Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 120 II 112



120 II 112

24. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung vom 11. Mai 1994
i.S. Beat S. gegen Verena S. (Berufung) Regeste

    Verfahrensordnung beim Untermietverhältnis; Art. 274 ff. OR.

    Bei der Geltendmachung von Forderungen des Hauptvermieters gegenüber
dem Untermieter, die sich aus der Benutzung der Mietsache ergeben und
damit einen mietrechtlichen Sachverhalt betreffen, richten sich das
Verfahren und die örtliche Zuständigkeit nach Art. 274 ff. OR.

Sachverhalt

    A.- Aufgrund einer Vereinbarung vom 18. April 1990 vermietete Beat
S. ein Einfamilienhaus in Haldenstein an Jakob F. Dieser begründete
darüber am 1. März 1991 ein Untermietverhältnis mit Verena S..

    Beat S. behauptet, die nunmehr in Chur wohnhafte Verena S. habe
das Mietobjekt zwei Monate über die Beendigung des Mietverhältnisses
hinaus ohne Entrichtung eines Mietzinses innegehabt und ungereinigt
zurückgegeben. Er beansprucht Schadenersatz für entgangene Mietzinse
und Instandstellungskosten.

    B.- Nachdem die Sühneverhandlung vor dem Vermittleramt des Kreises
Chur erfolglos verlaufen war, machte Beat S. seine Forderung gegen Verena
S. mit einer Prozesseingabe vom 20. November 1992 beim Bezirksgericht
Plessur geltend. Dieses trat mit Beiurteil vom 18. Mai 1993 auf die Klage
mit der Begründung nicht ein, auch im Verhältnis zwischen Hauptvermieter
und Untermieterin seien die bundesrechtlichen Zuständigkeitsvorschriften
der Art. 274a ff. OR zu beachten. Sachlich zuständig sei daher vorab
die Schlichtungsbehörde, örtlich seien es die Instanzen am Ort der
Sache. Da die Ortschaft Haldenstein zum Kreis Fünf Dörfer bzw. zum Bezirk
Unterlandquart gehöre, sei nicht das Bezirksgericht Plessur zuständig.

    Am 19. Oktober 1993 wies der Kantonsgerichtsausschuss von Graubünden
eine Beschwerde des Klägers gegen dieses Prozessurteil ab.

    C.- Der Kläger führt eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde gemäss
Art. 68 Abs. 1 lit. e OG mit dem Antrag, das kantonsgerichtliche Urteil
aufzuheben und die Streitsache zu neuer Beurteilung an die Vorinstanz
zurückzuweisen.

    Die Beklagte schliesst auf Abweisung der Beschwerde. Unter Hinweis
auf die Begründung des angefochtenen Entscheids stellt das Kantonsgericht
den gleichen Antrag, soweit auf die Beschwerde einzutreten sei.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 3

    3.- Art. 274b OR erfasst Streitigkeiten aus dem Mietverhältnis, ohne
diesen Begriff eigenständig zu umschreiben. Zu ermitteln ist daher der
Rechtssinn der Norm. Namentlich ist zu prüfen, ob die Bestimmung sich
ausschliesslich auf Streitigkeiten aus mietvertraglichen Beziehungen der
Parteien bezieht oder darüber hinausreicht; unstreitig ist jedenfalls,
dass der Hauptvermieter nicht in unmittelbaren vertraglichen Beziehungen
zum Untermieter steht (statt vieler neuestens HIGI, Zürcher Kommentar,
N. 24 ff. zu Art. 262 OR).

    a) Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichts ist eine
Gesetzesbestimmung in erster Linie nach ihrem Wortlaut auszulegen. An einen
klaren und unzweideutigen Gesetzeswortlaut ist die rechtsanwendende Behörde
gebunden, solange dieser den wirklichen Sinn der Norm wiedergibt. Dabei
sind die drei Amtssprachen grundsätzlich gleichwertig (BGE 116 II 525
E. 2a S. 526 f. mit Hinweisen).

    Art. 274b Abs. 1 OR spricht von "Streitigkeiten aus dem
Mietverhältnis", von "litiges relatifs aux baux à loyer", von "controversie
in materie di locazione". Diese Ausdrücke sind weder vollkommen sinngleich
noch eindeutig. Während der französische Gesetzestext eher restriktiv auf
vertragliche Ansprüche weist, lassen der deutsche und der italienische
auch ein weiteres Verständnis auf einen allgemeinen Mietrechtsbezug
zu. Aus dem Gesetzeswortlaut allein lässt sich damit der Rechtssinn der
Zuständigkeitsvorschrift nicht abschliessend bestimmen.

    b) Das Gesetz muss grundsätzlich aus sich selbst, d.h. nach seinem
Wortlaut, Sinn und Zweck und den ihm zugrundeliegenden Wertungen
ausgelegt werden (BGE 118 II 307 E. 3a S. 309). Bei der Auslegung
der einzelnen Bestimmungen ist weiter deren Bedeutungszusammenhang
zu berücksichtigen. Die Interpretation hat auch unter systematischen
Gesichtspunkten zu erfolgen. Das Gesetz ist als Einheit und aus
dem Zusammenhang zu verstehen, wobei dieser Zusammenhang allenfalls
gesetzesübergreifend, mit der ganzen Rechtsordnung zu berücksichtigen
ist. Gleichartige Tatbestände erheischen nach Möglichkeit ein
gleichartiges rechtliches Verständnis, da dem Gesetzgeber das Streben nach
Folgerichtigkeit und nach Vermeidung von Widersprüchen zu unterstellen
ist. In diesem Sinne ist als Zielrichtung der Auslegung stets von der
Zweckbezogenheit der Norm auszugehen, die sich indessen nicht aus sich
selbst begründen lässt, sondern sich wiederum aus dem grammatikalischen,
historischen und systematischen Bezug ergibt (BGE 116 II 525 E. 2b S. 527).

    aa) Die Zuständigkeitsordnung des Bundes in mietrechtlichen
Streitigkeiten greift in die Verfahrenshoheit der Kantone ein (Art. 64
Abs. 3 BV) und derogiert dem allgemeinen Wohnsitzgerichtsstand von Art. 59
BV für persönliche Ansprachen (vgl. POUDRET, Compétence cantonale ou
fédérale en matière de for? Réflexions et suggestions au sujet des
articles 59 et 64 alinéa 3 de la Constitution, in Droit cantonal et
Droit fédéral, Mélanges publiés par la Faculté de droit à l'occasion
du 100ème anniversaire de la loi sur l'Université de Lausanne, S. 233
ff., S. 264 f.). Dies könnte zur Beachtung des Grundsatzes rufen,
Ausnahmebestimmungen restriktiv auszulegen (BGE 118 II 79 E. 3 S. 82
und 91 E. 1b S. 92). Indessen liegt die Tragweite dieses Grundsatzes
richtig besehen darin, das Verhältnis von Regel und Ausnahme zu wahren
(vgl. BGE 119 Ib 33 E. 3c S. 41 in fine), was nicht daran hindert,
Ausnahmebestimmungen nach den herkömmlichen Regeln auszulegen, weshalb sie
im Rahmen dieser Regeln auch einer erweiterten Interpretation zugänglich
sind (IMBODEN/RHINOW, Schweizerische Verwaltungsrechtsprechung, 5. Auflage,
1976, Nr. 20 B III/b). Zudem ist die Prüfung der Verfassungsmässigkeit der
bundesrechtlichen Prozessvorschriften als solche der Kognitionsbefugnis
des Richters von vornherein entzogen (Art. 113 Abs. 3 BV; BGE 118 II 307
E. 3b/dd S. 312).

    bb) Der Gerichtsstand der gelegenen Sache in Mietstreitigkeiten
soll nach dem Willen des Gesetzgebers die Beweiserhebung (z.B. bei
der Beurteilung von Mängeln) und die Feststellung des in Mietsachen
verbreitet zu beachtenden Ortsgebrauchs erleichtern (Botschaft des
Bundesrats vom 27. März 1985, BBl 1985 I 1389 ff., S. 1468). Das
Obligatorium des Schlichtungsverfahrens sodann steht im Dienste des
raschen, einfachen und billigen Verfahrens (BGE 118 II 307 ff.). Der
Regelungsgedanke beider Bestimmungen findet seine rechtspolitische
Rechtfertigung offensichtlich nicht im Umstand unmittelbarer vertraglicher
Beziehungen der Prozessparteien, was zwar die Regel bildet, sondern
in der Sachnähe des Richters und in der sozialrechtlichen Besonderheit
mietrechtlicher Streitigkeiten, namentlich aus dem Bereich der Wohnungs-
und der Geschäftsmiete. Von dieser Zweckbestimmung her rechtfertigt sich
von vornherein, auch Streitigkeiten aus einem Untermietverhältnis in das
allgemeine mietrechtliche Verfahren miteinzubeziehen, selbst wenn daran die
nicht unmittelbar verbundenen Parteien beteiligt sind. Vom Zweckgedanken
der Ordnung her erscheint jedenfalls das Auslegungsergebnis der Vorinstanz
durchaus sachgerecht.

    cc) Die Untermiete ist durch zwei hintereinandergeschaltete
Mietverträge über dieselbe Sache gekennzeichnet. Der Grundsatz der
Relativität der Schuldverhältnisse lässt dabei zwar die rechtliche
Selbständigkeit der beiden Vertragsverhältnisse unschwer erkennen,
hilft aber nicht darüber hinweg, dass sie desungeachtet untereinander
verbunden sind (LACHAT, La sous-location, in SJ 114/1992 S. 469 ff.,
S. 471), namentlich die Hauptmiete die Rechtsmacht des Untervermieters
beschränkt (HIGI, N. 18 zu Art. 262 OR), und der daraus folgende
wirtschaftliche Verbund der beiden oder mehreren Verträge auch rechtliche
Lösungen erheischt, welche den nicht mehr nur zwei Personen betreffenden
Interessenkonflikten gerecht zu werden vermögen (CREZELIUS, Untermiete und
Mieterschutz, in JZ 39/1984 S. 70 ff., S. 75). Zu Recht wird daher darauf
hingewiesen, dass zwischen Hauptvermieter und Untermieter ein rechtliches
Sonderverhältnis, wenn auch kein unmittelbares Vertragsverhältnis, besteht
(MOSER, Die Erstreckung des Mietverhältnisses nach Artikel 267a - 267f des
Obligationenrechts, Diss. Freiburg 1975, S. 140). Dabei ist ebenfalls zu
beachten, dass der Vermieter nicht mehr frei ist, Untermiete zu gestatten
oder nicht (Art. 262 Abs. 2 OR); er mithin von Gesetzes wegen verpflichtet
ist, in bestimmt geartete Beziehungen zu einem Drittbenützer zu treten.

    Aus dieser Sonderbeziehung ergeben sich Folgerungen, welche ihrerseits
nahelegen, die daraus resultierenden Streitigkeiten einheitlich der
Verfahrensordnung des Mietrechts zu unterstellen:

    aaa) Ist der Vermieter im Entscheid über die Zustimmung zu einer
Untermiete nicht frei, rechtfertigt es sich nicht, an diese Zwangserlaubnis
zusätzlich eine verfahrensrechtliche Schlechterstellung zu knüpfen. Die
Vorteile des Sachgerichtsstands sowie des einfachen, raschen und billigen
Verfahrens sollen dem Hauptvermieter vielmehr auch diesfalls zustehen.

    bbb) Das Gesetz selbst regelt einzelne Ansprüche aus dieser
Sonderbeziehung. So kann der Hauptvermieter den Untermieter neben oder
an Stelle des Hauptmieters unmittelbar zur Einhaltung des Hauptvertrags
anhalten (Art. 262 Abs. 3 OR; HIGI, N. 27 zu Art. 262 OR), hat er bei der
Miete von Geschäftsräumen ein Retentionsrecht auch an den vom Untermieter
eingebrachten Sachen (Art. 268 Abs. 2 OR; HIGI, N. 27 zu Art. 262 OR),
und hat er sich bei gegebenen Voraussetzungen nach Art. 273b Abs. 2
OR einen Vertragseintritt des Untermieters in den Hauptvertrag und
ein Erstreckungsbegehren des Untermieters entgegenhalten zu lassen
(MENGE, Kündigung und Kündigungsschutz bei der Miete von Wohn- und
Geschäftsräumlichkeiten, Diss. Basel 1993, S. 179 ff.; zu dieser
altrechtlich umstrittenen Frage: MOSER, aaO einerseits und SCHMID,
Zürcher Kommentar, N. 3 zu Art. 267d aOR anderseits; zum Gesamten LACHAT,
aaO, S. 482 f.; GUINAND/WESSNER, SJK 360 Ziff. III/C). Streitigkeiten
um solche bundesrechtlich ausdrücklich geregelten Ansprüche unterstehen
aber klarerweise den Verfahrensvorschriften der Art. 274 ff. OR.

    ccc) Wird der Untermietvertrag in dem Sinne ausgestaltet, dass
der Untermieter seinen Mietzins an Stelle desjenigen des Hauptmieters
direkt dem Hauptvermieter zu entrichten hat, entsteht diesem unter
den Voraussetzungen von Art. 112 Abs. 2 OR eine selbständige Forderung
gegenüber dem Untermieter (CERUTTI, Der Untervertrag, Diss. Freiburg 1990,
S. 28 Rz. 113/4). Daraus ergibt sich eine vertragliche Beziehung zwischen
dem Erst- und dem Drittkontrahenten, welche auch eine Vertragshaftung
begründet (CERUTTI, aaO, S. 137 ff.). Es sind keine Gründe ersichtlich,
diese Vertragsansprüche von den Verfahrensvorschriften der Art. 274
ff. OR auszunehmen.

    Aus dem - in der Schweiz allerdings umstrittenen - Institut
des Vertrags mit Schutzwirkung für Dritte wird in einem Teil der
Lehre darüber hinaus gefordert, auch im unechten Vertrag zugunsten
Dritter dem Erstkontrahenten einen vertraglichen Anspruch gegen den
Drittkontrahenten zuzugestehen (CERUTTI, aaO, S. 139 f. Rz. 563 ff.). Folgt
man dieser Auffassung, greift zwangsläufig auch hier die mietrechtliche
Verfahrensordnung.

    ddd) Weiter wird in einem Teil der Lehre die Auffassung vertreten,
Art. 262 Abs. 3 OR gebe dem Hauptvermieter auch einen vertraglichen
Anspruch, einen unerlaubten Mieter aus der Mietsache zu weisen (CERUTTI,
aaO, S. 118 Rz. 474; a.A. HIGI, N. 27 zu Art. 262 OR und SCHMID, N. 20
zu Art. 264 aOR, welche ein Ausweisungsbegehren allein gestützt auf
sachenrechtliche Positionen zulassen). Diese Auffassung ist zum mindesten
vertretbar und würde ebenfalls die Anwendbarkeit der mietrechtlichen
Verfahrensvorschriften begründen.

    c) Ist die bundesrechtliche Zuständigkeitsordnung des Mietrechts aber
für einzelne Ansprüche des Hauptvermieters gegenüber dem Untermieter
ohnehin gegeben, erscheint es sachgerecht, sie allgemein zu verstehen
und ihr solche Streitigkeiten, welche mit der Benützung der Mietsache in
Zusammenhang stehen, einheitlich zu unterstellen. Dies folgt vorab daraus,
dass das Gesetz die Verfahrensordnung nicht aus dem Vertragsverhältnis,
sondern aus dem mietrechtlichen Tatbestand als solchem begründet,
welcher Tatbestand entsprechend weit zu fassen ist. Mithin tritt für die
Zuständigkeitsfrage in den Hintergrund, ob der geltend gemachte Anspruch
materiell als vertraglicher, quasivertraglicher oder ausservertraglicher zu
qualifizieren ist; eine differenzierte Anwendung eines an der materiellen
Beziehung orientierten Verfahrensrechts nach Massgabe des Entstehungsgrunds
der Obligation würde der traditionellen Ausrichtung des schweizerischen
Rechts auf klare und überschaubare Verhältnisse widersprechen. Zudem
ist zu vermeiden, die Zuständigkeit gleichsam vom Beweisergebnis in
der Sache abhängig zu machen. Dies wäre bei einer Beschränkung der
Art. 274 ff. OR auf Vertragsansprüche beispielsweise nicht zu vermeiden,
wenn streitig ist, ob ein Untermietverhältnis im Sinne von Art. 262 OR
begründet wurde oder eine Vertragsübernahme (etwa im Anwendungsbereich von
Art. 263 OR) erfolgte. Solche Differenzierung schürte die Gefahr unnützen
prozessualen Leerlaufs und widerspräche damit auch dem Auslegungsgrundsatz
der Praktikabilität des Rechts (BGE 100 IV 252 E. 1e S. 255; vgl. auch
BGE 114 II 131 E. 1c S. 138). Die Vorinstanz hat mithin im angefochtenen
Zuständigkeitsentscheid kein Bundesrecht verletzt, was zur Abweisung der
Berufung führt.