Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 120 II 71



120 II 71

16. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung vom 8. Februar 1994 i.S. X.
AB gegen Y. und Z. (Berufung) Regeste

    Art. 1 Abs. 2 PatG; erfinderische Tätigkeit, Fachmann.

    Der Fachmann, auf den bei der Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit
abzustellen ist, braucht nicht eine Einzelperson mit Kenntnissen aus nur
einem Fachbereich zu sein. Unter bestimmten Voraussetzungen sind vielmehr
die Kenntnisse und Fähigkeiten einer ganzen Gruppe von Fachleuten aus
verschiedenen technischen Gebieten massgebend.

Sachverhalt

    A.- Die X. AB ist Inhaberin eines Schweizer Patentes für eine
Wegwerfwindel, das ihr unter Inanspruchnahme einer schwedischen Priorität
vom 25. Oktober 1982 am 31. März 1988 erteilt worden ist.

    Mit Klage vom 13. Juni 1989 stellten die Gesellschaften Y. und Z. beim
Handelsgericht des Kantons Bern den Antrag, es sei die Nichtigkeit des
Patentes der X. AB festzustellen. Darauf schränkte diese ihr Patent, das
in einem unabhängigen und in acht abhängigen Ansprüchen definiert war,
in teilweiser Anerkennung der Klage ein. Der unabhängige Anspruch lautete
nun wie folgt:

    "Wegwerfwindel, die mittels eines Druckklebebandes angelegt wird,
welche

    Windel umfasst: eine flüssigkeitsdurchlässige zum Anliegen am
Körper des

    Verwenders der Windel bestimmte Aussenschicht, eine flüssigkeitsdichte

    Aussenschicht, einen absorbierenden Körper, welcher zwischen den

    Aussenschichten angeordnet ist und an einem Ende der Windel
Bandlappen in
   der Nähe der Ecken der Windel angeordnet sind, die jeweils mit einem

    Abschnitt permanent mit der flüssigkeitsdichten Aussenschicht am
Ende der

    Windel verbunden sind, dadurch gekennzeichnet, dass ein
Kunststoffstreifen
   zum Befestigen der Bandlappen beim Anlegen der Windel an dem
   entgegengesetzten Ende der Windel befestigt ist und aus einem Material
   besteht, welches unelastisch ist und Eigenschaften zum Befestigen der

    Bandlappen aufweist, um diese zu lösen und wieder zu befestigen,
wobei der

    Kunststoffstreifen zur Steuerung der Adhäsion und

    Wiederbefestigungskapazität mit einer Prägung versehen ist."

    Die Beklagte hielt zudem an fünf abhängigen Patentansprüchen fest,
mit denen teils die Grösse sowie das Material und die Anordnung
des Kunststoffstreifens variiert, teils die Reissfestigkeit der
flüssigkeitsdichten Aussenschicht im Verhältnis zur Klebefestigkeit des
Klebstoffes der Bandlappen und des Kunststoffstreifens bestimmt wurde. Die
Klägerinnen beharrten indessen auch gegenüber dem so eingeschränkten
Patent auf ihrem Antrag auf Nichtigerklärung.

    Mit Urteil vom 1. Dezember 1992 stellte das Handelsgericht in
Gutheissung der Klage fest, das Patent der Beklagten sei auch in der
eingeschränkten Fassung nichtig. Die Nichtigkeit wurde damit begründet,
es fehle eine erfinderische Tätigkeit.

    Die Beklagte hat das Urteil des Handelsgerichts mit Berufung
angefochten, die vom Bundesgericht abgewiesen wird.

Auszug aus den Erwägungen:

                     Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- Der Bereich des Erfinderischen beginnt nach der Rechtsprechung
des Bundesgerichts erst jenseits der Zone, die zwischen dem vorbekannten
Stand der Technik und dem liegt, was der durchschnittlich gut ausgebildete
Fachmann des einschlägigen Gebiets gestützt darauf mit seinem Wissen
und seinen Fähigkeiten weiterentwickeln und finden kann. Entscheidend
ist daher, ob ein solcher Fachmann nach all dem, was an Teillösungen
und Einzelbeiträgen den Stand der Technik ausmacht, schon mit geringer
geistiger Anstrengung auf die Lösung des Streitpatentes kommen kann
oder ob es dazu eines zusätzlichen schöpferischen Aufwandes bedarf (BGE
114 II 82 E. 2b S. 85 f.; BGE vom 17. November 1989 in SMI 1990, E. 2b
S. 135). Diese Anforderungen an die erfinderische Tätigkeit, welche das
Patentgesetz mit dem Begriff des Nichtnaheliegens umschreibt (Art. 1 Abs. 2
PatG [SR 232.14]), galten im wesentlichen - damals unter dem Begriff der
Erfindungshöhe - schon vor der Revision des Patentgesetzes von 1978,
mit der dieses harmonisiert, das heisst an bestimmte internationale
Übereinkommen, darunter das Europäische Patentübereinkommen (EPÜ),
angeglichen worden ist (vgl. BBl 1976 II S. 1 ff.). Insoweit sind
Nichtnaheliegen und Erfindungshöhe inhaltsgleiche Begriffe, wie bereits
in zwei früheren Entscheiden festgehalten worden ist (vom 24. Juli 1991,
E. 2a, publ. in SMI 1993 S. 144 ff.; zit. Entscheid vom 17. November 1989,
E. 2b).

    Der durchschnittlich gut ausgebildete Fachmann, auf den bei der
Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit abgestellt wird, ist weder ein
Experte des betreffenden technischen Sachgebiets noch ein Spezialist
mit hervorragenden Kenntnissen. Er muss nicht den gesamten Stand der
Technik überblicken, jedoch über fundierte Kenntnisse und Fähigkeiten,
über eine gute Ausbildung sowie ausreichende Erfahrung verfügen und so für
den in Frage stehenden Fachbereich gut gerüstet sein (zit. Entscheid vom
24. Juli 1991, E. 2a; HILTY, Der Schutzbereich des Patents, S. 126). Die
erfinderische Tätigkeit ist - vereinfacht ausgedrückt - an den Fähigkeiten
eines Konstrukteurs und nicht an jenen eines Erfinders zu messen (vgl. ZR
1988 Nr. 91, E. 3). Bei der Bestimmung der erforderlichen Qualifikation
müssen indessen die Besonderheiten des technischen Zweiges berücksichtigt
werden. In diesem Sinne ist der gewerblichen Zielsetzung und der in
einem bestimmten Bereich üblichen Art, Fachleute einzusetzen, Rechnung
zu tragen. Das kann dazu führen, dass auf die Kenntnisse und Fähigkeiten
eines ganzen Forschungsteams oder eines Durchschnittsfachmanns abzustellen
ist, der von einem Stab von wissenschaftlich geschulten und forschenden
Mitarbeitern unterstützt wird (BENKARD/BRUCHHAUSEN, N. 11 zu § 4 DPatG;
SINGER, N. 16 zu Art. 56 EPÜ; PAGENBERG, Münchner Gemeinschaftskommentar,
N. 28 zu Art. 56 EPÜ). Ein solches Vorgehen drängt sich besonders dann
auf, wenn bereits der massgebende Stand der Technik auf einer Kombination
von Kenntnissen aus verschiedenen Bereichen der Technik beruht und jede
Weiterentwicklung die Berücksichtigung mehrerer technischer Teilbereiche
bedingt. Diesfalls handelt es sich zwangsläufig um einen kombinierten
Fachbereich, der aus verschiedenen Gebieten stammendes Wissen voraussetzt,
auf das auch der Durchschnittsfachmann im Sinne des Patentgesetzes
angewiesen ist. Abzustellen ist deshalb auf einen Fachmann, der in allen
technischen Gebieten, die von der Lehre des Streitpatentes berührt werden,
ein durchschnittliches Fachwissen besitzt oder es sich mit Hilfe eines
Mitarbeiterstabes aneignen kann.

    Im Lichte dieser Kriterien ist nicht zu beanstanden, dass das
Handelsgericht bei der Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit auf die
durchschnittlichen Kenntnisse und Fähigkeiten sowohl von Klebstoff- als
auch von Werkstofftechnikern abgestellt hat. Zum einen ist angesichts der
Entwicklungs- und Produktionsverhältnisse, wie sie bei der Fabrikation von
Wegwerfwindeln üblich sind, davon auszugehen, dass sich nicht ein einzelner
Techniker, sondern eine ganze Gruppe von Personen aus verschiedenen
technischen Bereichen mit der Entwicklung einer verbesserten Wegwerfwindel
beschäftigt. Zum andern setzt die Lösung der Aufgabe des Streitpatentes
(wiederholte Verschliessbarkeit der Wegwerfwindel) voraus, dass einerseits
das Adhäsionsverhalten der mit Klebstoff versehenen Bandlappen beachtet
und anderseits die Beschädigung der flüssigkeitsdichten Aussenschicht
beim Lösen der Bandlappen verhindert wird. Bei der Fortentwicklung des
Standes der Technik ist es deshalb unumgänglich, die Erkenntnisse aus
beiden Gebieten zu berücksichtigen. Dementsprechend hat der - im erwähnten
Sinne umschriebene - Fachmann im Gesamtbereich der Problemstellung Umschau
zu halten und muss sich, falls er lediglich über Kenntnisse in einem der in
Betracht fallenden, produktbedingt aber zusammenhängenden Gebieten verfügt,
auch jene des Nachbarbereichs aneignen oder erläutern lassen. Ist die
Fortentwicklung in beiden Teilbereichen für sich allein naheliegend,
so ist es auch deren Kombination, sofern diese nicht ihrerseits -
im Sinne einer Kombinationserfindung - auf erfinderischer Tätigkeit
beruht. Davon kann indessen im vorliegenden Fall keine Rede sein.
Festzuhalten ist schliesslich, dass die Berücksichtigung koordinierter
Fachkenntnisse entgegen dem Einwand der Beklagten nicht gegen das Verbot
der rückschauenden Betrachtungsweise (vgl. dazu BGE 69 II 421 E. I/4
S. 427) verstösst. Ein solches Vorgehen läuft nicht darauf hinaus, bloss
aus der Einfachheit der gefundenen Lösung rückblickend auf deren Naheliegen
zu schliessen. Es geht vielmehr darum, eine erfinderische Tätigkeit nicht
bereits deshalb zu bejahen, weil die Lösung verschiedene Merkmale aufweist,
die mehreren technischen Gebieten angehören, und dieses Zusammenwirken
für die Lösung der Aufgabe klar erkennbar notwendig ist.

    Ausgehend von den Fähigkeiten und Kenntnissen eines so umschriebenen
Fachmannes kann dem Schluss der Vorinstanz zugestimmt werden, dass der
mit dem Streitpatent aufgezeigten Lösung keine schöpferische Leistung
und damit keine erfinderische Tätigkeit im Sinne des Patentgesetzes
zugrunde liegt. Wie bereits erwähnt worden ist, liess sich die Idee,
die Wegwerfwindel durch einen Kunststoffstreifen im Verschlussbereich
zu verstärken, dem massgebenden Stand der Technik entnehmen. Ebenfalls
bekannt war, dass die Adhäsion und Wiederbefestigungskapazität durch
eine Prägung des Befestigungsbereichs gesteuert werden kann. Diese
beiden Erkenntnisse in bezug auf den Verschluss einer Wegwerfwindel zu
kombinieren, lag dem Fachmann offensichtlich nahe. Eine vorher bestehende
technische Fehlvorstellung (Vorurteil) wurde damit nicht überwunden. Dass
eine Lösung, die auf einer Kombination von Vorbekanntem beruht,
möglicherweise ein lange bestehendes praktisches Bedürfnis befriedigt,
reicht im übrigen für sich allein zur Bejahung einer erfinderischen
Tätigkeit nicht aus. Zusätzlich wäre zu fordern, dass die Kombination
nicht nahelag und besondere technische Schwierigkeiten zu meistern waren
(vgl. BENKARD/BRUCHHAUSEN, N. 19 zu § 4 DPatG). Beides ist aber nach
dem Gesagten im vorliegenden Fall zu verneinen. Das Handelsgericht hat
im weitern zutreffend darauf hingewiesen, dass das Streitpatent weder
über die Art der Prägung noch des zu verwendenden Klebstoffes etwas
aussage und sich deshalb auch in dieser Hinsicht keine erfinderische
Tätigkeit erkennen lasse. Der in diesem Zusammenhang erhobene Vorwurf,
das Handelsgericht habe die Bedeutung abhängiger Patentansprüche verkannt,
ist unerheblich. Die damit kritisierte Erwägung, wonach die Erwähnung
eines Merkmals erst im letzten abhängigen Anspruch (gemeint: in der
ursprünglichen Patentfassung) auf dessen Unwichtigkeit hindeute, ist zwar
in dieser allgemeinen Form fragwürdig. Die Vorinstanz hat indessen nicht
entscheidend darauf abgestellt, weshalb es sich erübrigt, die Frage im
Berufungsverfahren weiter zu erörtern.