Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 120 II 209



120 II 209

39. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung vom 24. Mai 1994 i.S. F. AG
c. M. (Berufung) Regeste

    Art. 82 OR. Leistungsverweigerungsrecht des Arbeitnehmers bei
Lohnrückstand.

    Solange der Arbeitgeber sich mit verfallenen Lohnzahlungen im Rückstand
befindet, ist der Arbeitnehmer in analoger Anwendung von Art. 82 OR befugt,
die Leistung von Arbeit zu verweigern (E. 6).

    Bei berechtigter Arbeitsverweigerung bleibt dem Arbeitnehmer der
laufende Lohnanspruch gewahrt, ohne dass er zur Nachleistung verpflichtet
wäre (analog Art. 324 Abs. 1 OR; E. 9).

Sachverhalt

    A.- Die F. AG, die das Institut F. betreibt, stellte mit Vertrag
vom 25. August 1990 M. als Hauswart mit einem monatlichen Bruttolohn von
Fr. 3'500.- an. Eine beidseits unterzeichnete Erklärung vom 16. Mai 1991
hält fest, dass sich die Parteien im gegenseitigen Einverständnis darauf
geeinigt haben, das Arbeitsverhältnis per 30. Mai 1991 aufzuheben. Trotz
dieser Vereinbarung war M. auch nach diesem Datum noch für die F. AG
tätig. Umfang und vertragliche Grundlage dieser Tätigkeit sind allerdings
streitig.

    Mit Klage vom 6. November 1991 machte M. beim Arbeitsgericht Sargans
die noch ausstehende Hälfte des Lohnes für den Juni 1991 sowie den
Lohn für Juli und August 1991 im Gesamtbetrag von Fr. 8'750.-- brutto
geltend. Die Beklagte stellte sich auf den Standpunkt, der Kläger sei
anfangs Juni 1991 nur noch einige Tage als Aushilfe tätig gewesen, wofür
er einen halben Monatslohn erhalten habe; erst anfangs September 1991 habe
die Beklagte sich entschlossen, den Kläger "formlos und auf Zusehen hin"
neu zu beschäftigen.

    B.- Am 23. Dezember 1991 schrieb die F. AG an M., er sei bekanntlich
nur auf Zusehen hin beschäftigt worden; das Arbeitsverhältnis werde auf
Ende 1991 aufgelöst, da auf Anfang 1992 ein neuer Hauswart gefunden worden
sei. Mit Schreiben vom 31. Dezember 1991 sprach die F. AG schliesslich
die fristlose Entlassung aus, da sich M. geweigert habe, Arbeiten für
sie auszuführen.

    Mit einer zusätzlichen Klage vom 4. Februar 1992 erhob M. Ansprüche von
insgesamt Fr. 20'000.-- wegen unberechtigter fristloser Entlassung. Der
Forderungsbetrag setzt sich zusammen aus den Löhnen für die ordentliche
Kündigungszeit von drei Monaten (Januar bis März 1992), dem Lohn für
Dezember 1991, einer Restlohnforderung von Fr. 1'885.-- für die Monate
September, Oktober und November 1991 sowie einer Entschädigung wegen
missbräuchlicher Kündigung.

    C.- Das Arbeitsgericht Sargans vereinigte die beiden Verfahren und
hiess mit Urteil vom 20. Dezember 1991/30. April 1992 die Klagen im Umfang
von Fr. 25'750.-- gut. Auf Berufung der Beklagten und Anschlussberufung
des Klägers änderte das Kantonsgericht St. Gallen diesen Entscheid am
10. September 1993 dahin, dass es dem Kläger Fr. 20'485.90 netto nebst 5%
Zins auf Fr. 8'189.20 seit 1. August 1991 zusprach.

    Das Bundesgericht weist die Berufung der Beklagten ab, heisst hingegen
die Anschlussberufung des Klägers gut.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 6

    6.- Das Kantonsgericht hält dafür, dass die am 31. Dezember 1991
erklärte Arbeitsverweigerung des Klägers keinen wichtigen Grund für
die fristlose Entlassung darstellte; da die Löhne für die Monate Juli
und August 1991 ganz, diejenigen für die Monate Juni und September bis
Dezember 1991 teilweise ausstanden, sei der Kläger gestützt auf Art. 82 OR
befugt gewesen, seine Arbeitsleistungen einzustellen, solange die Beklagte
ihren Lohnzahlungspflichten nicht nachgekommen sei. Die Beklagte rügt diese
Auffassung als bundesrechtswidrig. Ihrer Auffassung nach kommt Art. 82 OR
nicht zur Anwendung, weil der Kläger als Arbeitnehmer vorleistungspflichtig
gewesen sei.

    a) Ob sich der Arbeitnehmer bei Lohnrückstand auf die Einrede
des nicht erfüllten Vertrages berufen kann, ist umstritten. Ein Teil
der Lehre lehnt die Anwendbarkeit von Art. 82 OR unter Hinweis auf
die Vorleistungspflicht des Arbeitnehmers generell ab (REHBINDER,
Schweizerisches Arbeitsrecht, 10. Auflage 1991, S. 97; REHBINDER, im BK,
N. 25 zu Art. 323 OR; STREIFF/VON KÄNEL, N. 3 zu Art. 323 OR; BIRCHMEIER,
Der Lohnanspruch aus Dienstvertrag im Schweizerischen Obligationenrecht,
S. 113; wohl auch GUHL/MERZ/KOLLER, Das Schweizerische Obligationenrecht,
8. Aufl. 1991, S. 22 f.). Andere Autoren weisen jedoch darauf hin,
dass sich die Vorleistungspflicht nicht auf mehrere, sondern nur
auf eine Lohnperiode bezieht, und gestehen daher dem Arbeitnehmer die
Einrede zu, soweit der Arbeitgeber mit den bereits fälligen Zahlungen für
verflossene Lohnperioden im Rückstand ist (BK-WEBER, N. 90 zu Art. 82 OR;
ZK-SCHRANER, N. 112 zu Art. 82 OR; SIMMEN, Die Einrede des nichterfüllten
Vertrags, S. 63 f.; SCHWEINGRUBER, N. 5 zu Art. 337a OR; BRÜHWILER, N. 4
zu Art. 323 OR). Die kantonale Rechtsprechung ist ebenfalls gespalten
(gegen die Anwendbarkeit von Art. 82 OR: JAR 1985, S. 149 ff.; dafür:
GVP/SG 1972, Nr. 13).

    Das Kantonsgericht hat sich der zweitgenannten Meinung
angeschlossen. Ob Art. 82 OR direkt anwendbar ist, erscheint jedoch
fraglich. Da die Arbeit für den fälligen Lohn bereits erbracht,
die gegenwärtige Arbeitsleistung mithin nicht Gegenleistung der
ausstehenden Lohnzahlung, sondern eines künftigen Lohnanspruchs
ist, fehlt es - streng genommen - am Austauschverhältnis, das die
Einrede des nichterfüllten Vertrages voraussetzt (GUHL/MERZ/KOLLER,
aaO). Es rechtfertigt sich aber, dem Arbeitnehmer bei Ausbleiben
der Lohnzahlung für vergangene Lohnperioden zumindest in analoger
Anwendung von Art. 82 OR ein Leistungsverweigerungsrecht zuzugestehen
(sog. obligatorisches Retentionsrecht; vgl. BGE 94 II 263 E. 3a, S. 267
f.; 78 II 376 E. 2, S. 378). Art. 82 OR beruht auf dem allgemeinen
Grundgedanken, dass der Belangte nur insoweit gezwungen werden kann,
seine Leistung zu kreditieren, als er vertraglich zur Vorleistung
verpflichtet ist. Dieser Grundgedanke trifft insbesondere auch auf
Dauerschuldverhältnisse mit zeitlich verschobenen Fälligkeiten innerhalb
der einzelnen Leistungspaare zu. Davon geht das Bundesgericht in seiner
Rechtsprechung zum Sukzessivlieferungsvertrag seit jeher aus (BGE 84
II 149 f. mit Hinweisen). Für den Arbeitsvertrag kann nichts anderes
gelten (SIMMEN, aaO; vgl. auch ENGEL, Traité des obligations en droit
suisse, S. 442). Auch dem Arbeitnehmer muss die Möglichkeit offenstehen zu
verhindern, dass er dem Arbeitgeber auf unbestimmte Zeit Kredit gewährt und
das Risiko trägt, die Gegenleistung nicht zu erhalten (WEBER, aaO). Solange
der Arbeitgeber sich mit verfallenen Lohnzahlungen im Rückstand befindet,
kann daher der Arbeitnehmer die Leistung von Arbeit verweigern.

    b) Ausgehend von der Feststellung der Vorinstanz, dass die Beklagte
Ende Dezember 1991 mit den Lohnzahlungen für die Vormonate erheblich
im Rückstand war, war der Kläger nach dem Gesagten befugt, seine
Arbeitsleistungen einzustellen. Damit erweist sich auch der Schluss
des Kantonsgerichts als bundesrechtskonform, dass der Kläger mit seiner
Arbeitsverweigerung keinen wichtigen Grund gesetzt hat, der die von der
Beklagten ausgesprochene fristlose Entlassung rechtfertigen würde. (...).

Erwägung 9

    9.- Da der Kläger ohne wichtigen Grund fristlos entlassen worden
ist (E. 6 hievor), hat er nach Art. 337c Abs. 1 OR Anspruch auf Ersatz
dessen, was er verdient hätte, wenn das Arbeitsverhältnis unter Einhaltung
der Kündigungsfrist beendigt worden wäre. Davon geht an sich auch das
Kantonsgericht aus. Dennoch weist es aber die Lohnersatzforderung des
Klägers für die Monate Januar bis März 1992 zurück. Die Vorinstanz
hält dem Kläger entgegen, dass er sich geweigert habe, über den
31. Dezember 1991 hinaus für die Beklagte weitere Arbeitsleistungen
zu erbringen. Hätte das Arbeitsverhältnis weiter bestanden, so hätte
diese Arbeitsverweigerung, obwohl sie berechtigt gewesen sei, einen
Lohnanspruch des Klägers ausgeschlossen. Im Kern sei nämlich auch
der Arbeitsvertrag ein schuldrechtliches Austauschverhältnis. Zwischen
Lohnanspruch und Arbeitsleistung bestehe ein Gegenseitigkeitsverhältnis:
Ohne Arbeit sei grundsätzlich kein Lohn geschuldet. Da dem Kläger somit
über den 31. Dezember 1991 selbst bei fortbestehendem Arbeitsverhältnis
kein weiterer Lohnanspruch entstanden wäre, entfalle auch jeglicher
Schadenersatz.

    Gegen diese Erwägungen wendet sich der Kläger mit seiner
Anschlussberufung. Er erblickt darin eine Verletzung von Art. 82 in
Verbindung mit Art. 323 OR sowie von Art. 337c Abs. 1 OR.

    a) Die Argumentation des Kantonsgerichts vermag in der Tat nicht zu
überzeugen. Es geht nicht an, einerseits dem Arbeitnehmer bei Lohnrückstand
ein Leistungsverweigerungsrecht zuzubilligen, ihn anderseits aber für
die Zeit der berechtigten Arbeitsverweigerung seines Lohnanspruches
verlustig gehen zu lassen. Denn damit würde der Arbeitnehmer - wie der
Kläger mit Recht geltend macht - gezwungen, seine Arbeitsleistung trotz
ausstehender Lohnzahlungen weiterhin zu erbringen, um den laufenden
Lohnanspruch nicht zu verlieren. Das aber liefe dem Sinn und Zweck des
Leistungsverweigerungsrechts (vgl. E. 6a hievor) zuwider.

    Da bei der berechtigten Arbeitsverweigerung - wie im Falle des
Annahmeverzuges - der Arbeitgeber das Ausfallen der Arbeitsleistung zu
vertreten hat, rechtfertigt sich eine analoge Anwendung von Art. 324
Abs. 1 OR (vgl. STREIFF/VON KÄNEL, N. 10 zu Art. 324 OR). Danach hat der
Arbeitgeber, wenn die Arbeit infolge seines Verschuldens nicht geleistet
werden kann, den Lohn trotz fehlender Gegenleistung zu entrichten,
ohne dass der Arbeitnehmer zur Nachleistung verpflichtet ist. Dieselbe
Rechtsfolge lässt sich auch aus der Natur des Arbeitsvertrages als
Dauerschuldverhältnis mit fortlaufender Leistungspflicht ableiten:
Da sich die geschuldeten Arbeitsleistungen nach der Dauer des
Rechtsverhältnisses richten und nicht die Dauer des Rechtsverhältnisses
nach den Arbeitsleistungen, sind ausgefallene Arbeitsleistungen nicht mehr
nachholbar, bleibt die Vertragspflicht somit teilweise unerfüllbar. Den
Verlust, der sich daraus ergibt, hat der Arbeitgeber, der dem Arbeitnehmer
Anlass zu berechtigter Arbeitsverweigerung gibt, aber seinem eigenen
Verhalten zuzuschreiben (BK-WEBER, N. 90 zu Art. 82 OR).

    b) Entgegen der Auffassung der Vorinstanz steht demnach dem Kläger
für die Monate Januar bis März 1992 ein Anspruch auf Lohnersatz zu. Dem
Einwand der Beklagten, mit der Entschädigung gemäss Art. 337c Abs. 3 OR
von Fr. 8'500.-- sei "der ganze Komplex abgegolten" und der Kläger könne
"keine Doppelzahlung" fordern, kann nicht gefolgt werden. Die Entschädigung
gemäss Art. 337c Abs. 3 OR ist neben dem Ersatz des entgangenen Lohnes
geschuldet (BK-REHBINDER, N. 8 zu Art. 337c OR). Entgegen der Bezeichnung
als "Entschädigung" im Gesetzestext handelt es sich nicht um einen
Schadenersatzanspruch, sondern um eine Strafzahlung (STREIFF/VON KÄNEL,
N. 17 zu Art. 337c OR; BK-REHBINDER, N. 8 zu Art. 337c OR und N. 1 zu
Art. 336a OR; BRUNNER/BÜHLER/WAEBER, N. 9 zu Art 337c OR; vgl. auch BGE
119 II 157 E. 2b, S. 160). Die Ansprüche aus Art. 337c Abs. 1 und 3 OR
sind daher auseinanderzuhalten und schliessen sich gegenseitig nicht aus.