Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 120 IB 136



120 Ib 136

20. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 13.
April 1994 i.S. H.-F. gegen Kanton Luzern und Regierungsrat des Kantons
Luzern (Verwaltungsgerichtsbeschwerde) Regeste

    Art. 99 lit. c OG, Art. 22 ff. NSG; Änderung eines
Nationalstrassen-Baulinienplans.

    Zu den Entscheiden über Einsprachen gegen Enteignungen im
Sinne von Art. 99 lit. c OG zählen auch die Verfügungen über
Pläne, die eine materielle Enteignung bewirken können (Änderung der
Rechtsprechung). Änderungen von Nationalstrassen-Baulinienplänen können
daher mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde angefochten werden (E. 1).

    Die im Ausführungsprojekt festgelegten Baulinien dürfen nachträglich
korrigiert werden, ohne dass hiebei die Umweltverträglichkeit eines
allfälligen Ausbaus der Nationalstrasse zu prüfen wäre (E. 3).

Sachverhalt

    A.- Nach der endgültigen Vermarkung des Trassees der Nationalstrasse
N 2, Abschnitt Sursee - Kantonsgrenze Luzern/Aargau, überprüfte der
Regierungsrat des Kantons Luzern die seinerzeit in den Ausführungsprojekten
festgelegten Baulinien, passte diese an die neuen örtlichen Verhältnisse
an und hob die nach Wiederherstellung des kantonalen und kommunalen
Strassennetzes überflüssig gewordenen nationalstrassenrechtlichen Baulinien
auf. Die geänderten Baulinienpläne wurden in den Gemeinden Langnau,
Dagmersellen, Uffikon, Buchs, Knutwil und Sursee vom 6. November bis
5. Dezember 1989 öffentlich aufgelegt.

    Während der Auflagefrist erhoben die Eheleute H.-F. als Eigentümer
verschiedener in der Gemeinde Dagmersellen liegenden Grundstücke
Einsprache gegen den neuen Baulinienplan. Die Einsprecher verlangten,
dass der Baulinienabstand im Bereich der "Überführung Grossfeld" entlang
der Nationalstrasse bzw. den dieser folgenden Nebengüterstrassen von
vier auf drei Meter reduziert werde. Zur Begründung führten sie an, nach
kantonalem Rechtbetrage der Baulinienabstand längs Nebengüterstrassen
nur drei Meter und der nationalstrassenrechtliche Abstand von 25 m ab
Strassenachse sei an der fraglichen Stelle erheblich überschritten.

    Nach Durchführung einer Augenscheinsverhandlung entschied der
Regierungsrat des Kantons Luzern am 4. September 1992, dem Begehren
der Eheleute H.-F. nicht zu entsprechen. Gegen diesen Beschluss haben
die Eheleute H.-F. Verwaltungs gerichtsbeschwerde erhoben, welche vom
Bundesgericht - nach Durchführung eines Meinungsaustausches mit dem
Bundesrat im Sinne von Art. 96 Abs. 2 OG - abgewiesen worden ist.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- Die Beschwerdeführer haben den Regierungsratsbeschluss über die
Änderung des Baulinien-Planes entsprechend der Rechtsmittelbelehrung
mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde angefochten. Tatsächlich ist dieses
Rechtsmittel, wie auch im Meinungsaustausch bestätigt worden ist, in
Änderung der Rechtsprechung zu Art. 99 lit. c OG für zulässig zu halten:

    Nach Art. 22 des Bundesgesetzes über die Nationalstrassen vom
8. März 1960 (NSG, SR 725.11) sind mit Rücksicht auf die Bedürfnisse
der Verkehrssicherheit, der Wohnhygiene sowie eines allfälligen späteren
Ausbaus beidseitig der Nationalstrassen Baulinien festzulegen. Zwischen
diesen Baulinien dürfen ohne Bewilligung weder Neubauten erstellt noch
Umbauten vorgenommen werden; solche baulichen Massnahmen sind nur zu
bewilligen, wenn die gemäss Art. 22 zu wahrenden öffentlichen Interessen
nicht verletzt werden (Art. 24 und 25 NSG). Kommt die Beschränkung
des Grundeigentums durch Baulinien in ihrer Wirkung einer Enteignung
gleich, hat der Betroffene seine Entschädigungsansprüche dem Kanton
schriftlich anzumelden und wird - falls diese bestritten werden -
das Schätzungsverfahren gemäss Art. 57 ff. des Bundesgesetzes über die
Enteignung vom 20. Juni 1930 (EntG, SR 711) eingeleitet (Art. 25 NSG).

    Die Nationalstrassen-Baulinien, die somit zu einer materiellen
Enteignung führen können, werden in der Regel in den Ausführungsprojekten
festgelegt und durch öffentliche Auflage der Pläne den Betroffenen zur
Kenntnis gebracht (Art. 26 NSG). Innerhalb der Auflagefrist kann gegen
das Projekt oder die darin enthaltenen Baulinien bei der zuständigen
kantonalen Behörde Einsprache erhoben werden (Art. 27 NSG). Gegen den
Einspracheentscheid ist nach der Rechtsprechung zu Art. 99 lit. c OG
die Verwaltungsgerichtsbeschwerde insoweit zuzulassen, als (formell)
Enteignete oder in ein Landumlegungsverfahren Einbezogene oder Gemeinden
und Organisationen, die zur Anmeldung von Begehren im Sinne von Art.
7 bis 10 EntG befugt sind, als Beschwerdeführer auftreten (vgl. etwa BGE
117 Ib 285 E. 2a S. 290 f., 105 Ib 338 E. 2c S. 341). Dagegen ist die
Ausnahmebestimmung von Art. 99 lit. c OG von Bundesrat und Bundesgericht
bisher so interpretiert worden, dass Verfügungen über Pläne, die bloss eine
materielle Enteignung bewirken können, der Verwaltungsgerichtsbarkeit nicht
unterstünden und mit Verwaltungsbeschwerde beim Bundesrat anzufechten seien
(VPB 1974 Nr. 104 E. 2 S. 104 f., 1985 Nr. 34 Ziff. 2 S. 193; Urteil vom 1.
Oktober 1979, publ. in ZBl 81/1980 S. 90 f., nicht publ. Entscheide i.S.
Commune de Vernier et Cloetta vom 6. März 1984 und i.S. Wendling vom 7.
Dezember 1984). Diese Auslegung lässt sich im Lichte der sich auf die
Praxis des Europäischen Gerichtshofes stützenden Entscheidungen des
Bundesgerichtes zu Art. 6 Ziff. 1 EMRK nicht mehr aufrechterhalten.

    Das Bundesgericht hielt bereits in seiner Rechtsprechung zur
Eigentumsgarantie fest, dieses verfassungsmässige Recht verpflichte die
Kantone, ein gerichtliches Verfahren vorzusehen, in dem die von einer
materiellen Enteignung Betroffenen ihre Ansprüche geltend machen könnten
(vgl. BGE 112 Ib 176 E. 3a und die dort zitierten Entscheide). Der
Zugang zum Richter müsse, wie weiter im Rahmen von eidgenössischen
Expropriationen dargelegt worden ist (BGE 111 Ib 227 E. 2e S. 231 und
BGE 112 Ib 176), auch im Verfahren der formellen Enteignung gewährleistet
werden, und zwar aufgrund der Vorschrift von Art. 6 Ziff. 1 EMRK und der
ihr in der Praxis beigelegten Bedeutung nicht nur bei der Festsetzung
der Enteignungsentschädigung, sondern auch im vorangehenden Verfahren, in
welchem über die Zulässigkeit des enteignenden Eingriffs entschieden wird
(vgl. die Hinweise auf die Rechtsprechung des europäischen Gerichtshofes
in BGE 111 Ib 227 E. 2e). Dieser Anspruch auf richterliche Überprüfung
des Enteignungstitels ist im Grundsatzentscheid BGE 115 Ia 66 für
kantonalrechtliche Enteignungen bestätigt worden. Hieraus ist -
was Verfügungen über Pläne betrifft - gefolgert worden, dass bei der
Festsetzung von (Sonder-)Nutzungsplänen für ein konkretes Projekt, mit
deren Genehmigung zugleich das Recht zur (formellen) Enteignung verliehen
wird, den Anforderungen von Art. 6 EMRK entsprochen werden müsse; die
Kontrolle solcher Planungen müsse daher im kantonalen oder eidgenössischen
Verfahren einem alle Sachverhalts- und Rechtsfragen frei prüfenden Richter
anvertraut werden können (vgl. BGE 114 Ia 114, 118 Ia 223 mit der in
E. 1c S. 227 zitierten Rechtsprechung des europäischen Gerichtshofes,
118 Ia 331). Gleiches habe auch für den Erlass von Perimeter-Plänen in
Landumlegungsverfahren zu gelten, da der Einbezug eines Grundstücks
in die Umlegung jedenfalls zu Eigentumsbeschränkungen und allenfalls
auch zu enteignenden Eingriffen führe (vgl. BGE 117 Ia 378 E. 5a mit
Hinweisen auf die Entscheide des europäischen Gerichtshofes, BGE 118
Ia 353 E. 2a). Dass der Anspruch des Grundeigentümers auf umfassenden
gerichtlichen Rechtsschutz auch bei drohender materieller Enteignung
bestehe, hat das Bundesgericht schliesslich in BGE 118 Ia 372 E. 6b S. 382
ausdrücklich erwähnt, wo es - ähnlich wie hier - um den Erlass eines
Verkehrsbaulinienplanes zur Freihaltung des künftigen Strassenraumes
und Sicherung des Landerwerbs ging. Übrigens ist auch unlängst die
Anwendbarkeit von Art. 6 EMRK auf die Unterschutzstellung einer Baute
angesichts dessen bejaht worden, dass diese Massnahme im konkreten Fall
enteignungsähnlichen Charakter ("un caractère quasi expropriatif") habe
(s. BGE 119 Ia 88 E. 4b S. 94 und die Übersicht über die Rechtsprechung
in E. 3b S. 92 f.).

    Ist somit nach bundesgerichtlicher Rechtsprechung zu Art. 6 EMRK der
gerichtliche Rechtsschutz auch beim Erlass von Plänen zu gewährleisten,
durch welche Enteignungen oder Eigentumsbeschränkungen, die einer
Enteignung gleichkommen, herbeigeführt werden können, so lässt es
sich nicht mehr rechtfertigen, bei der Anwendung von Art. 99 lit. c OG
zwischen formeller und materieller Enteignung zu unterscheiden und eine
Gabelung des Rechtsweges vorzusehen. Die genannte Verfahrensgarantie
ist nur gegeben, wenn die von den Verwaltungsbehörden ausgehenden
Verfügungen über Pläne im Sinne von Art. 99 lit. c OG, die - wie hier der
Nationalstrassen-Baulinienplan - enteignungsgleiche oder -ähnliche Wirkung
haben können, ebenfalls der eidgenössischen Verwaltungsgerichtsbarkeit
unterstellt werden. Auf die Verwaltungsgerichtsbeschwerde ist daher
einzutreten.

Erwägung 2

    2.- Die Beschwerdeführer beanstanden in erster Linie, dass gemäss
angefochtenem Beschluss gewisse im Ausführungsprojekt enthaltene Baulinien
aufgehoben würden, da diese - soweit überhaupt erforderlich - durch
Baulinien nach kantonalem Recht ersetzt worden seien. Es gehe nicht an -
so die Beschwerdeführer -, eine gestützt auf ein Bundesgesetz festgelegte
und formell genehmigte Baulinie einfach nach kantonalem Recht ausser Kraft
zu setzen und darüber hinaus noch zu Ungunsten der Betroffenen abzuändern.

    Wie der Luzerner Regierungsrat in seiner Beschwerdeantwort bestätigt
hat, sollen im heutigen Verfahren jene Baulinien aufgehoben werden, die
seinerzeit für das durch den Nationalstrassenbau berührte kantonale und
kommunale Strassennetz gezogen worden sind. Im Bereich der Grundstücke der
Beschwerdeführer betrifft dies die Baulinien für die im Ausführungsprojekt
vorgesehene Querverbindungs-Strasse über das Grossfeld, auf deren
Bau nach dem vorliegenden Plan offenbar verzichtet worden ist. Diese
Baulinien werden nun durch den abgeänderten Baulinienplan - also durch
bundesrechtliche und keineswegs durch kantonalrechtliche Verfügung -
ersatzlos aufgehoben. Inwiefern darin eine Verletzung formellen oder
materiellen Bundesrechts liegen soll, ist nicht ersichtlich. Ebenfalls ist
nicht einzusehen, welches Interesse die Beschwerdeführer - die sich für
eine möglichst weitgehende Freihaltung ihres Grundeigentums einsetzen -
an der Beibehaltung offensichtlich unnütz gewordener Baulinien haben
könnten. Die Beschwerde erweist sich in dieser Hinsicht als unbegründet.

Erwägung 3

    3.- Weiter beklagen sich die Beschwerdeführer darüber, dass der
Kanton den Nationalstrassen-Baulinienabstand im Bereich der "Überführung
Grossfeld" - einer dem Güterverkehr dienenden Brücke - etwas vergrössern
will, um sich das im Fall eines Autobahn-Ausbaus für die beidseitigen
Böschungen notwendige Land zu sichern. Diese Massnahme sei rechtswidrig,
da nicht geprüft worden sei, ob am Ausbau der Nationalstrasse auf drei
Spuren überhaupt ein öffentliches Interesse bestehe, und die Erweiterung
auch keiner Umweltverträglichkeitsprüfung unterzogen worden sei. Im übrigen
bestehe kein Grund für ein Abweichen vom normalen Baulinienabstand von
25 m, der in Art. 2 Abs. 1 der Verordnung über die Nationalstrassen vom
24. März 1964 (NSV; SR 725.111) vorgesehen werde.

    Wie bereits dargelegt, sind gemäss Art. 22 NSG Baulinien längs der
Nationalstrassen festzulegen und ist bei deren Bemessung namentlich
auf die Anforderungen der Verkehrssicherheit und der Wohnhygiene sowie
auf die Bedürfnisse eines allfälligen Ausbaues der Strasse Rücksicht zu
nehmen. Diese Baulinien sind demnach von Gesetzes wegen zu ziehen, sie
haben nach ausdrücklicher Vorschrift auch einem allfälligen Ausbau Rechnung
zu tragen und dienen im übrigen anderen Zwecken als die Verkehrsbaulinien,
die die Freihaltung des Strassenraumes für ein künftiges, noch nicht
konkret erarbeitetes Projekt sichern sollen (vgl. BGE 118 Ia 372). Es
kann angesichts der Natur dieser Linien keine Rede davon sein, dass bei
deren nachträglicher Korrektur bereits die Umweltverträglichkeitsprüfung
und die Interessenabwägung vorgenommen werden müssten, die der Genehmigung
des Ausführungsprojektes für einen Ausbau der Nationalstrasse voranzugehen
hätten. Vielmehr muss genügen, dass einer Erweiterung der Baulinien keine
überwiegenden privaten Interessen entgegenstehen.

    Dass ein öffentliches Interesse daran besteht, die Autobahn im Bereich
der Brücke "Grossfeld" bei einem Ausbau weiterhin zwischen Böschungen
führen und auf die Erstellung teurer Stützmauern verzichten zu können,
ist offensichtlich und an sich unbestritten. Diesem Anliegen steht nur
ein relativ geringes Interesse der Beschwerdeführer an der Reduktion des
Baulinienabstandes gegenüber, gehören doch ihre grossflächigen Grundstücke
- wie im angefochtenen Entscheid ausgeführt - nicht zur Bauzone und würden
diese auch bei einer Einzonung durch die geringe Baulinien-Belastung
in ihrer Überbaubarkeit kaum eingeschränkt. Der Luzerner Regierungsrat
durfte daher, wie es Art. 2 Abs. 3 NSV ausdrücklich gestattet, bei
der Festsetzung des Baulinienabstandes mit gutem Grund von der Regel
abweichen. Die Beschwerde ist somit auch in diesem Punkte abzuweisen.