Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 120 IA 14



120 Ia 14

2. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung vom 7. März 1994 i.S. Dragan
S. gegen Obergericht des Kantons Luzern (staatsrechtliche Beschwerde)
Regeste

    Art. 4 BV; Anspruch auf unentgeltliche Verbeiständung.

    Die Praxis der Justizkommission des Obergerichts des Kantons Luzern,
wonach die Wirkungen der unentgeltlichen Verbeiständung in der Regel erst
ab dem Zeitpunkt eintreten, in dem sie den gutheissenden Entscheid des
Amtsgerichtspräsidenten bestätigt, verletzt Art. 4 BV.

Sachverhalt

    A.- Dragan S. wurde im Juli 1991 Opfer eines Arbeitsunfalles,
aus welchem er Schadenersatzansprüche gegen seinen Arbeitgeber und
einen Mitarbeiter ableitet. Am 28. Mai 1993 liess er durch Rechtsanwalt
T. beim Amtsgericht Luzern-Stadt die Klage einreichen und gleichzeitig um
Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege ersuchen. Ein anschliessender
Sühneversuch blieb erfolglos. Der Präsident des Amtsgerichts gab dem
Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege erst am 8. November 1993 statt. Die
Gutheissung des Gesuchs bedurfte nach kantonalem Recht der Bestätigung
durch das Obergericht, dem auch die Ernennung des Rechtsbeistandes
oblag. Antragsgemäss betraute die Justizkommission des Obergerichts
Rechtsanwalt T. mit dieser Funktion. Der Entscheid der Justizkommission
vom 15. Dezember 1993 enthält folgenden Schlusspassus:

    "Zur Klarheit wird festgehalten, dass die Bemühungen von

    Rechtsanwalt T. vor dem Datum dieses Bestätigungsentscheids
   (15.12.1993) nicht vom Staat zu entschädigen sind, da deren

    Dringlichkeit weder behauptet noch ausgewiesen ist (vgl. LGVE 1987

    I Nr. 38)."

    Dragan S. hat den Entscheid der Justizkommission mit staatsrechtlicher
Beschwerde wegen Verletzung von Art. 4 BV angefochten, die vom
Bundesgericht gutgeheissen wird.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 3

    3.- a) Der Umfang des Anspruches auf unentgeltliche Rechtspflege und
Verbeiständung bestimmt sich zunächst nach den Vorschriften des kantonalen
Rechts. Sichert dieses der bedürftigen Partei nicht in ausreichendem Masse
die Möglichkeit, ihre Rechte zu wahren, so greifen die unmittelbar aus
Art. 4 BV hergeleiteten Regeln ein, die ein Mindestmass an Rechtsschutz
gewährleisten (BGE 116 Ia 102 E. 4a S. 104 mit Hinweisen). Nach ständiger
Rechtsprechung des Bundesgerichts verschafft Art. 4 BV einer bedürftigen
Partei in einem für sie nicht aussichtslosen Zivilprozess Anspruch auf
unentgeltliche Rechtspflege und auf Ernennung eines unentgeltlichen
Rechtsbeistandes, sofern sie eines solchen zur gehörigen Wahrung ihrer
Interessen bedarf (BGE 119 Ia 251 E. 3 S. 253 und 264 E. 3a S. 265 mit
Hinweisen).

    b) Gemäss § 306 ZPO/LU sind Armenrechtsgesuche seitens des Klägers
"in der Regel so rechtzeitig zu stellen, dass vor Einreichung der Klage
... darüber entschieden werden kann", spätestens aber mit der Klage
(Abs. 1). Ein nach diesem Zeitpunkt eingereichtes Gesuch kann nach Absatz 2
nur noch mit seither eingetretenen Tatsachen begründet werden. Erteilt der
zuständige Gerichtspräsident das Armenrecht, so sendet er seinen Entscheid
mit den Akten an das Obergericht, das den Entscheid bestätigt oder abändert
(§ 307 Abs. 4 ZPO/LU). Wird dem Gesuchsteller das Armenrecht auch für die
Anwaltskosten gewährt, "so weist ihm das Obergericht ... aus der Zahl der
praktizierenden Anwälte des Kantons einen Anwalt an" (§ 309 Abs. 1 ZPO/LU).

    Nach veröffentlichter Praxis der Justizkommission des Obergerichts
besteht vor ihrem Entscheid zwischen Armenanwalt und Gesuchsteller ein
rein privatrechtliches Mandatsverhältnis. Für Bemühungen des Anwalts im
Rahmen dieses Verhältnisses habe der Staat nicht aufzukommen, weshalb der
Erteilung der unentgeltlichen Rechtspflege grundsätzlich keine rückwirkende
Kraft zukomme. Ausnahmen sind nach dieser Praxis dann zu machen, wenn die
Handlungen des Anwaltes dringlich waren, seine Bemühungen keinen Aufschub
zu dulden schienen (LGVE 1987 I Nr. 38 und 39).

    c) Der Beschwerdeführer macht nicht geltend, die Justizkommission
habe kantonales Prozessrecht willkürlich angewendet. Der angefochtene
Entscheid ist daher unter diesem Gesichtspunkt nicht zu prüfen. Beansprucht
werden lediglich die aus Art. 4 BV abgeleiteten Minimalrechte. Das
Kriterium der amtlichen Ernennung des Anwaltes zu einem vom Staat
besoldeten Rechtsbeistand ist nach Auffassung des Beschwerdeführers in
diesem Zusammenhang sachfremd; die Gutheissung des Gesuches durch beide
kantonalen Instanzen bestätige, dass die auf eigenes Risiko der Partei
zuvor erbrachten Aufwendungen notwendig gewesen seien. Auch habe die
Verbindung des Gesuches mit der Klage die für seinen Erfolg entscheidende
Beurteilung der Prozessaussichten überhaupt erst ermöglicht. Nach
einem den Kanton Luzern betreffenden Entscheid des Bundesgerichts
(BGE 61 I 234 ff.) könne zwar verlangt werden, dass der Anspruch auf
unentgeltliche Verbeiständung schon zu Beginn des Prozesses angemeldet
werde. Jedoch genüge zur Erreichung ihres Genusses bereits vom Beginn
des Rechtsschriftenwechsels an ein zusammen mit der Klage eingereichtes
Gesuch. Es sei nicht einzusehen, welches schutzwürdige Interesse das
Gericht an einer früheren Einreichung haben könne.

    d) Da der Anspruch auf unentgeltliche Verbeiständung dem Ziel
dient, auch der bedürftigen Partei den Zugang zum Gericht und die
zweckdienliche Wahrung ihrer Parteirechte zu ermöglichen, kann er nach
Vorliegen eines Antrages nicht davon abhängen, wann der Kanton dem Anwalt
ein öffentlichrechtliches Mandat verleiht. Sind die Voraussetzungen
erfüllt, so hat der Kanton ab sofort für die Kosten der Verbeiständung
aufzukommen. War das Gesuch des Beschwerdeführers im Zeitpunkt der
Einreichung, am 28. Mai 1993, aber begründet, der Anspruch also auf
diesen Zeitpunkt hin nachgewiesen, so bestand kein sachlicher Grund,
ihn erst mit Wirkung ab dem 8. November 1993 anzuerkennen.

    e) Die Frage, ab welchem Zeitpunkt die Gewährung der unentgeltlichen
Rechtspflege ihre Wirkungen entfalten soll, ist in den meisten
kantonalen Zivilprozessordnungen nicht ausdrücklich geregelt. In Lehre
und Rechtsprechung zu den kantonalen Regelungen wird jedoch überwiegend
die Meinung vertreten, die Wirkungen müssten mit der Gesuchseinreichung
eintreten. Eine Rückwirkung über diesen Zeitpunkt hinaus, wie sie zum
Beispiel in Art. 286 Abs. 2 ZPG/SG und Art. 89 Abs. 2 ZPO/AR als Ausnahme
vorgesehen ist, wird dagegen nur vereinzelt und unter einschränkenden
Voraussetzungen befürwortet (STRÄULI/MESSMER, Kommentar zur Zürcherischen
Zivilprozessordnung, 2. Aufl., N. 2 zu § 90 ZPO; STAEHELIN/SUTTER,
Zivilprozessrecht, S. 195 f.; CHRISTIAN FAVRE, L'assistance judiciaire
gratuite en droit suisse, Diss. Lausanne 1989, S. 118; BEAT RIES, Die
unentgeltliche Rechtspflege nach der aargauischen Zivilprozessordnung vom
18. Dezember 1984, Diss. Zürich 1990, S. 154 f.; ZEN-RUFFINEN, Assistance
judiciaire et administrative: les règles minima imposées par l'article 4
de la Constitution fédérale, Jdt 137 (1989) I, S. 56; PATRICK WAMISTER,
Die unentgeltliche Rechtspflege, die unentgeltliche Verteidigung und der
unentgeltliche Dolmetscher unter dem Gesichtspunkt von Art. 4 BV und Art. 6
EMRK, Diss. Basel 1983, S. 76 f.; CHARLES GUGGENHEIM, Die unentgeltliche
Verbeiständung in den kantonalen Zivilprozessrechten, Diss. Zürich 1944,
S. 83 f.). Nach einem neueren, nicht veröffentlichten Entscheid des
Bundesgerichts (vom 11. Februar 1993 i.S. N.) ergibt sich unmittelbar
aus Art. 4 BV, dass ein Gesuch um unentgeltliche Prozessführung jederzeit
während des Verfahrens gestellt werden kann. Zudem erscheint es nach diesem
Entscheid naheliegend, schon allein gestützt auf Art. 4 BV - das heisst
unabhängig von der im konkreten Fall anwendbaren kantonalen Regelung -
einen Anspruch auf unentgeltliche Verbeiständung auch bei nachträglicher
Gesuchsstellung und bezüglich bereits geleisteter Arbeit anzuerkennen.

    f) Im vorliegenden Fall stellt sich die Frage der Rückwirkung lediglich
in beschränkter Form. Verlangt wird vom Beschwerdeführer nämlich die
gerichtliche Anerkennung, dass ihm die unentgeltliche Verbeiständung
auch für die Bemühungen seines Rechtsanwaltes im Zusammenhang mit der
Forderungsklage zustehe, die er gleichzeitig mit dem Armenrechtsgesuch
eingereicht hat. Soweit es aber um die Gewährung des Anspruchs mit Wirkung
ab diesem Zeitpunkt geht, handelt es sich nach allgemeinem Verständnis,
wie es in der zitierten Literatur zum Ausdruck kommt, nicht eigentlich um
eine Frage der Rückwirkung. Massgebend ist in diesem Zusammenhang vielmehr
der Grundsatz, dass die Wirkungen der unentgeltlichen Rechtspflege mit der
Gesuchseinreichung eintreten. Das lässt sich aber, wie vorne festgehalten
worden ist, unmittelbar aus dem Armenrechtsanspruch gemäss Art. 4 BV
ableiten. Aus den dort (E. 3d) bereits erwähnten Gründen ist es sodann
gestützt auf diese Verfassungsbestimmung gerechtfertigt, die Wirkungen
der unentgeltlichen Verbeiständung auf das Verfassen der Klageschrift
und die dafür nötigen Vorarbeiten auszudehnen. Die Annahme, eine solche
beschränkte Rückwirkung verstehe sich von selbst, liegt im übrigen der
ständigen Praxis des Bundesgerichts zu Art. 152 Abs. 2 OG zugrunde.

    Anzufügen ist schliesslich, dass - wie schon in BGE 61 I 234
ff. ausgeführt wurde - nicht ersichtlich ist, warum ein Gesuch des Klägers
um unentgeltliche Verbeiständung mit beantragter Wirkung für das gesamte
Verfahren vor einem luzernischen Amtsgericht schon vor Klageeinreichung
sollte gestellt werden müssen. Daran ist unverändert festzuhalten. Das
in jenem Zeitpunkt gestellte Gesuch schränkt den Entscheidungsspielraum
des Amtsgerichtspräsidenten und der Justizkommission des Obergerichts
in keiner Weise ein. Erweist sich das Gesuch als unbegründet oder
kann ausnahmsweise der von der Partei getroffenen Anwaltswahl nicht
beigepflichtet werden (dazu HAEFLIGER, Alle Schweizer sind vor dem
Gesetze gleich, S. 161 f.), so darf es in gleicher Weise abgewiesen
werden, wie wenn es schon früher gestellt gewesen wäre. Das Risiko,
für erwachsenen Aufwand eventuell nicht entschädigt zu werden, tragen
Partei und Anwalt. Ist aber das Gesuch begründet, so tut die nachträgliche
Bewilligung den Interessen des Staates keinen Abbruch. Dazu kommt, dass
sowohl nach dem Verfassungsrecht des Bundes (vgl. E. 3a) wie nach dem
kantonalen Prozessrecht (§ 307 Abs. 3 ZPO/LU) die Erlangung des Anspruchs
voraussetzt, dass die Rechtsbegehren des Klägers nicht als aussichtslos
erscheinen. Um dies dartun und die Interessen der Partei bereits bei der
entsprechenden Untersuchung wirkungsvoll wahren zu können, ist der Anwalt
auf vorgängige Abklärungen tatsächlicher und rechtlicher Natur angewiesen,
die für das Gesuch allein kaum geringer sind als für die ausgearbeitete
Klage. Die Zusammenfassung beider Arbeiten ist letztlich das wirtschaftlich
sinnvollste Vorgehen. Würde aber die unentgeltliche Verbeiständung für
das Gesuch und die entsprechenden Vorarbeiten schlechthin verweigert, so
liefe dies für die bedürftige Partei auf eine gegen Art. 4 BV verstossende
Behinderung bei der gerichtlichen Durchsetzung ihrer Rechte hinaus.