Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 120 IA 43



120 Ia 43

5. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung vom
7. Januar 1994 i.S. X gegen Anklagekammer des Kantonsgerichtes des Staates
Freiburg (staatsrechtliche Beschwerde) Regeste

    Art. 4 BV, Art. 6 Ziff. 3 lit. c EMRK (Anspruch auf amtliche
Verteidigung).

    Bei der Beurteilung der Notwendigkeit einer Offizialverteidigung
ist nicht die abstrakte gesetzliche Strafdrohung massgeblich. Vielmehr
ist grundsätzlich auf die konkreten Verhältnisse des Einzelfalles
abzustellen. Falls eine Freiheitsstrafe von einigen Wochen bis Monaten in
Frage kommt, ist für die Annahme eines direkt aus Art. 4 BV ableitbaren
Anspruches auf Offizialverteidigung am Erfordernis der besonderen
Schwierigkeiten rechtlicher oder tatsächlicher Natur festzuhalten
(Bestätigung der Rechtsprechung, E. 2). Im beurteilten Fall liegen
derartige Schwierigkeiten vor (E. 3).

Sachverhalt

    A.- Der Untersuchungsrichter des Sensebezirkes des Kantons
Freiburg führt eine Strafuntersuchung gegen X, u.a. wegen qualifizierter
Widerhandlung gegen das Betäubungsmittelgesetz. Am 9. November 1992 wurde
ein psychiatrisches Gutachten zum Geisteszustand von X ausgefertigt. Der
Experte stellte bei ihr unter anderem eine Polytoxikomanie
fest. Mit Entscheid vom 13. Juli 1993 lehnte die Anklagekammer des
Kantonsgerichtes des Staates Freiburg das Gesuch von X um Ernennung
eines amtlichen Verteidigers ab. Der Entscheid wurde damit begründet,
dass die Voraussetzungen für die Beigabe eines Offizialverteidigers nach
kantonalem Strafprozessrecht nicht erfüllt seien. Die dagegen erhobene
staatsrechtliche Beschwerde heisst das Bundesgericht gut.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- Der Anspruch auf Offizialverteidigung wird in erster Linie
durch die Vorschriften des kantonalen Strafprozessrechtes geregelt.
Unabhängig davon greifen die direkt aus Verfassung und Europäischer
Menschenrechtskonvention hergeleiteten Minimalgarantien Platz. Die
Beschwerdeführerin macht nicht geltend, die kantonalen Behörden hätten
das Freiburger Strafprozessrecht falsch angewendet. Sie rügt vielmehr,
die auf kantonales Recht gestützte Verweigerung der amtlichen Verteidigung
verstosse gegen den direkt aus Art. 4 BV und Art. 6 Ziff. 3 lit. c EMRK
fliessenden Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege.

    a) Als besondere Garantie für den Angeschuldigten im Strafprozess
gewährleistet Art. 6 Ziff. 3 lit. c EMRK die unentgeltliche Bestellung
eines amtlichen Verteidigers, falls dies im Interesse der Rechtspflege
erforderlich erscheint und der Angeschuldigte mittellos ist. Nach
der Rechtsprechung des Bundesgerichtes hat die bedürftige Partei aber
auch schon gestützt auf Art. 4 BV einen allgemeinen grundrechtlichen
Anspruch auf unentgeltliche Rechtsverbeiständung, wenn ihre Interessen
in schwerwiegender Weise betroffen sind und der Fall in tatsächlicher
und rechtlicher Hinsicht Schwierigkeiten bietet, die den Beizug eines
Rechtsvertreters erforderlich machen (BGE 117 Ia 277 E. 5a S. 279; 116
Ia 295 E. 6a S. 303 f.; 115 Ia 103 S. 105; 114 V 228 E. 4a S. 231 f.;
113 Ia 218 E. 3b S. 221; 112 Ia 14 E. 3c S. 17 f.). Falls das in Frage
stehende Verfahren besonders stark in die Rechtspositionen des Betroffenen
eingreift, ist die Bestellung eines amtlichen Rechtsvertreters nach
der Praxis des Bundesgerichtes grundsätzlich geboten. Dies trifft
insbesondere im Strafprozess zu, wenn dem Angeschuldigten eine
schwerwiegende freiheitsentziehende Massnahme oder eine Strafe droht,
deren Dauer die Gewährung des bedingten Strafvollzuges ausschliesst
(BGE 116 Ia 295 E. 6a S. 304; 115 Ia 103 S. 105, je mit Hinweisen). In
BGE 117 Ia 282 hat das Bundesgericht offengelassen, ob in einem
Verfahren betreffend Rückversetzung in den Massnahmenvollzug nach
bedingter oder probeweiser Entlassung gemäss Art. 45 Ziff. 3 Abs. 1
StGB für den Betroffenen derart viel auf dem Spiel stand, dass die
Notwendigkeit einer anwaltlichen Verbeiständung von vornherein zu
bejahen gewesen wäre. Falls kein besonders schwerer Eingriff in die
Rechte des Gesuchstellers droht, müssen zur relativen Schwere des Falles
besondere tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten hinzukommen,
denen der Gesuchsteller - auf sich alleine gestellt - nicht gewachsen
wäre. Dass im betreffenden Verfahren die Offizialmaxime gilt, vermag
dabei die Notwendigkeit der unentgeltlichen Rechtsverbeiständung nicht
a priori auszuschliessen (BGE 117 Ia 277 S. 282; 115 Ia 103 S. 105,
je mit Hinweisen). Bei offensichtlichen Bagatelldelikten, bei denen
nur eine Busse oder eine geringfügige Freiheitsstrafe in Frage kommt,
verneint die Bundesgerichtspraxis jeglichen verfassungsmässigen Anspruch
auf unentgeltliche Rechtsverbeiständung (BGE 113 Ia 218 E. 3b S. 221;
111 Ia 81 E. 2c S. 83; vgl. THOMAS HANSJAKOB, Sonderfragen zum Anspruch
auf amtliche Verteidigung, ZStrR 106 [1989] 429 ff.).

    b) In einem die Schweiz betreffenden Urteil vom 24. Mai 1991
i.S. Quaranta hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte erwogen,
dass allein schon eine aufgrund des Strafrahmens rechtlich ("en droit")
mögliche Höchststrafe von drei Jahren Gefängnis die unentgeltliche
Rechtsverbeiständung des Angeschuldigten notwendig erscheinen
lasse. Dies gelte selbst dann, wenn im konkreten Fall nichts darauf
hinweist, dass eine unbedingt vollziehbare Gefängnisstrafe von über 18
Monaten verhängt werden könnte (Publications de la Cour européenne des
droits de l'homme, EGMR Série A, vol. 205, Ziff. 33 = VPB 1991 Nr. 52,
S. 428 f.). Dieser "abstrakten" Betrachtungsweise ist das Bundesgericht
nicht gefolgt. Massgebend für die Notwendigkeit der unentgeltlichen
Rechtsverbeiständung kann aus verfassungsrechtlicher Sicht nicht
sein, welche Sanktion aufgrund des obersten Strafrahmens theoretisch
denkbar wäre. Andernfalls müsste auch bei völlig geringfügigen Vergehen
mit Bagatellcharakter ein Anspruch auf amtliche Verteidigung bejaht
werden. Dies aber entspräche nicht dem Sinn und Zweck des in Art. 4 BV und
Art. 6 Ziff. 3 lit. c EMRK garantierten grundrechtlichen Minimalstandards
(nicht amtlich publiziertes Urteil des Bundesgerichtes vom 28. September
1992 i.S. H., E. 3b; s. ZBJV 1992, S. 732 f.). Jedenfalls hat auch der
Gerichtshof im Fall Quaranta ausdrücklich spezielle Schwierigkeiten
rechtlicher und tatsächlicher Natur berücksichtigt. Sie betrafen nicht
nur die Tatsache, dass das urteilende Gericht sowohl über den Vollzug
einer bedingt aufgeschobenen Strafe als auch über die neue Sanktion
zu befinden hatte, sondern zudem noch die schwierigen persönlichen
Verhältnisse des Angeschuldigten (EGMR Série A, vol. 205, Ziff. 34 f.;
vgl. MARC FORSTER, Der Anspruch auf unentgeltliche Rechtsverbeiständung
in der neueren bundesgerichtlichen Rechtsprechung, ZBl 93 [1992]
461; CLAUDE ROUILLER/ANDRÉ JOMINI, L'effet dynamique de la Convention
européenne des droits de l'homme, ZStrR 109 [1992] 251). Für nur relativ
schwere Fälle im Sinne der dargelegten Bundesgerichtspraxis, bei denen
mit einer Freiheitsstrafe von einigen Wochen bis Monaten zu rechnen ist,
muss somit am Erfordernis der besonderen Schwierigkeiten rechtlicher oder
tatsächlicher Natur festgehalten werden.

Erwägung 3

    3.- a) Im vorliegenden Fall wird die Bedürftigkeit der arbeitslosen
und schuldenbelasteten Beschwerdeführerin nicht bestritten. Zu prüfen
ist jedoch, ob die von ihr beantragte Offizialverteidigung sich als
notwendig aufdrängt. Fraglich erscheint bereits, ob hier von einem nur
"relativ" schweren Fall im Sinne der dargelegten Praxis ausgegangen
werden kann. Der Beschwerdeführerin wird insbesondere Drogenhandel mit
über 130 Kilogramm Cannabis und ca. 200 Gramm Heroin sowie Konsum harter
Drogen vorgeworfen. Sie muss daher mit einer Anklage wegen qualifizierten
Widerhandlungen gegen das Betäubungsmittelgesetz rechnen. Dazu kommen
noch weitere strafrechtliche Vorwürfe wie Diebstähle, Entwendungen sowie
Erschleichen von Leistungen. Das Verfahren wegen sexueller Belästigung
(Art. 198 StGB) wurde mangels Strafantrag eingestellt. Die Frage, ob im
vorliegenden Fall eine Freiheitsstrafe von über 18 Monaten droht, kann
allerdings offengelassen werden. Wie aus den nachfolgenden Erwägungen
ergeht, ist angesichts der Schwere und Komplexität der Tatvorwürfe
sowie des schlechten psychischen und gesundheitlichen Zustandes der
Beschwerdeführerin jedenfalls von besonderen Schwierigkeiten des Falles
auszugehen, welche eine Offizialverteidigung notwendig erscheinen lassen.

    b) Im zitierten Quaranta-Urteil hat der Europäische Gerichtshof
das Zusammentreffen gewisser rechtlicher und tatsächlicher Umstände
als besondere Schwierigkeit gewertet. Zum einen hatte der Strafrichter
neben der Festlegung einer neuen Sanktion wegen Drogendelikten über
den Widerruf eines früher ausgesprochenen bedingten Strafvollzuges zu
entscheiden. Sodann handelte es sich beim Angeschuldigten um einen jungen
Erwachsenen, der regelmässig Drogen konsumierte, keine Berufsausbildung
besass und mehrfach vorbestraft war (EGMR Série A, vol. 205, Ziff. 34
f.). In einem ähnlichen Fall hat das Bundesgericht die Notwendigkeit
der Offizialverteidigung ebenfalls bejaht. Es ging dabei um einen
22jährigen heroinsüchtigen und vorbestraften Angeschuldigten. Dieser war
erstinstanzlich zwar zu einer verhältnismässig geringen Freiheitsstrafe von
drei Monaten verurteilt worden, es drohte ihm jedoch die Wiedereinsetzung
in den Strafvollzug nach bedingter Entlassung sowie der Widerruf einer
bedingt ausgesprochenen früheren Strafe von zwei Monaten Gefängnis (nicht
amtlich publiziertes Urteil des Bundesgerichtes vom 28. September 1992
i.S. H., E. 3; s. ZBJV 1992, S. 732 f.). ...

    c) Analoges muss auch für das vorliegende Strafverfahren gelten. Der
einschlägig vorbestraften Beschwerdeführerin droht im Falle einer
Verurteilung eine empfindliche Strafe von jedenfalls mehreren Monaten
Gefängnis. Dazu kommt der mögliche Widerruf des bedingten Strafvollzuges
für eine am 4. Juli 1991 durch das Richteramt VI von Bern bereits
ausgesprochene siebentägige Haftstrafe. Die 23jährige Angeschuldigte,
die keine Berufsausbildung abgeschlossen hat, ist ausserdem schwerst
drogensüchtig. Im psychiatrischen Gutachten wurden bei ihr eine
Polytoxikomanie mit Alkohol, Heroin, Kokain, Cannabis sowie Beruhigungs-
und Schlafmitteln und, neben Zeichen einer suchtbedingten allgemeinen
Verwahrlosung, neurotisch-depressive Störungen diagnostiziert. Gemäss
Expertise sei die Beschwerdeführerin generell "unfähig, zum jetzigen
Zeitpunkt alleine ihr Leben angemessen und adäquat zu bestimmen".
In Würdigung all dieser Umstände erweist sich die Offizialverteidigung
im vorliegenden Fall als notwendig.