Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 120 IV 169



120 IV 169

27. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 17. Juni
1994 i.S. B. gegen Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau
(Nichtigkeitsbeschwerde) Regeste

    Art. 12 und 125 StGB; fahrlässige Körperverletzung, actio libera
in causa.

    Die Haftung unter dem Gesichtspunkt der actio libera in causa
erfordert, dass der Täter im Zeitpunkt der vollen Schuldfähigkeit
voraussehen konnte, er werde ein bestimmtes Delikt begehen. Der spätere
Geschehensablauf muss für den Täter dabei mindestens in seinen wesentlichen
Zügen voraussehbar sein. Vorhersehbarkeit des Geschehensablaufs verneint
bei einem alkoholisierten Fahrzeugführer, der sich durch das Fehlverhalten
eines andern Verkehrsteilnehmers zu einer mit einer Körperverletzung
endenden Verfolgungsjagd hat provozieren lassen.

Sachverhalt

    A.- B. fuhr am 26. April 1991, um ca. 22.30 Uhr, mit seinem
Personenwagen "Mercedes Benz 350 SE" auf der Oberrohrdorferstrasse
von Fislisbach in Richtung Oberrohrdorf. In Niederrohrdorf mündete
ein unbekannter Personenwagen derart knapp vor ihm rechts auf die
Hauptstrasse ein, dass er eine Vollbremsung machen musste. B. wendete
sein Fahrzeug unverzüglich und nahm die Verfolgung des unbekannten
Personenwagens auf. Er fuhr mit weit übersetzter Geschwindigkeit auf
der Oberrohrdorferstrasse zurück in Richtung Baden und missachtete
dabei sowohl die zulässige Höchstgeschwindigkeit ausserorts von 80 km/h
als auch die signalisierte Höchstgeschwindigkeit innerorts von 60 km/h.
Auf der Höhe des Fussballstadions Esp fuhr er mit grosser Heftigkeit auf
einen vor ihm fahrenden Personenwagen auf, der wegen der nahen Einmündung
in die Badenerstrasse seine Fahrt verlangsamte. Dieser Personenwagen
kam aufgrund des Aufpralls von der Strasse ab und kollidierte mit einem
Holzlattenzaun. Drei Personen, die sich im vorausfahrenden Auto befanden,
erlitten ein Schleudertrauma der Halswirbelsäule. Zehneinhalb Monate nach
dem Unfall befanden sie sich immer noch in ärztlicher Behandlung. Bei
einem Opfer besteht die Gefahr einer bleibenden Behinderung im Umfang
von 20 Prozent.

    B. wies zur Zeit der Tat eine Blutalkoholkonzentration von 2,09 -
2,32 Gewichtspromillen auf.

    B.- Am 12. März 1992 verurteilte das Bezirksgericht Baden B. wegen
fahrlässiger Körperverletzung, Führens eines Motorfahrzeugs in
angetrunkenem Zustand und weiterer SVG-Delikte zu 12 Monaten Gefängnis
(unbedingt) und Fr. 2'000.-- Busse.

    C.- Auf Berufung von B. hin erkannte das Obergericht des Kantons
Aargau am 4. November 1993 auf eine Strafe von zehn Monaten Gefängnis
(unbedingt) und Fr. 2'000.-- Busse.

    D.- B. führt eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag,
das Urteil des Obergerichts aufzuheben und die Sache zur Neubeurteilung
an die Vorinstanz zurückzuweisen.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- a) Gemäss Art. 12 StGB sind die Bestimmungen der Art. 10
und 11 StGB über die Unzurechnungsfähigkeit bzw. die verminderte
Zurechnungsfähigkeit nicht anwendbar, wenn die schwere Störung oder
die Beeinträchtigung des Bewusstseins vom Täter selbst in der Absicht
herbeigeführt wurde, in diesem Zustande die strafbare Handlung zu
verüben. Das Gesetz umschreibt damit die vorsätzliche sogenannte
actio libera in causa (d.h. das verantwortliche Ingangsetzen
des Geschehensablaufs). Der Grundsatz ist aber auch anwendbar
bei der fahrlässigen actio libera in causa: Die Verminderung der
Zurechnungsfähigkeit ist unbeachtlich, wenn der Täter in diesem Zustand
eine fahrlässige Straftat begeht und die Tat für ihn zur Zeit, als er noch
voll zurechnungsfähig war, bei pflichtgemässer Aufmerksamkeit voraussehbar
war (vgl. BGE 117 IV 292 E. 2 mit Hinweisen).

    b) Die Vorinstanz hat in bezug auf das Fahren in angetrunkenem Zustand
die volle Verantwortlichkeit des Beschwerdeführers unter dem Gesichtspunkt
der actio libera in causa zu Recht und unangefochten bejaht. Zu prüfen ist
somit einzig, ob für ihn zur Zeit, als er noch voll zurechnungsfähig war,
bei pflichtgemässer Aufmerksamkeit voraussehbar war, er werde sich durch
das Fehlverhalten eines andern Verkehrsteilnehmers zu einer mit einer
Körperverletzung endenden Verfolgungsjagd provozieren lassen.

    c) Für die Haftung unter dem Gesichtspunkt der actio libera in causa
genügt es nicht, wenn für den Täter nur die Möglichkeit irgendeines
nicht näher konkretisierten Deliktes vorauszusehen war. Die Haftung
erfordert vielmehr, dass der Täter im Zeitpunkt der vollen Schuldfähigkeit
voraussehen konnte, er werde ein bestimmtes Delikt begehen (STRATENWERTH,
Schweizerisches Strafrecht, Allg. Teil I, § 11 N. 44). Dabei ist nicht
notwendig, dass der Täter den späteren Geschehensablauf in allen seinen
Einzelheiten voraussehen konnte. Mindestens in seinen wesentlichen Zügen
musste er für ihn aber voraussehbar sein, da er sonst nicht die Pflicht
haben konnte, sich darauf einzustellen (STRATENWERTH, aaO, § 16 N. 17;
NOLL/TRECHSEL, Schweizerisches Strafrecht, Allg. Teil I, 3. Aufl., S. 223).

    d) Die Vorinstanz legt dar, der Beschwerdeführer sei
emotional unausgeglichen gewesen und habe zu Gefühlsausbrüchen und
Unbeherrschtheiten geneigt. Mit diesem allgemeinen Hinweis lässt sich
die Vorhersehbarkeit des hier zu beurteilenden Geschehensablaufs
nicht begründen. Der Beschwerdeführer ist durch das Fehlverhalten
eines unbekannten Verkehrsteilnehmers zu einer Vollbremsung gezwungen
worden. Ein solches Fehlverhalten war zwar nicht ausgeschlossen, aber
es war nicht so naheliegend, dass der Beschwerdeführer zur Zeit, als
er zu trinken begann, bei pflichtgemässer Aufmerksamkeit damit hätte
rechnen müssen. Die Vorinstanz stützt sich bei der Beurteilung der
Frage, ob für den Beschwerdeführer seine Reaktion auf das Fehlverhalten
des unbekannten Fahrzeuglenkers voraussehbar war, im übrigen auf keine
konkreten Anhaltspunkte. Sie legt nicht dar, dass der Beschwerdeführer,
betrunken oder nüchtern, bereits einmal in einer Art wie hier kurzschlüssig
reagiert hätte. Sie stellt insbesondere nicht fest, dass sich in einem
der Fälle, die zu seinen Vorstrafen wegen Fahrens in angetrunkenem
Zustand geführt haben, etwas Vergleichbares zugetragen hätte. Unter
diesen Umständen ist der Vorwurf, der Beschwerdeführer hätte zur Zeit,
als er noch voll zurechnungsfähig war, bei pflichtgemässer Aufmerksamkeit
den zur Auffahrkollision führenden Geschehensablauf voraussehen müssen,
nicht begründet. Die Vorinstanz verletzt Bundesrecht, wenn sie unter
Rückgriff auf eine actio libera in causa insoweit eine Verminderung der
Zurechnungsfähigkeit verneint.

    e) Die Beschwerde ist daher gutzuheissen. Die Vorinstanz wird bei
der Neubeurteilung der Sache zu prüfen haben, ob und inwieweit die
Zurechnungsfähigkeit des Beschwerdeführers im Zusammenhang mit den auf
der Verfolgungsjagd begangenen Straftaten vermindert war. Gestützt darauf
wird sie neu zur Strafzumessung Stellung nehmen müssen.