre die Nichtigkeitsbeschwerde
abgewiesen worden, hätte er die Strafe verbüssen müssen.

Erwägung 2

    2.- a) Die Probezeit beginnt mit der Eröffnung des Urteils zu laufen,
das vollstreckbar wird. Da die eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde
die Vollziehung des damit angefochtenen kantonalen Urteils nicht
hemmt (Art. 272 Abs. 7 BStP), bleibt es trotz Einlegung dieses
Rechtsmittels vollstreckbar und entfaltet die gesetzlichen Folgen,
insbesondere in bezug auf die Probezeit (BGE 74 IV 12 E. 1; 118 IV 102
E. 1b mit Hinweisen). Begeht der Verurteilte während des eidgenössischen
Rechtsmittelverfahrens eine weitere Straftat und weist das Bundesgericht
die Nichtigkeitsbeschwerde ab, so hat der Verurteilte in der Probezeit
delinquiert, weshalb über den Widerruf des bedingten Strafvollzuges zu
entscheiden ist.

    Heisst das Bundesgericht die eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde
gut und hebt es deshalb das kantonale Urteil auf, stellt sich die Frage,
was mit der angebrochenen oder schon abgelaufenen Probezeit, die jedenfalls
faktisch bestanden hat, geschieht.

    b) Das Bundesgericht äusserte sich in BGE 79 IV 156 zu einer
vergleichbaren Fragestellung. Der Täter war im Jahre 1947 zu vier
Monaten Gefängnis verurteilt worden, bedingt bei einer Probezeit von vier
Jahren. Im Jahre 1953 wurde die Verurteilung im Wiederaufnahmeverfahren
aufgehoben und der Täter neu mit zwei Monaten Gefängnis bestraft,
unter Gewährung des bedingten Strafvollzugs bei einer Probezeit von
zwei Jahren. Das Bundesgericht legte dar, der Richter dürfe über
Rechtsfolgen, die aufgrund des rechtskräftig gewesenen früheren
Urteils bereits eingetreten seien, nicht hinwegsehen, als ob dieses
Urteil überhaupt nie ausgefällt worden wäre. Für den Verurteilten
sei es ein Rechtsnachteil gewesen, aufgrund des früheren Urteils auf
die Probe gestellt zu sein. Dieser Rechtsnachteil dürfe in einem nach
Wiederaufnahme des Strafverfahrens ausgefällten Urteil nicht erneuert
werden. Soweit sich der Richter im neuen Urteil zur Frage des bedingten
Strafvollzugs äussere, gehe es dabei nur um die Feststellung, ob diese
Massnahme im früheren Urteil zu Recht ausgesprochen worden und unter
anderem hinsichtlich der Dauer der Probezeit richtig ausgestaltet worden
sei. Wie lange die Probezeit gedauert habe, beurteile sich dann aufgrund
des neuen Urteils. Für die Frage, ob sich der Verurteilte bewährt habe,
sei dagegen sein Verhalten in der Zeit nach Eintritt der Rechtskraft
des früheren Urteils massgebend. In verschiedenen Bestimmungen des
Strafgesetzbuchs finde sich die Regel, dass auf Rechtsfolgen, die der
Betroffene wegen seiner Tat vor der Ausfällung des letzten Urteils erlitten
hat, Rücksicht zu nehmen sei (Art. 4 Abs. 2, Art. 6 Ziff. 2 Abs. 4 StGB
betreffend Anrechnung einer im Ausland verbüssten Strafe; Anrechnung von
Untersuchungshaft [Art. 69 StGB]; Anrechnung bereits verbüsster Strafen
auf eine nachträglich ausgefällte Gesamtstrafe [Art. 336 lit. d StGB]).

    Der Sache nach auf entsprechenden Überlegungen beruht BGE 114
IV 138: Wird der Gesuchsteller im zu seinen Gunsten angeordneten
Wiederaufnahmeverfahren erneut verurteilt, so ist in bezug auf die Frist
zur Löschung des Eintrags im Strafregister von der Fiktion auszugehen,
das neue Urteil sei bereits im Zeitpunkt des aufgehobenen ausgesprochen
worden (E. 3b).

    c) Diese im Zusammenhang mit einer neuen Verurteilung nach
Bewilligung der Wiederaufnahme des Verfahrens entwickelten Grundsätze
sind analog anzuwenden auf die hier gegebene Fragestellung. Hebt das
Bundesgericht ein kantonales Urteil in Gutheissung einer dagegen erhobenen
eidgenössischen Nichtigkeitsbeschwerde auf, hat die kantonale Behörde
bei der Neubeurteilung der Sache zu berücksichtigen, dass der Verurteilte
zwischen der Eröffnung ihres aufgehobenen Entscheids und der Mitteilung
des Bundesgerichtsurteils bereits unter Probe gestanden hat. Verurteilt
sie den Betroffenen erneut zu einer bedingten Freiheitsstrafe, hat sie
deshalb diese bereits ausgestandene auf die neue Probezeit anzurechnen.

    Der Beschwerdeführer dürfte hier zwischen dem 1. Dezember 1987
(erstes Urteil der Vorinstanz) und dem 29. August 1988 (Zustellung des
bundesgerichtlichen Urteils vom 27. Juni 1988) unter Probe gestanden
haben. Die Vorinstanz wird dies im einzelnen allerdings noch festzustellen
haben. Diese Probezeit hätte die Vorinstanz auf die in ihrem zweiten
Urteil festgesetzte Probezeit anrechnen müssen. Bei der Neubeurteilung der
Sache wird die Vorinstanz überdies die Zeit zwischen der Eröffnung ihres
zweiten Urteils und der Mitteilung des vorliegenden Bundesgerichtsurteils
anzurechnen haben. Diese Anrechnungen sind im Urteil ausdrücklich zu
erwähnen, und entsprechend ist der Strafregistereintrag vorzunehmen.

    d) Die Nichtigkeitsbeschwerde ist in diesem Sinne teilweise
gutzuheissen. Unbegründet ist der Antrag, es sei auf die Ansetzung
einer Probezeit überhaupt zu verzichten. Zwischen der Eröffnung des
ersten Urteils der Vorinstanz und der Zustellung des dazu ergangenen
Bundesgerichtsurteils liegen rund neun Monate. Zählt man die Zeit
zwischen der Eröffnung des zweiten kantonalen Urteils und der Mitteilung
des vorliegenden Bundesgerichtsurteils dazu, hat der Beschwerdeführer
jedenfalls noch nicht zwei Jahre unter Probe gestanden. Es kann deshalb
offenbleiben, ob dort, wo die bereits ausgestandene Probezeit die im neuen
Urteil an sich anzusetzende erreicht, auf die Anordnung einer Probezeit
zu verzichten ist oder ob in derartigen Fällen formell eine Probezeit
anzuordnen, aber - ähnlich wie bei der Anrechnung von die Strafdauer
mindestens erreichender Untersuchungshaft - gleichzeitig festzustellen ist,
dass die Probezeit zufolge Anrechnung bereits abgelaufen ist.