Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 120 IA 48



120 Ia 48

6. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung vom
22. Februar 1994 i.S. X gegen Staatsanwaltschaft, Obergericht und
Kassationsgericht des Kantons Zürich (staatsrechtliche Beschwerde) Regeste

    Art. 4 BV, Art. 6 Ziff. 3 lit. c und d EMRK (Anspruch auf effektive
Verteidigung insbesondere bei Konfrontationseinvernahmen).

    Die rechtlichen Interessen des Angeschuldigten müssen auch
durch einen Offizialverteidiger in ausreichender und wirksamer Weise
wahrgenommen werden. Wird von den Behörden untätig geduldet, dass der
Verteidiger seine anwaltlichen Berufs- und Standespflichten zum Schaden
des Angeschuldigten in grober Weise vernachlässigt, kann darin eine
Verletzung der Verteidigungsrechte liegen (E. 2b-d).

    Der Angeschuldigte oder sein Anwalt müssen zur Wahrnehmung der
Verteidigungsrechte grundsätzlich rechtzeitig und in angemessener Weise
aktiv werden. Dies kann insbesondere für Anträge auf Wiederholung von
Konfrontationseinvernahmen gelten. Der Verzicht der Behörden auf eine
Wiederholung von Konfrontationseinvernahmen verletzte im vorliegenden
Fall die Verteidigungsrechte nicht (E. 2e-f).

Sachverhalt

    A.- In der Strafuntersuchung gegen X wurde Rechtsanwalt Dr. Y am
7. November 1990 als amtlicher Verteidiger bestellt. Am 14. und 16. Januar
1991 erfolgten untersuchungsrichterliche Konfrontationseinvernahmen
mit X und weiteren Angeschuldigten, an denen Rechtsanwalt Dr. Y nicht
teilnahm. Mit Verfügung des Präsidenten i.V. des Bezirksgerichtes Zürich
vom 17. April 1991 wurde Rechtsanwalt Dr. Y als amtlicher Verteidiger
entlassen, und es wurde Rechtsanwalt Z als neuer amtlicher Verteidiger
bestellt.

    Am 28. Oktober 1991 verurteilte das Bezirksgericht Zürich
(8. Abteilung) X wegen qualifizierten Betäubungsmitteldelikten zu sieben
Jahren Zuchthaus und 15 Jahren Landesverweisung. Die dagegen erhobene
Berufung wies das Obergericht des Kantons Zürich (I. Strafkammer)
mit Urteil vom 17. Juni 1992 im wesentlichen ab, und es bestätigte
das erstinstanzliche Strafmass. X erhob am 26. Oktober 1992 dagegen
kantonale Nichtigkeitsbeschwerde an das Zürcher Kassationsgericht
sowie eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde und staatsrechtliche
Beschwerde beim Bundesgericht. Mit Verfügung des Präsidenten des
Zürcher Kassationsgerichtes vom 13. November 1992 wurde Rechtsanwalt
Z als amtlicher Verteidiger entlassen, nachdem sich X seit Begründung
der kantonalen Nichtigkeitsbeschwerde durch den erbetenen Verteidiger
Fürsprecher M. vertreten liess.

    Gegen den früheren amtlichen Verteidiger Rechtsanwalt Dr. Y verhängte
die Aufsichtskommission über die Rechtsanwälte im Kanton Zürich am
4. Februar 1993 ein vorläufiges Berufsausübungsverbot, u.a. wegen
Pflichtverletzungen im Strafuntersuchungsverfahren gegen X. Mit Verfügung
vom 21. April 1993 entzog das Obergericht des Kantons Zürich Rechtsanwalt
Dr. Y definitiv die Berufsausübungsbewilligung.

    Die gegen das Strafurteil des Obergerichtes vom 17. Juni 1992
erhobene kantonale Nichtigkeitsbeschwerde wies das Kassationsgericht des
Kantons Zürich mit Beschluss vom 16. September 1993 ab. Auf die gegen das
obergerichtliche Urteil eingereichte staatsrechtliche Beschwerde trat das
Bundesgericht am 5. Oktober 1993 mangels Erschöpfung des Instanzenzuges
nicht ein.

    X ficht die Urteile des Zürcher Kassationsgerichtes vom 16. September
1993 und des Obergerichtes vom 17. Juni 1992 mit staatsrechtlicher
Beschwerde an. Er beantragt die Aufhebung der angefochtenen Entscheide
und verlangt die Wiederholung von Konfrontationseinvernahmen durch die
kantonalen Behörden. Der Beschwerdeführer macht u.a. geltend, im kantonalen
Verfahren seien in Verletzung von Art. 4 BV sowie Art. 6 Ziff. 1 und 3
EMRK seine Verteidigungsrechte missachtet worden. Das Bundesgericht weist
die Beschwerde ab.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- a) Der Beschwerdeführer macht geltend, es sei kein faires
Strafverfahren und keine rechtsgenügliche Verteidigung gewährleistet
gewesen, da der in der ersten Phase der Strafuntersuchung zuständige
amtliche Verteidiger Rechtsanwalt Dr. Y völlig ungeeignet gewesen
sei, die Interessen des Angeschuldigten in wirksamer Weise
wahrzunehmen. Insbesondere sei die Nichtteilnahme des amtlichen
Verteidigers an den wichtigen Konfrontationseinvernahmen vom 14. und
16. Januar 1991 als Verletzung der Verteidigerpflichten bzw. als
Disziplinarfehler zu betrachten. Die Unfähigkeit des amtlichen
Verteidigers, welche schon im fraglichen Zeitraum bestanden habe, sei
erstellt. Rechtsanwalt Dr. Y sei am 17. April 1991 das Offizialmandat
wegen Verletzung der Berufspflichten entzogen worden. Im späteren
Disziplinarverfahren vor der Anwaltsaufsichtskommission sei dessen
völlige Unfähigkeit zur Berufsausübung festgestellt worden, weshalb das
Obergericht schliesslich am 21. April 1993 ein Berufsverbot gegen ihn
verhängt habe. Vor den Konfrontationseinvernahmen vom 14. und 16. Januar
1991 habe der Offizialverteidiger offensichtlich nicht einmal die Akten
studiert gehabt und mit dem Verzicht auf persönliche Teilnahme an den
Einvernahmen die Interessen des Beschwerdeführers verletzt. Dass er
teilweise nachträglich telefonische Ergänzungsfragen gestellt habe,
sei nicht ausreichend. Die entsprechenden Konfrontationseinvernahmen,
die einen erheblichen Einfluss auf die Verurteilung gehabt hätten,
seien daher zu wiederholen. Dass das Zürcher Kassationsgericht diesen
Antrag abgelehnt habe, verstosse gegen die in Art. 4 BV und Art. 6 Ziff.
3 i.V.m. Ziff. 1 EMRK garantierten Verteidigungsrechte.

    b) aa) Gemäss Art. 6 Ziff. 3 lit. d EMRK hat der Angeschuldigte im
Strafverfahren das Recht, Fragen an die Belastungszeugen zu stellen und die
Ladung und Vernehmung von Entlastungszeugen unter denselben Bedingungen
wie die der Belastungszeugen zu erwirken. Derselbe Anspruch ergibt sich
schon aus Art. 4 BV. Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung genügt
es grundsätzlich, wenn der Angeschuldigte im Verlaufe des Strafverfahrens
wenigstens einmal Gelegenheit erhält, den ihn belastenden Personen
Ergänzungsfragen zu stellen (BGE 118 Ia 457 E. 2b S. 458 f., 462 E. 5a
S. 469, je mit Hinweisen). Indessen kann es unter besonderen Umständen
ungenügend erscheinen, wenn dem Angeschuldigten diese Möglichkeit nur
im Ermittlungsverfahren und nicht auch noch an der Hauptverhandlung vor
Gericht eingeräumt wird. Insbesondere kann eine ergänzende Befragung
vor Gericht dann notwendig erscheinen, wenn dem Angeschuldigten bei den
Konfrontationseinvernahmen im Ermittlungsverfahren noch kein Verteidiger
zur Seite stand (BGE 116 Ia 289 E. 3c S. 293 f. mit Hinweisen).

    bb) Art. 4 BV und Art. 6 Ziff. 3 lit. c EMRK gewährleisten die
unentgeltliche Beistellung eines amtlichen Verteidigers, falls dies im
Interesse der Rechtspflege erforderlich erscheint und der Angeschuldigte
mittellos ist (BGE 117 Ia 277 E. 5a S. 279; 116 Ia 295 E. 6a S. 303
f.; 115 Ia 103 S. 105, je mit Hinweisen). Die rechtlichen Interessen
des Angeschuldigten müssen durch den Offizialverteidiger sodann in
ausreichender und wirksamer Weise wahrgenommen werden. Zwar umfasst
dieses Grundrecht keinen Anspruch auf eine unverhältnismässig teure oder
aufwendige amtliche Verteidigung. Dementsprechend kann die Entschädigung
des Pflichtverteidigers grundsätzlich tiefer angesetzt werden als bei einem
privaten Rechtsanwalt, und der amtliche Verteidiger muss die Notwendigkeit
von prozessualen Vorkehrungen im Interesse des Angeschuldigten sachgerecht
und kritisch abwägen (BGE 118 Ia 133 E. 2b S. 134; 109 Ia 107 E. 3c S. 111,
je mit Hinweisen). Dies ändert jedoch nichts daran, dass auch der amtlich
verteidigte Angeschuldigte Anspruch auf eine sachkundige, engagierte und
effektive Wahrnehmung seiner Parteiinteressen hat. Wird von den Behörden
untätig geduldet, dass der amtliche Verteidiger seine anwaltlichen Berufs-
und Standespflichten zum Schaden des Angeschuldigten in schwerwiegender
Weise vernachlässigt, kann darin eine Verletzung der in Art. 4 BV und
Art. 6 Ziff. 3 EMRK gewährleisteten Verteidigungsrechte liegen (EGMR vom
9. April 1984 i.S. Goddi c. I, Série A, vol. 76, Ziff. 30 ff. = EuGRZ
1985, S. 234; EGMR vom 13. Mai 1980 i.S. Artico c. I, Série A, vol. 37,
Ziff. 31 ff. = EuGRZ 1980, S. 662; EKMR vom 9. Mai 1989 i.S. F. c. CH =
VPB 1989 Nr. 59; EKMR vom 13. Juli 1983 i.S. W. c. CH = VPB 1983 Nr. 172;
s. auch nicht amtlich publ. E. 4-5 von BGE 115 Ia 65 = SJIR 1990, S. 251
f., nicht amtlich publ. Urteil des Bundesgerichtes vom 21. März 1984
i.S. S. G. = SJIR 1985, S. 270 f.; vgl. FROWEIN/PEUKERT, EMRK-Kommentar,
Kehl u.a. 1985, Art. 6 N. 135; ARTHUR HAEFLIGER, Die Europäische
Menschenrechtskonvention und die Schweiz, Bern 1993, S. 188; VOGLER in:
Internationaler Kommentar zur Europäischen Menschenrechtskonvention,
Köln u.a., Art. 6 N. 541). Ein unfähiger amtlicher Verteidiger, der
wiederholt seine Berufspflichten in schwerwiegender Weise verletzt, muss
daher rechtzeitig von Amtes wegen ersetzt werden. Auf entsprechenden Antrag
des Angeschuldigten oder eines neu zu bestellenden Offizialverteidigers hin
müssen sodann wichtige Prozesshandlungen, die der fehlbare Verteidiger
in pflichtverletzender Weise versäumt hat, nötigenfalls nachgeholt
werden können.

    c) Aus dem Entscheid der Aufsichtskommission über die
Rechtsanwälte im Kanton Zürich vom 4. Februar 1993 geht hervor, dass
sich der ursprüngliche amtliche Verteidiger des Beschwerdeführers,
Rechtsanwalt Dr. Y, zwischen 1991 und 1993 eine Reihe von schwerwiegenden
beruflichen Pflichtverletzungen, Verstössen gegen die Standesregeln und
Disziplinarfehlern zuschulden kommen liess. Neben krassen Säumnissen bei
der Aktenrückgabe an Behörden, mangelnder Vorsorge für Stellvertretungen,
ständigen Frist- und Terminversäumnissen und groben Unregelmässigkeiten bei
der Rechnungsstellung werden Rechtsanwalt Dr. Y insbesondere Verletzungen
der Berufspflichten als amtlicher Verteidiger vorgeworfen. Im hier zu
beurteilenden Verfahren hat der Präsident i.V. des Bezirksgerichtes
Zürich unter anderem das Nichterscheinen von Rechtsanwalt Dr. Y bei
den Konfrontationseinvernahmen vom 14./16. Januar 1991 beanstandet,
dessen Eignung als amtlicher Verteidiger generell in Frage gestellt
und ihm am 17. April 1991 das Mandat entzogen. In anderen Verfahren hat
sich beispielsweise der Haftrichter des Bezirksgerichtes Zürich darüber
beschwert, dass Rechtsanwalt Dr. Y als Offizialverteidiger in einem
Haftfall über längere Zeit unentschuldigt und ohne Stellvertretung
für die Justizbehörden nicht erreichbar gewesen sei. Am 19. Januar
1993 wurde gemeldet, dass in Büroräumlichkeiten von Rechtsanwalt
Dr. Y, welche nach einer Exmission betreibungsamtlich geräumt wurden,
Akten eines hängigen Strafverfahrens unbeaufsichtigt zurückgelassen
worden waren. Die Aufsichtskommission sprach Rechtsanwalt Dr. Y in
der Folge die Vertrauenswürdigkeit für die Ausübung des Berufes als
Rechtsanwalt ab und schloss ihn mit sofortiger Wirkung vorläufig von der
Berufsausübung aus. Am 21. April 1993 erfolgte der definitive Entzug der
Berufsausübungsbewilligung durch das Obergericht des Kantons Zürich. Es
fragt sich, ob der Beschwerdeführer unter diesen Umständen im fraglichen
Zeitpunkt, insbesondere bei den streitigen Einvernahmen vom 14./16. Januar
1991, ausreichend verteidigt war.

    d) Die Aufsichtskommission führte in ihrem Entscheid vom 4. Februar
1993 aus, dass Rechtsanwalt Dr. Y "offenkundig nicht in der Lage" gewesen
sei, den sich stellenden praktischen Anforderungen seines Berufes Genüge
zu tun. Die Probleme hätten "schon bald einmal, nachdem der Beschuldigte
seine eigene Kanzlei eröffnet hatte" (somit seit ca. August 1990)
begonnen "und dauern nun schon längere Zeit an". Ausserdem wurde erwähnt,
dass die Bezirksanwaltschaft Zürich Ende 1990 ein Strafverfahren gegen
Rechtsanwalt Dr. Y wegen Nötigung, Betrug und Veruntreuung eingeleitet
hat, welches bis zum Entscheid der Aufsichtskommission am 4. Februar 1993
noch nicht erledigt war. Aus letzterem geht hervor, dass der damalige
amtliche Verteidiger des Beschwerdeführers im fraglichen Zeitpunkt
insbesondere nicht in der Lage war, die ihm angesetzten Termine und Fristen
einzuhalten, die Akten rechtzeitig einzusehen und zu retournieren, Ordnung
in den Akten zu halten, sich auf Einvernahmen und andere prozessuale
Vorgänge sachgerecht vorzubereiten oder sich dafür nötigenfalls
vertreten zu lassen. Insgesamt ergibt sich das Bild, dass der damalige
Offizialverteidiger im fraglichen Zeitpunkt überfordert und höchstens
eingeschränkt in der Lage war, seinen Berufspflichten nachzukommen.

    Unbestrittenermassen hat das Obergericht in seinem Strafurteil
auf die fraglichen Konfrontationseinvernahmen vom 14./16. Januar 1991
"(mit-)entscheidend zulasten des Beschwerdeführers abgestellt". Der
damalige amtliche Verteidiger Dr. Y hat an diesen wichtigen Einvernahmen
(Vierer-Konfrontationen unter Mitverdächtigen) nicht teilgenommen
und lediglich im Fall des Verhörs vom 16. Januar 1991 telefonisch
Ergänzungsfragen stellen lassen. Zwar hatte Rechtsanwalt Dr. Y einer
Vernehmung des Beschwerdeführers vom 7. Dezember 1990 beigewohnt,
sich dabei mit dem Angeschuldigten besprochen und Ergänzungsfragen
gestellt. Nach den Darlegungen der zuständigen Bezirksanwältin hat sich
Rechtsanwalt Dr. Y jedoch bis März 1991 "keine weiteren Aktenkenntnisse
des vorliegenden umfangreichen, sehr komplexen und seitens seines Klienten
absolut bestrittenen Sachverhalts angeeignet". Bis zum 8. März 1991 habe
der amtliche Verteidiger den Beschwerdeführer im übrigen nie im Gefängnis
besucht. Im anschliessend auf Antrag der Bezirksanwaltschaft angestrengten
Verfahren betreffend Entzug des Offizialmandats gab Rechtsanwalt Dr. Y
als Grund für sein Fehlen bei den Konfrontationseinvernahmen (wörtlich)
an, dass er an einem "Abszess an der linken Backe" und "starken Wehen im
Rückenbereich" gelitten habe. Mit Präsidialverfügung vom 17. April 1991
wurde Rechtsanwalt Dr. Y daraufhin aus seiner Funktion als amtlicher
Verteidiger entlassen. Der Bezirksgerichtspräsident i.V. stellte dabei
ausdrücklich fest, dass der amtliche Verteidiger in mehrfacher Hinsicht,
insbesondere durch die Nichtteilnahme an den Konfrontationseinvernahmen und
die Weigerung, einen Stellvertreter zu bestellen, gegen das Interesse des
Mandanten verstossen und insgesamt seine Pflichten als Offizialverteidiger
krass verletzt habe. Die Fragerechte des Beschwerdeführers seien anlässlich
der Konfrontationseinvernahmen jedoch "einigermassen" gewahrt worden. In
der Folge wurde Rechtsanwalt Z als amtlicher Verteidiger ernannt. Am 7. Mai
1991 wurde ihm eine Bewilligung zum Besuch des Beschwerdeführers erteilt.

    e) Aus dem Gesagten ergibt sich, dass der offensichtlich überforderte
frühere Offizialverteidiger des Beschwerdeführers von Amtes wegen
ersetzt worden ist. Die Konfrontationseinvernahmen, auf welche die
Strafurteile der kantonalen Gerichte belastend abstellen und die noch
unter der Verantwortung des danach abgelösten Verteidigers durchgeführt
wurden, sind jedoch bis heute nicht wiederholt worden. Es fragt sich, ob
dies im hier zu beurteilenden Fall mit den in Verfassung und Konvention
garantierten Grundrechten vereinbar ist.

    aa) Die vorliegende Prozessgeschichte wirft in der Tat einige
Bedenken auf. Es ist jedoch festzustellen, dass die kantonalen Behörden
im Interesse des Beschwerdeführers von Amtes wegen eingeschritten sind
und den ungeeigneten Offizialverteidiger ersetzt haben, und zwar innert
relativ kurzer Zeit seit Bekanntwerden der Pflichtverletzungen. Der
diesbezügliche Antrag der zuständigen Bezirksanwältin datiert vom 27. März
1991. Entscheidend fällt jedoch ins Gewicht, dass es dem Beschwerdeführer
und seinem nach der Präsidialverfügung vom 17. April 1991 neu bestellten
amtlichen Verteidiger offen gestanden hätte, rechtzeitig die Wiederholung
der fraglichen Konfrontationseinvernahmen zu verlangen, falls sie dies
zur Wahrung der Verteidigungsrechte als notwendig angesehen hätten.

    Sowohl anlässlich der erstinstanzlichen Hauptverhandlung als auch
im Berufungsverfahren vor Obergericht hätten der Beschwerdeführer
oder sein neuer amtlicher Verteidiger entsprechende Anträge stellen
können. Der Beschwerdeführer behauptet selber nicht, dass dies
rechtzeitig in geeigneter Form getan worden wäre. Das Obergericht und das
Kassationsgericht haben in ihren Urteilen ausdrücklich darauf hingewiesen,
dass nach Ablösung von Rechtsanwalt Dr. Y als Offizialverteidiger im
späteren Haupt- und Berufungsverfahren nie Antrag auf Wiederholung der
in Frage stehenden Einvernahmen gestellt worden sei. Gegenteiliges geht
auch aus den umfangreichen Akten nicht hervor. Vor Bezirksgericht und vor
Obergericht hat der Verteidiger zwar vorgebracht, der Beschwerdeführer sei
nicht ausreichend verteidigt gewesen, er hat aber weder im Haupt- noch im
Berufungsverfahren Antrag auf Wiederholung der Konfrontationseinvernahmen
gestellt. Erst im Nichtigkeitsbeschwerdeverfahren vor dem Zürcher
Kassationsgericht, in welchem er sich unterdessen von einem dritten
(erbetenen) Verteidiger vertreten liess, hat der Beschwerdeführer geltend
gemacht, die Konfrontationseinvernahmen vom 14./16. Januar 1991 verletzten
seine Verteidigungsrechte und müssten daher wiederholt werden.

    bb) Sowohl die Praxis des Bundesgerichtes als auch diejenige der
Strassburger Rechtsprechungsorgane verlangen grundsätzlich, dass der
Angeschuldigte oder sein Anwalt zur Wahrnehmung der Verteidigungsrechte
rechtzeitig und in angemessener Weise aktiv werden müssen (BGE 118
Ia 462 E. 2b/bb S. 466 f. mit Hinweisen; EGMR vom 25. November 1993
i.S. Imbrioscia c. CH, Série A, vol. 275, Ziff. 40 ff.; EGMR vom
19. Dezember 1989 i.S. Kamasinsky c. A, Série A, vol. 168, Ziff. 65;
vgl. JEAN-FRANÇOIS EGLI, La protection de la bonne foi dans le procès,
in: Verfassungsrechtsprechung und Verwaltungsrechtsprechung, Sammlung
von Beiträgen veröffentlicht von der I. öffentlichrechtlichen Abteilung
des schweizerischen Bundesgerichts, Zürich 1992, S. 239 f.). Wenn eine
entsprechende zumutbare Intervention unterbleibt, kann nach Treu und
Glauben und von Grundrechts wegen kein Tätigwerden der Strafjustizbehörden
erwartet werden. Dies gilt nach der Praxis des Bundesgerichtes insbesondere
für das Recht auf Befragung von Belastungszeugen (BGE 118 Ia 462 E. 5b
S. 470 f.) und für den Anspruch des Angeschuldigten auf Beizug seines
Verteidigers zu polizeilichen und untersuchungsrichterlichen Einvernahmen
(unveröffentlichtes Urteil des Bundesgerichtes vom 20. Dezember 1993
i.S. W., E. 4d). Nachdem weder der Beschwerdeführer noch sein neu
bestellter amtlicher Verteidiger entsprechende Begehren gestellt haben,
kann den kantonalen Gerichten nach Treu und Glauben nicht zum Vorwurf
gemacht werden, dass sie auf eine Wiederholung der fraglichen Einvernahmen
verzichtet haben.

    cc) Es kommt dazu, dass der Verzicht des Offizialverteidigers auf
persönliche Teilnahme an Konfrontationseinvernahmen nicht in jedem Fall
und eo ipso eine Verletzung der Verteidigungsrechte darstellen muss.
Dementsprechend haben ausser dem damaligen Offizialverteidiger des
Beschwerdeführers auch noch andere Parteivertreter von einem Beisein
an den Einvernahmen vom 14./16. Januar 1991 abgesehen. Stellt sich
für den Angeschuldigten oder seinen Anwalt jedoch in der Folge heraus,
dass die Interessen des Angeschuldigten das Beisein des Verteidigers
aus erheblichen Gründen verlangt hätten, kann es notwendig erscheinen,
die Konfrontationseinvernahmen auf Antrag des Angeschuldigten oder seines
Verteidigers wiederholen zu lassen. Ob dies im vorliegenden Fall zutrifft,
braucht jedoch nicht entschieden zu werden, da ein entsprechender Antrag
- wie gezeigt - weder vom Beschwerdeführer noch von seinem späteren
Offizialverteidiger gestellt worden ist. Dass eine Wiederholung der
Konfrontationseinvernahmen nicht von Amtes wegen angeordnet worden ist,
kann den kantonalen Behörden unter den gegebenen Umständen nicht zum
Vorwurf gemacht werden.

    f) Nach dem Gesagten liegt im hier zu beurteilenden Fall keine
Verletzung der von Art. 4 BV bzw. Art. 6 Ziff. 3 EMRK gewährleisteten
Verteidigungsrechte vor.