Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 120 II 185



120 II 185

35. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilabteilung vom 23. Juni 1994 i.S. K.
gegen G. (Berufung) Regeste

    Voraussetzungen für ein Notwegrecht (Art. 694 ZGB).

    Welche Bedeutung kommt den öffentlich-rechtlichen Bestimmungen
für die Frage zu, ob ein Grundstück einen genügenden Zugang zu einer
öffentlichen Strasse hat? Es kann kein Notwegrecht beansprucht werden,
wenn das Grundstück zwar an eine öffentliche Strasse grenzt, aus Gründen
der Verkehrssicherheit aber an dieser Stelle keine von Motorfahrzeugen
benutzte Zufahrt erstellt werden darf.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- a) Gemäss Art. 694 Abs. 1 ZGB kann der Grundeigentümer, der
keinen genügenden Weg von seinem Grundstück auf eine öffentliche Strasse
hat, beanspruchen, dass ihm die Nachbarn gegen volle Entschädigung einen
Notweg einräumen. Das Bundesgericht hat die Gewährung eines Notwegrechts
in konstanter Praxis von strengen Voraussetzungen abhängig gemacht. Aus
der Entstehungsgeschichte des Art. 694 ZGB hat es abgeleitet, dass der
nachbarrechtliche Anspruch auf Gewährung eines Wegrechts nur in einer
eigentlichen Notlage geltend gemacht werden könne (BGE 105 II 180).
Entsprechend kann für die blosse Verbesserung von nicht ganz vollkommenen
Wegverhältnissen kein Notweg eingeräumt werden (BGE 80 II 317).

    b) Schon in seiner älteren Rechtsprechung hat das Bundesgericht
erkannt, dass die öffentlich-rechtlichen Anforderungen an die Zufahrt
für eine Überbauung keine Wegenot begründen können. So hat es einer
Grundeigentümerin, die, um eine Baubewilligung zu erhalten, einen Notweg
beanspruchen wollte, entgegengehalten, mit einem geänderten Bauprojekt
sei die Nutzung der Parzelle auch ohne diesen Notweg möglich (BGE 85
II 398) und es sei nicht nach Massgabe des kantonalen öffentlichen
Rechts, sondern aufgrund des Bundesprivatrechts zu bestimmen, was als
genügender Weg zu gelten habe (BGE 85 II 400 f.). Bei der Frage, was
unter der bestimmungsgemässen Nutzung des Grundstücks zu verstehen sei,
hat das Bundesgericht indessen stets die öffentlich-rechtlichen Normen
berücksichtigt. Liegt das Land in der Bauzone, so ist das Erstellen eines
Wohnhauses eine bestimmungsgemässe Nutzung (BGE 93 II 170). Demgegenüber
fehlt es schon am Bedürfnis einer motorfahrzeugmässigen Erschliessung,
wenn das Grundstück aus öffentlich-rechtlichen Gründen vorerst gar
nicht überbaut werden darf (BGE 110 II 127 f.). In seiner neusten
Rechtsprechung hält das Bundesgericht schliesslich fest, dass, solange
die öffentlich-rechtliche Zulässigkeit einer Überbauung nicht geklärt ist,
gar kein aktuelles Interesse an einem dieser dienenden Notweg bestehen kann
(BGE 117 II 40).

    c) Die Zonenordnung sollte eigentlich dazu führen, dass Grundstücke
in der Bauzone planmässig erschlossen werden und damit gar keine Wegenot
entstehen kann. Indessen zeigt sich immer wieder, dass es auch in zur
Überbauung bestimmten Gebieten Parzellen gibt, die über keinen genügenden
Zugang zur öffentlichen Strasse verfügen. Während die ältere Lehre hier
ohne weiteres auf das Institut des Notwegrechts zurückzugreifen scheint
(LIVER, Das Eigentum, SPR Bd. V/1, Basel 1977, S. 268 f.), verweist
das Bundesgericht in seinen neueren Entscheiden den Grundeigentümer
in erster Linie auf die öffentlich-rechtlichen Rechtsinstitute
(unveröffentlichter Entscheid vom 15. Juni 1990, i.S. H. c. A.,
E. 2). Solange mit öffentlich-rechtlichen Mitteln eine angemessene
Erschliessung erreicht werden kann, besteht keine Wegenot. Hat bei einer
Einzonung eines grösseren Grundstücks mit anschliessender Parzellierung
nicht jede Einzelparzelle eine rechtlich und faktisch genügende Zufahrt
zu einer öffentlichen Strasse, so ist dieser Mangel in erster Linie mit
raumplanerischen Mitteln zu beheben (Art. 19 des Bundesgesetzes über
die Raumplanung (RPG [SR 700]). Gemäss Art. 15 RPG umfassen Bauzonen
das Land, das sich für die Überbauung eignet und weitgehend überbaut
ist (Buchst. a) oder voraussichtlich innert 15 Jahren benötigt und
erschlossen wird (Buchst. b). Art. 19 Abs. 2 RPG bestimmt, dass die
Bauzonen durch das Gemeinwesen zeitgerecht zu erschliessen sind. Das
Bundesgericht hat verschiedentlich auf diese Erschliessungspflicht
hingewiesen und in Verbindung mit der Forderung nach sachgerechter
Planung in gewissen Fällen daraus sogar eine Einzonungspflicht
abgeleitet (BGE 112 Ia 157). Eine solche Pflicht ergibt sich auch
aus Art. 5 Wohnbau- und Eigentumsförderungsgesetz (WEG [SR 843]; BGE
119 Ib 132). Bei jeder unerschlossenen Bauparzelle ein Notwegrecht
einzuräumen, ohne den Grundeigentümer vorgängig zur Ausschöpfung der
öffentlich-rechtlichen Mittel anzuhalten, könnte dem Zweck der Raumplanung
geradezu zuwiderlaufen. Wird nämlich die Erschliessung vom Gemeinwesen
oder von einer Privatperson unter Mitwirkung des Gemeinwesens (Art.
19 Abs. 3 RPG) dann später durchgeführt und wird dabei für ein Grundstück
ein anderer Zugang vorgesehen als der dem Eigentümer eingeräumte Notweg,
führt dies zu einer Beeinträchtigung der Planung. Die Planer werden vor
vollendete Tatsachen gestellt, und es bleibt ihnen nur noch die Wahl,
zwischen zwei allenfalls ungeeigneten Lösungen zu entscheiden: Entweder sie
passen die Planung dem bestehenden Notweg an, oder sie beziehen den Notweg
nicht in ihre Erschliessungspläne ein, was zu einer doppelten Zufahrt und
damit zu einer Landverschwendung führt (nicht veröffentlichter Entscheid
vom 15. Juni 1990, i.S. H. c. A., E. 2b).

    Dem angefochtenen Entscheid ist nicht zu entnehmen, ob die fraglichen
Grundstücke in der Bauzone liegen. Trifft dies für das Grundstück des
Klägers nicht zu, so kann sich dieser für einen Erschliessungsanspruch
nicht auf Art. 19 Abs. 2 RPG berufen. Ja es erscheint sogar fraglich,
ob ausserhalb der Bauzone eine Strasse zur Erschliessung einer Parzelle
überhaupt gebaut werden darf (vgl. BGE 118 Ib 498 ff.). Von daher steht
gar nicht fest, ob die Gewährung eines Notweges die Wegenot überhaupt
beseitigen kann. Neben dem eidgenössischen Recht finden sich auch im
kantonalen Bau- und Planungsrecht Normen über die Erschliessung von
Grundstücken. Entsprechend bestimmt Art. 7 des Baugesetzes des Kantons Bern
vom 9. Juni 1985 (BauG BE), dass Bauvorhaben nur bewilligt werden dürfen,
wenn das Baugrundstück genügend erschlossen ist. Die Gemeinden können in
einer Überbauungsordnung die Erschliessung eines Gebietes vorsehen (Art. 88
BauG). Mit der Genehmigung der Überbauungsordnung wird gleichzeitig das
Enteignungsrecht erteilt (Art. 128 BauG BE; ZAUGG, Kommentar zum Baugesetz
des Kantons Bern vom 9. Juni 1985, Bern 1987, N. 8 zu Art. 88/89). Für
den Landerwerb im Strassenbau kann auch die Baulandumlegung durchgeführt
werden (Art. 119 BauG BE mit Verweis auf das Strassenbaugesetz). Ob der
Kläger einen Anspruch darauf hat, dass das Gemeinwesen mit planerischen
Mitteln seine Parzelle zeitgemäss erschliesst, braucht indessen vorliegend
nicht beurteilt zu werden. Der direkte Zugang zur öffentlichen Strasse
ist nämlich nicht wegen raumplanerischen, sondern aus verkehrstechnischen
Gründen abgelehnt worden.

    d) Während den öffentlich-rechtlichen Normen für die bestimmungsgemässe
Nutzung des Grundstücks und die Festlegung der Erschliessungsweise von
Bauland entscheidende Bedeutung zukommt, stellt das Bundesgericht für
die Frage, ob die vorhandenen Wegverhältnisse eine Zufahrt mit einem
Motorfahrzeug aus rechtlicher Sicht erlauben, grundsätzlich nicht auf
die öffentlich-rechtlichen Normen ab. So hat es die Voraussetzungen für
ein Notwegrecht in einem Fall als nicht erfüllt angesehen, bei dem die
Grundeigentümer geltend machten, die von ihnen beabsichtigte Überbauung
verlange aus Gründen der Verkehrssicherheit und des Verkehrsflusses,
dass zwei Motorfahrzeuge auf der Zufahrtsstrasse kreuzen können und die
Einfahrt von der Kantonsstrasse in diese ohne grosses Abbremsen möglich sei
(BGE 105 II 182). Ein Notweg kann auch nicht beansprucht werden, wenn das
Grundstück an die öffentliche Strasse grenzt, aber die Einmündung in diese
wegen der Verkehrssicherheit nicht zulässig ist (BGE 110 II 19 f.; nicht
veröffentlichter Entscheid vom 30. August 1990 i.S. Baugenossenschaft Z.).

    Diese unterschiedliche Berücksichtigung des öffentlichen Rechts mag
auf den ersten Blick als widersprüchlich erscheinen, lässt sich aber
sehr wohl begründen. Bei der bestimmungsgemässen Nutzung geht es um
die privaten Interessen des Grundeigentümers, deren Rahmen durch die
öffentlich-rechtliche Bauordnung unter Berücksichtigung öffentlicher
Interessen gesteckt wird. Die Frage der Befahrbarkeit eines Weges betrifft
demgegenüber die Verkehrssicherheit, das Verkehrsaufkommen sowie den
Verkehrsfluss, und damit öffentliche Interessen. Der privatrechtliche
Notweg dient der Verwirklichung privater Interessen. Die öffentlichen
Interessen hat demgegenüber das öffentliche Recht zu sichern. Daraus
schliesst das Bundesgericht, dass eine Wegenot mit öffentlich-rechtlichen
Mitteln zu beheben ist, wenn sie ausschliesslich wegen öffentlicher
Interessen durch das öffentliche Recht entstanden ist (BGE 117 II 40;
vgl. STEINAUER, Les droits réels, Bd. II, Bern 1994, Rz. 1863a).

    e) Der Appellationshof hat diese Rechtsprechung nicht übersehen. Er
erachtet sie im vorliegenden Fall jedoch als nicht anwendbar, weil es in
den bis anhin beurteilten Fällen immer nur um die Frage gegangen sei, ob
für die künftige Nutzung ein genügender Zugang zu den öffentlichen Strassen
bestehe. Im vorliegenden Fall gehe es aber darum, die gleichgebliebene
Nutzung an allgemein veränderte Bedürfnisse anzupassen.

    Dem ist insofern zuzustimmen, als für die Frage der Wegbedürfnisse
nicht auf den Zonenplan abgestellt werden kann, wenn auf der
entsprechenden Liegenschaft bereits ein Wohnhaus steht. Dass dieses Haus
möglicherweise heute nicht mehr gebaut werden dürfte, ist für die Frage der
bestimmungsgemässen Nutzung im vorliegenden Zusammenhang ohne Bedeutung.
Nach den für das Bundesgericht verbindlichen Feststellungen der Vorinstanz
liegt das mit einem Wohnhaus überbaute Grundstück in einem Weiler, so dass
für die bestimmungsgemässe Benutzung ein mit einem Automobil befahrbarer
Zugang als nötig angesehen werden kann (BGE 93 II 169; 101 II 317 ff.).

    Nicht gefolgt werden kann demgegenüber der Vorinstanz, wenn sie auch
mit Bezug auf die Frage, ob der direkte Zugang zur öffentlichen Strasse
möglich sei, die zitierte Rechtsprechung nicht angewendet wissen will,
bloss weil es um eine bestehende und nicht um eine künftige Nutzung des
Grundstücks geht. Es rechtfertigt sich nur deshalb, öffentlich-rechtliche
Zufahrtsbeschränkungen unbeachtet zu lassen, weil diese Schranken im
öffentlichen und nicht im privaten Interesse erfolgen und deshalb auch
das öffentliche Recht für die nötigen Massnahmen und damit auch für
die angemessene verkehrstechnische Erschliessung zu sorgen hat. Diese
Argumentation ist aber unabhängig davon, ob das Erschliessungsbedürfnis
sich aus der hergebrachten oder aus einer neuen Nutzung ergibt.

Erwägung 3

    3.- Die Parteien sind sich einig darüber, dass der bestehende
Weg insofern ungenügend ist, als er nicht mit einem Auto befahren
werden kann. Die Vorinstanz hat in für das Bundesgericht verbindlicher
Weise festgestellt, dass das Grundstück des Klägers in einem Weiler
beziehungsweise in einer Wohnsiedlung liege. Die Wohnnutzung entspricht
somit der Bestimmung des Grundstücks und eine motorfahrzeugmässige
Erschliessung ist grundsätzlich zeitgerecht (vgl. BGE 107 II 326 ff.). Ein
Ausbau des bestehenden Weges kommt schon aus topographischen Gründen nicht
in Frage. Gleiches gilt demgegenüber nicht auch für die Möglichkeit einer
direkten Erschliessung des Grundstückes, das mit einem etwa 40 m breiten
Streifen direkt an die öffentliche Strasse stösst. Nach den unbestrittenen
und für das Bundesgericht verbindlichen Feststellungen der Vorinstanz ist
die direkte motorfahrzeugmässige Erschliessung ausschliesslich aus Gründen
der Verkehrssicherheit nicht möglich. Damit ist aber die Wegenot die
Folge von im öffentlichen Interessen erlassener Sicherheitsvorschriften
des öffentlichen Rechts. Es ist somit nicht Aufgabe des Nachbarrechts,
dem Kläger einen genügenden Zugang zum öffentlichen Strassennetz zu
verschaffen. Vielmehr ist es an den kantonalen und kommunalen Nutzungs-
und Erschliessungsplänen mit Einschluss der Baulinienpläne, die den
Verhältnissen angemessene Erschliessung vorzusehen. Damit kann auch
eine für den ganzen Weiler sinnvolle Strassenregelung vorgesehen und
gegebenenfalls auf dem Enteignungsweg durchgesetzt werden. Dass das
kantonal-bernische Recht solche Möglichkeiten grundsätzlich kennt, ist
bereits dargelegt worden (vorn E. 2c, am Ende).

    Es erweist sich somit, dass keine Wegenot im Sinne von Art. 694 ZGB
vorliegt, weshalb die Berufung gutzuheissen ist. Damit werden die weiteren
Vorbringen, namentlich den Interessen des Beklagten sei nicht genügend
Rechnung getragen worden, gegenstandslos.