Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 120 IA 203



120 Ia 203

30. Auszug aus dem Urteil der II. öffentlichrechtlichen Abteilung vom
27. Mai 1994 i.S. Einwohnergemeinde der Stadt Bern gegen M. K., Verband
der Gemeindebeamten der Stadt Bern und Regierungsrat des Kantons BE
(staatsrechtliche Beschwerde) Regeste

    Gemeindeautonomie, Art. 4 BV; dienstrechtliches Verbot, mit einem
privaten Motorfahrzeug an den Arbeitsplatz zu gelangen.

    Autonomie bernischer Gemeinden im Bereich des Dienstrechts (E. 2).

    Verfassungsrechtliche Schranken von Regelungen für das inner- und
ausserdienstliche Verhalten von Beamten (E. 3).

    Eine dienstrechtliche Verpflichtung, den Arbeitsplatz grundsätzlich
ohne Verwendung eines privaten Motorfahrzeugs zu erreichen, verstösst
gegen Art. 4 BV (E. 4).

Sachverhalt

    A.- Der Stadtrat von Bern erliess am 21. November 1991 ein neues
Personalreglement, dessen Art. 68 unter dem Randtitel "Arbeitsweg"
vorsieht:

    "1Beamtinnen und Beamte sind grundsätzlich verpflichtet, ihren

    Arbeitsplatz ohne Verwendung eines privaten Motorfahrzeugs zu
erreichen.

    2In Fällen von begründeten Ausnahmen sind Dienstparkplätze zu
   kostendeckenden Mietpreisen abzugeben.

    3Von dieser Regelung ausgenommen sind Beamtinnen und Beamte,
die infolge
   von Schichtarbeit oder aus gesundheitlichen Gründen kein öffentliches

    Verkehrsmittel benützen können."

    Die Direktion der Gemeinden des Kantons Bern genehmigte diese
Bestimmung am 6. Mai 1992. M. R. und der Verband der Gemeindebeamten der
Stadt Bern reichten hiergegen am 4. bzw. 5. Juni 1992 Beschwerde ein, die
der Regierungsrat am 15. September 1993 insofern guthiess, als er dem
Absatz 1 von Art. 68 des Personalreglements die Genehmigung verweigerte
und sie den Absätzen 2 und 3 entzog.

    Der Stadtrat von Bern hat gegen diesen Entscheid staatsrechtliche
Beschwerde wegen Verletzung der Gemeindeautonomie eingereicht. Das
Bundesgericht weist sie ab

Auszug aus den Erwägungen:

                   aus folgenden Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- a) Eine Gemeinde ist in einem Sachbereich autonom, wenn das
kantonale Recht diesen nicht abschliessend ordnet, sondern ihn ganz
oder teilweise der Gemeinde zur Regelung überlässt und ihr dabei eine
relativ erhebliche Entscheidungsfreiheit einräumt. Ist dies der Fall,
kann sich die Gemeinde mit staatsrechtlicher Beschwerde insbesondere
dagegen zur Wehr setzen, dass eine kantonale Behörde im Rechtsmittel-
oder Genehmigungsverfahren ihre Prüfungsbefugnis überschritten oder
die den betreffenden Sachbereich ordnenden kommunalen, kantonalen oder
bundesrechtlichen Normen falsch angewandt hat. Soweit die Handhabung von
eidgenössischem oder kantonalem Verfassungsrecht zur Diskussion steht,
prüft das Bundesgericht das Vorgehen der kantonalen Behörden mit freier
Kognition, ansonsten nur auf Willkür hin (BGE 119 Ia 214 E. 3a S. 218;
118 Ia 218 E. 3a S. 219 f.). Ob Autonomie besteht, ist nicht eine Frage
des Eintretens, sondern der materiellen Beurteilung (BGE 119 Ia 214
E. 1c S. 217).

    b) Nach Art. 2 Abs. 1 des Gemeindegesetzes vom 20. Mai 1973 (GG;
BSG 170.11) steht den Berner Gemeinden das Recht der Selbstgesetzgebung
und Selbstverwaltung in den Schranken der Vorschriften des Bundes und des
Kantons zu; sie ordnen im Rahmen der staatlichen Vorschriften die Wahlart,
Amtsdauer, Pflichten und Rechte der Gemeindebeamten (Art. 108 GG). Ihnen
kommt in diesem Bereich somit eine relativ erhebliche Entscheidungsfreiheit
zu (vgl. DANIEL ARN, Die Zuständigkeitsordnung im bernischen Gemeinderecht,
Diss. BE 1992, S. 86). Daran vermag die Tatsache nichts zu ändern, dass
alle Gemeindereglemente zu ihrer Gültigkeit der Genehmigung einer Direktion
des Regierungsrats bedürfen (Art. 45 Abs. 1 GG); die Genehmigung beschränkt
sich auf die Prüfung der Rechtmässigkeit und inneren Widerspruchslosigkeit
(Art. 46 GG).

    c) Der Regierungsrat ist zum Schluss gekommen, Art. 68 Abs. 1
des Personalreglements der Stadt Bern, wonach die städtischen Beamten
grundsätzlich verpflichtet wären, ihren Arbeitsplatz ohne Verwendung eines
privaten Motorfahrzeugs zu erreichen, verstosse gegen die Rechtsgleichheit
und damit gegen Art. 4 BV. Das Bundesgericht hat mit freier Kognition
zu prüfen, ob der Regierungsrat diese Verfassungsbestimmung - wie die
Beschwerdeführerin behauptet - falsch angewandt und damit unzulässigerweise
in ihre Autonomie eingegriffen hat.

Erwägung 3

    3.- a) Das öffentlichrechtliche Dienstverhältnis ist ein besonderes
Rechtsverhältnis. Der Beamte ist nicht nur zur gewissenhaften Erfüllung
seiner dienstlichen Obliegenheiten verpflichtet; ihn trifft vielmehr
regelmässig auch eine gewisse allgemeine Treuepflicht, die sich auf das
ausserdienstliche Verhalten erstreckt. Art. 57 Abs. 4 des stadtbernischen
Personalreglements sieht ausdrücklich vor, dass die Beamten ausser Dienst
alles zu unterlassen hätten, was die "Vertrauenswürdigkeit hinsichtlich
ihrer dienstlichen Tätigkeit beeinträchtigen" könnte. Der Beamte ist
in seiner persönlichen Lebensgestaltung im Rahmen der allgemeinen
Rechtsordnung zwar grundsätzlich frei; er hat jedoch jene Schranken zu
respektieren, die seine besondere dienstrechtliche Stellung erfordert:
Die Meinungsäusserungsfreiheit findet dort ihre Grenzen, wo sein Verhalten
die Amtsführung und das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Verwaltung
beeinträchtigt (BGE 108 Ia 172 E. 4b S. 175, Urteil vom 22. Dezember
1983, in ZBl 85/1984 S. 308 E. 5 S. 315); die Niederlassungsfreiheit
darf eingeschränkt werden, wo zwingende Gründe des Dienstes oder das
Erfordernis besonderer Beziehungen zur Bevölkerung dies gebieten; bloss
fiskalische Gründe reichen nicht aus (BGE 118 Ia 410 ff. mit Hinweisen).

    b) Der Regierungsrat hat offengelassen, ob Art. 68 des
Personalreglements die persönliche Freiheit der Beamten tangiert und
allenfalls eine unzulässige Beschränkung dieses verfassungsmässigen Rechts
darstellt. Das Problem braucht auch hier nicht geprüft zu werden. Dem
Beamten können inner- wie ausserdienstlich nur solche Beschränkungen
auferlegt werden, die sich aus den besonderen Erfordernissen des
Dienstverhältnisses ergeben (vgl. HERMANN SCHROFF/DAVID GERBER, Die
Beendigung der Dienstverhältnisse in Bund und Kantonen, St. Gallen 1985,
Rz. 87). Soweit ein Bezug zum Amt und zur dienstlichen Tätigkeit fehlt,
befindet sich ein Beamter in der gleichen Situation wie irgendein Bürger,
weshalb rechtliche Ungleichbehandlungen nicht an seinen Beamtenstatus
anknüpfen können. Dem Beamten obliegen - losgelöst von seinem Amt und der
Pflicht, dem Vertrauen der Öffentlichkeit in die Amtstätigkeit nicht zu
schaden - keine über die allgemeine Rechtsordnung hinausgehenden Pflichten
(YVO HANGARTNER, Treuepflicht und Vertrauenswürdigkeit der Beamten, in:
ZBl 85/1984 S. 393). Das Gemeinwesen kann solche nicht aus dem besonderen
Rechtsverhältnis ableiten, denn es ist nur befugt, das Dienstverhältnis und
damit dienstrechtlich relevantes Verhalten zu regeln. Vorschriften, die
über diese Schranken hinausgehen und die vom Beamten mehr verlangen als von
den übrigen Bürgern, sind mit dem Rechtsgleichheitsgebot unvereinbar; die
Tatsache, dass jemand Arbeitnehmer im öffentlichen Dienst ist, vermag für
sich allein noch keine Ungleichbehandlung zu rechtfertigen (YVO HANGARTNER,
aaO, S. 394, PETER HÄNNI, Die Treuepflicht im öffentlichen Dienstrecht,
Freiburg 1982, S. 100 und 109, PETER BELLWALD, Die disziplinarische
Verantwortlichkeit der Beamten, Bern 1985, S. 90).

Erwägung 4

    4.- a) Die Beschwerdeführerin begründet die Rechtmässigkeit von Art. 68
ihres Personalreglements damit, dass die Verwaltung namentlich die Aufgabe
habe, den politischen Vorgaben, welche die zuständigen Gemeindeorgane
setzen, zum Durchbruch zu verhelfen; eine solche Vorgabe sei das Bestreben,
die Pendlerströme von privaten Motorfahrzeugen zu reduzieren. Ein Beamter,
der mit seinem privaten Motorfahrzeug zur Arbeit fahre, gerate mit den
verkehrspolitischen Zielen des Gemeinwesens in einen Interessenkonflikt,
der seine dienstliche Tätigkeit beeinträchtige. Der Regierungsrat gehe zu
Unrecht davon aus, die Benützung eines privaten Motorfahrzeugs für die
Fahrt zur Arbeit werde nach der heute generell herrschenden Auffassung
grundsätzlich nicht missbilligt; sowohl die Stimmbürger der Stadt
Bern (durch die Annahme der sogenannten "Pendlerinitiative") wie die
Mehrheit des Stadtrats habe sich stets gegen das Pendeln mit privaten
Motorfahrzeugen ausgesprochen. Der Beamte, der seinen Arbeitsplatz mit
dem privaten Motorfahrzeug erreiche, erwecke Zweifel an seinem Willen,
für die städtische Verkehrspolitik einzustehen und sich dafür einzusetzen;
sein Verhalten wirke widersprüchlich und unglaubwürdig.

    b) Diese Begründung überzeugt nicht: Der Arbeitsweg
gehört grundsätzlich zum ausserdienstlichen Bereich; mit welchem
Verkehrsmittel ein Beamter an seinen Arbeitsplatz gelangt, steht mit
der Erfüllung der Dienstpflichten und dem Ansehen der Verwaltung in
keinem Zusammenhang. Solange die Beschwerdeführerin nicht sämtlichen
Pendlern gebietet, ohne privates Motorfahrzeug an ihrem Arbeitsplatz zu
erscheinen - wobei dahingestellt bleiben kann, ob sie dazu überhaupt befugt
wäre -, darf sie auch von ihren Beamten kein entsprechendes Verhalten
verlangen. Ob die Mehrheit der Stimmbürger der Stadt die Benützung privater
Motorfahrzeuge für die Fahrt zur Arbeit missbilligt, steht zudem nicht
fest. Die Pendlerinitiative (vgl. dazu das unveröffentlichte Urteil
des Bundesgerichts vom 21. September 1993 i.S. S.) verbot trotz ihrer
missverständlichen Bezeichnung ("Stopp den Autopendlern") das Pendeln
keineswegs; sie erschwerte es allenfalls, und auch dies nur durch
indirekte, höchstens auf lange Sicht wirksame Massnahmen, indem durch
Abänderung der betreffenden Bestimmungen der städtischen Bauordnung das
Erstellen von Abstellplätzen für Personenwagen gewissen Einschränkungen
unterworfen wurde. Wie es sich damit verhält, kann aber letztlich
dahingestellt bleiben: In einem demokratischen Staatswesen darf der
Beamte nicht ohne dienstliche Notwendigkeit auf die Meinung der Mehrheit
verpflichtet werden (ZBl 85/1984 S. 308 E. 5c S. 315, BGE 75 II 329
S. 331, 65 I 236 E. 4a S. 245). Er ist nicht gehalten, die vom Staat
verfolgte Politik öffentlich zu verteidigen; es besteht insofern keine
positive Treuepflicht (ANDRÉ GRISEL, Traité de droit administratif, Bd. I,
S. 483). Das gilt nicht nur für die politische Betätigung im eigentlichen
Sinn, wie etwa die Mitwirkung in Parteien oder die Teilnahme an politischen
Veranstaltungen, sondern für das ausserdienstliche Verhalten schlechthin;
dem Beamten kommt keine Vorbildfunktion zu. Selbst wenn somit angenommen
werden müsste, die Verwendung des privaten Motorfahrzeugs für die
Fahrt zur Arbeit werde von der Mehrheit der Bevölkerung missbilligt und
widerspreche den Zielsetzungen der städtischen Verkehrspolitik, könnte
die Beschwerdeführerin den Beamten kein entsprechendes dienstrechtliche
Verbot auferlegen.

    Die Beschwerdeführerin übertreibt, wenn sie behauptet, die städtische
Verkehrspolitik werde unglaubwürdig, wenn sich nicht sämtliche Beamte
danach richteten. Eine Stadt von der Grösse Berns beschäftigt eine grosse
Zahl an Arbeitskräften, von denen nur ein geringer Teil von der Bevölkerung
als eigentliche Beamte beziehungsweise Repräsentanten des Gemeinwesens
wahrgenommen wird. Niemand wird aber daraus, wie sich ein Mitarbeiter des
städtischen Bauamts, der Wasserversorgung, des Schlachthauses oder der
Kehrichtabfuhr zur Arbeit begibt, Rückschlüsse auf die Glaubwürdigkeit
der Verkehrspolitik der Beschwerdeführerin ziehen. Bei leitenden
Beamten, insbesondere solchen des betreffenden Dienstzweigs, mag es sich
unter Umständen etwas anders verhalten; von ihnen könnte aufgrund der
Treuepflicht allenfalls eine stärkere Identifikation mit den politischen
Zielen der Stadt verlangt werden. Art. 68 des Personalreglements will
jedoch grundsätzlich allen städtischen Beamten die Benutzung von privaten
Motorfahrzeugen für ihren Arbeitsweg verbieten, was nach dem Gesagten
unzulässig ist.