Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 120 IA 260



120 Ia 260

40. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilabteilung vom 31. Oktober 1994
i.S. S. gegen Vormundschaftsbehörde X. und Obergericht des Kantons Luzern
(staatsrechtliche Beschwerde) Regeste

    Legitimation zur staatsrechtlichen Beschwerde wegen Willkür und
Anfechtbarkeit eines Zwischenentscheides bei einer Umplazierung eines
Kindes durch die Vormundschaftsbehörde (Art. 87 und 88 OG, 310 ZGB sowie
Art. 4 BV).

    Pflegeeltern, zu denen rechtlich auch der leibliche Vater zu
zählen ist, wenn die Kinder bei ihm untergebracht sind, obgleich ihm
die elterliche Gewalt nicht zusteht, sind legitimiert, Anordnungen
der Vormundschaftsbehörde über den Aufenthaltsort des Kindes mit
staatsrechtlicher Beschwerde wegen Willkür anzufechten (E. 2a; Änderung
der Rechtsprechung).

    Der Entscheid der letzten kantonalen Instanz über die aufschiebende
Wirkung einer Beschwerde gegen die Umplazierung eines Kindes durch die
Vormundschaftsbehörde stellt einen blossen Zwischenentscheid dar. Auf eine
gegen einen solchen Zwischenentscheid gerichtete Willkürbeschwerde ist aber
nach Art. 87 OG einzutreten, weil er zu einem nicht wiedergutzumachenden
Nachteil führt (E. 2b).

Sachverhalt

    A.- S. ist der Vater der Kinder A., B. und C. Bis zum 1.  Februar 1993
lebte S. mit der Mutter seiner Kinder im Konkubinat. Nach der Trennung
verblieben die Kinder bei der Mutter.

    Am 13. April 1994 erliess der Gemeinderat von X. eine vorsorgliche
Verfügung, wonach bis zum Erlass eines definitiven Entscheides der Sohn
C. bei seinem Grossvater und die Kinder A. und B. bei ihrem Vater, S.,
untergebracht wurden. Mit Entscheid vom 25. April 1994 ersetzte der
Gemeinderat von X. den Entscheid vom 13. April und entzog der Mutter
gestützt auf Art. 310 Abs. 1 ZGB mit sofortiger Wirkung die Obhut über
die drei Kinder. Gleichzeitig wurden eine Sozialarbeiterin der Regionalen
Beratungsstelle Sozialdienst Amt E., für die geeignete Fremdplazierung
der drei Kinder für zuständig erklärt sowie weitere Kindesschutzmassnahmen
vorbehalten. Dieser Entscheid ist nicht angefochten worden.

    Am 21. Juli 1994 verfügte der Gemeinderat von X. vorsorglich eine
Fremdplazierung der Kinder A., B. und C. im Kinderheim Y. und entzog
einer allfälligen Beschwerde die aufschiebende Wirkung.

    Gegen diesen Entscheid reichte S. Beschwerde beim Regierungsstatthalter
des Amtes E. ein und verlangte unter anderem, dass die aufschiebende
Wirkung superprovisorisch anzuordnen sei. Mit Zwischenentscheid
vom 23. Juli 1994 wies der Regierungsstatthalter das Gesuch um
Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung ab und ermächtigte den
Gemeinderat von X., bei der Vollstreckung der Massnahme nötigenfalls die
Polizei beizuziehen.

    Eine von S. gegen diesen Entscheid gerichtete Beschwerde hiess das
Obergericht des Kantons Luzern am 9. August 1994 teilweise gut, indem es
die Berechtigung aufhob, die Polizei bei der Vollstreckung beizuziehen.
Demgegenüber wurde der Entscheid des Regierungsstatthalters bestätigt,
der Beschwerde keine aufschiebende Wirkung zu erteilen.

    S. gelangt mit staatsrechtlicher Beschwerde an das Bundesgericht. Er
verlangt in erster Linie die Aufhebung des angefochtenen Entscheides. Für
den Fall, dass die Vormundschaftsbehörde der Gemeinde X. schon vor dem
Urteil des Bundesgerichts über die Unterbringung der Kinder definitiv
entscheide, sei die Rechtswidrigkeit des angefochtenen Entscheides
festzustellen.

    Die Gemeinde X. beantragt die Abweisung der Beschwerde. Dies beantragt
auch das Obergericht, soweit darauf einzutreten sei.

    Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut, soweit es darauf eintritt.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- a) Nach Art. 88 OG steht das Recht zur Beschwerdeführung
Privaten bezüglich Rechtsverletzungen zu, die sie durch Verfügungen
erlitten haben. Zur Beschwerde legitimiert ist, wer die Verletzung
eigener rechtlich geschützter Interessen geltend macht (BGE 117 Ia 93
E. 2a; SPÜHLER, Die Praxis der staatsrechtlichen Beschwerde, Bern 1994,
Rz. 35). Insofern hängt die Legitimation von der erhobenen Rüge ab. Aus
den in Erwägung 1 dargelegten Gründen betrifft die vorliegende Beschwerde
nur das Willkürverbot. Dieses verschafft aber keine im Sinne von Art. 88 OG
geschützte Rechtsstellung. Die Legitimation zur Willkürbeschwerde besteht
nur, wenn das Gesetzesrecht, dessen willkürliche Anwendung gerügt wird,
dem Beschwerdeführer einen Rechtsanspruch einräumt oder den Schutz seiner
beeinträchtigten Interessen bezweckt (BGE 117 Ia 93 E. 2b).

    Im vorliegenden Verfahren geht es ausschliesslich um die Frage der
aufschiebenden Wirkung und damit um eine Verfahrensfrage. Der blosse
Umstand, dass der Beschwerdeführer im kantonalen Verfahren Parteistellung
hatte, vermag ihn nicht schon zur staatsrechtlichen Beschwerde zu
legitimieren. Diese setzt vielmehr voraus, dass er in der Sache selber
legitimiert ist (BGE 116 Ia 179 f.).

    In einem Entscheid aus dem Jahre 1984 hatte das Bundesgericht
den Pflegeeltern die Legitimation zur staatsrechtlichen Beschwerde
abgesprochen, soweit geltend gemacht wurde, die von den vormundschaftlichen
Behörden angeordnete Rückgabe des Kindes an die Eltern verstosse in
willkürlicher Weise gegen Art. 310 Abs. 3 ZGB. Diese Bestimmung stehe
ausschliesslich im Interesse des Kindes. Demgemäss sei das Interesse der
Pflegeeltern am Fortbestand des Pflegeverhältnisses rein tatsächlicher
Art und rechtlich nicht geschützt. Auch die Wahrung der Kindesinteressen
stehe ausschliesslich dem Inhaber der elterlichen Gewalt und der
Vormundschaftsbehörde zu (BGE 110 Ia 78 f.).

    Der Beschwerdeführer ist der leibliche Vater der Kinder, um deren
Plazierung es vorliegend geht. Ihm steht indessen die elterliche Gewalt
nicht zu. Damit kann ihm auch nicht die Obhut im Rechtssinne zukommen,
welche das Recht bedeutet, den Aufenthaltsort der Kinder zu bestimmen. Wird
ihm die tatsächliche Obhut überlassen, so liegt eine Unterbringung bei
einem Dritten vor (HEGNAUER, Grundriss des Kindesrechts, Bern 1994,
Rz. 26.06). Diese Unterbringung ist sowohl durch die Inhaberin der
elterlichen Gewalt auf Zusehen hin als auch durch die Vormundschaftsbehörde
im Rahmen einer Kindesschutzmassnahme möglich. Vorliegend wurden die
Kinder von der Vormundschaftsbehörde beim Beschwerdeführer untergebracht,
als sie der Mutter nach Art. 310 Abs. 1 ZGB weggenommen werden mussten. Der
Beschwerdeführer wehrt sich nun gegen die neuerliche Umplazierung der
Kinder. Ihm steht kein weitergehendes Recht zu, über den Aufenthaltsort
der Kinder zu entscheiden, als einem Pflegevater. Von daher ist nicht
zu sehen, wie der Umstand, dass er der leibliche Vater ist, zu einer
gegenüber Pflegeeltern verstärkten Rechtsposition führen soll.

    Wie es sich damit verhält, braucht indessen nicht entschieden zu
werden. Die Auffassung des Bundesgerichts, die Pflegeeltern seien bei einer
Umplazierung zur staatsrechtlichen Beschwerde wegen Willkür nicht befugt,
ist in der Lehre kritisiert worden (HEGNAUER, ZVW 40/1985 S. 52; HEGNAUER,
Grundriss des Kindesrechts, Rz. 27.39; TUOR/SCHNYDER, Das Schweizerische
Zivilgesetzbuch, Zürich 1986, S. 336 Anm. 78; KÖLZ, ZBJV 122/1986 S. 349
ff.). Im Hinblick auf Art. 300 und 310 Abs. 3 ZGB kann die Stellung der
Pflegeeltern in der Tat nicht als eine bloss tatsächliche umschrieben
werden. Vielmehr kann ihnen ein rechtlich schützenswertes Interesse an
der Aufenthaltsregelung nicht abgesprochen werden. Gegenüber früher kommt
den Pflegeeltern im neuen Kindesrecht nämlich rechtlich eine wesentlich
verstärkte Stellung zu. Dieser Entwicklung entspricht auch die oft enge
Verbundenheit zwischen Pflegeeltern und Pflegekindern. Es erscheint daher
als durchaus sinnvoll, wenn das Bundesgericht auch die gegen Pflegeeltern
gerichteten Entscheide wenigstens auf Willkür hin überprüfen kann (so
schon Entscheid v. 23.12.1992 i.S. F.-G., wo die Frage dann allerdings
offengelassen worden ist).

    Der Beschwerdeführer macht somit eine Verletzung eigener, rechtlich
geschützter Interessen geltend, und auf die Rüge, der angefochtene
Entscheid verstosse gegen Art. 4 BV, ist einzutreten.

    b) Gemäss Art. 87 OG ist die staatsrechtliche Beschwerde wegen
einer Verletzung von Art. 4 BV grundsätzlich erst gegen Endentscheide
zulässig. Gegen einen Zwischenentscheid kann eine entsprechende Beschwerde
nur erhoben werden, wenn dieser für die betroffene Person einen nicht
wiedergutzumachenden Nachteil zur Folge hat.

    Vorliegend ist der kantonale Entscheid angefochten, mit dem jeder
Beschwerde die aufschiebende Wirkung entzogen worden ist. Nach der
bundesgerichtlichen Rechtsprechung handelt es sich dabei um einen blossen
Zwischenentscheid (BGE 116 Ia 179; 117 Ia 248; SPÜHLER, Rz. 320). Durch
den sofortigen Vollzug der Umplazierung der Kinder in ein Kinderheim wird
der tatsächliche Aufenthaltsort der Kinder für die Dauer des Verfahrens
endgültig verändert. Selbst wenn der Beschwerdeführer im kantonalen
Beschwerdeverfahren letztlich obsiegte und die Kinder bei ihm plaziert
würden, kann damit für die bis zu diesem Zeitpunkt verstrichene Zeit
keine Umplazierung mehr erfolgen. Der Zwischenentscheid hat somit einen
nicht wiedergutzumachenden Nachteil zur Folge. Dass es sich dabei auch um
einen rechtlichen Nachteil im Sinne der bundesgerichtlichen Rechtsprechung
handelt, ist bereits im Zusammenhang mit der Beschwerdelegitimation
dargetan worden.