Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 119 V 75



119 V 75

11. Auszug aus dem Urteil vom 5. Januar 1993 i.S. G gegen Ausgleichskasse
des Kantons St. Gallen und Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen
Regeste

    Art. 41bis Abs. 2 lit. c und lit. d AHVV: Beginn der
Verzugszinspflicht. Bei der Bestimmung des Beginns des Zinsenlaufs nach
Art. 41bis Abs. 2 lit. c AHVV kommt es auf den Zeitpunkt des Erlasses
der Nachzahlungsverfügung und nicht auf denjenigen ihrer Zustellung an den
Beitragspflichtigen an; in gleicher Weise beginnt der Zinsenlauf nach Art.
41bis Abs. 2 lit. d AHVV mit der Ausstellung der Rechnung und nicht erst
mit deren Zustellung an den Adressaten.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- Gemäss Art. 41bis AHVV in der vorliegend massgebenden, seit
1. Januar 1988 gültigen Fassung sind Verzugszinsen u.a. zu entrichten,
wenn die nach Bundesrecht geschuldeten Beiträge mindestens 3000 Franken
betragen und nicht innert zwei Monaten nach Beginn des Zinsenlaufs bezahlt
werden (Abs. 1).

    Nach Art. 41bis Abs. 2 AHVV beginnt der Zinsenlauf:

    "a. im allgemeinen mit dem Ablauf der Zahlungsperiode;

    b. bei Beitragsnachforderungen mit dem Ablauf des Kalenderjahres, für
   welches die Beiträge geschuldet sind;

    c. für persönliche Beiträge, die im ausserordentlichen Verfahren
zuwenig
   entrichtet worden sind, und für Sonderbeiträge nach Artikel 23bis
   mit dem

    Kalendermonat, welcher der Verfügung folgt;

    d. für Beiträge aufgrund von Jahresabrechnungen im Sinne von Artikel 34

    Absatz 3 mit dem Kalendermonat, welcher der Rechnungsstellung durch die

    Ausgleichskasse folgt."

Erwägung 4

    4.- a) Bezüglich des Beginns des Zinsenlaufs sind sich der
Beschwerdeführer und die Ausgleichskasse darin einig, dass Art. 41bis
Abs. 2 lit. c AHVV zur Anwendung gelangt. Davon gehen denn auch die
Vorinstanz und das Bundesamt für Sozialversicherung (BSV) aus. Hingegen
gehen die Auffassungen darüber auseinander, ob es dabei auf den Zeitpunkt
des Erlasses der Nachzahlungsverfügung oder auf denjenigen ihrer Zustellung
an den Adressaten ankommt. Somit stellt sich die Auslegungsfrage, wie
die Wendung zu verstehen ist, wonach der Zinsenlauf mit dem Kalendermonat
beginnt, "welcher der Verfügung folgt".

    b) Die Vorinstanz gelangte zum Schluss, dass für die Bestimmung
des Beginns des Zinsenlaufs einzig auf den Zeitpunkt des Erlasses
der Nachzahlungsverfügung abzustellen sei, wogegen derjenige der
Verfügungszustellung grundsätzlich unbedeutend sei. Zur Begründung dieser
Betrachtungsweise verweist sie auf den Grundsatz, wonach im Normalfall
der Beginn des Zinsenlaufs nicht davon abhänge, ob und gegebenenfalls
wann eine Beitragsverfügung erlassen worden sei; die Sonderbestimmung
des Art. 41bis Abs. 2 lit. c AHVV mache hievon zwar eine Ausnahme,
indem hier eine Verfügung vorausgesetzt sei; eine Sondernorm sei auch
Art. 41bis Abs. 2 lit. d AHVV, welche die Rechnungsstellung voraussetze,
damit der Zinsenlauf beginnen könne; vor diesem Hintergrund müsse
es auch im Rahmen von Art. 41bis Abs. 2 lit. c AHVV genügen, dass die
Verfügung erlassen wurde. Das BSV erachtet diese Argumentation als "ohne
Zweifel zwingend". Nach Ansicht des Beschwerdeführers ist demgegenüber
für den Beginn des Zinsenlaufs der Kalendermonat massgebend, der der
Zustellung der Nachzahlungsverfügung folgt. Er beruft sich dabei auf
einen allgemeinen Grundsatz des Verwaltungsrechts, wonach Verfügungen
gegenüber einem Individuum erst mit der formellen Eröffnung Wirkungen
zu erzeugen vermögen, und stellt sich auf den Standpunkt, es sei nicht
ersichtlich, dass Art. 41bis Abs. 2 lit. c AHVV davon abweichend schon
vor der formellen Verfügungseröffnung Wirkungen auslöse.

    c) Der Wortlaut von Art. 41bis Abs. 2 lit. c AHVV ist bezüglich der
zur Diskussion stehenden Auslegungsfrage unergiebig. Sowohl die deutsche
Fassung ("mit dem Kalendermonat, welcher der Verfügung folgt") als auch
die französische ("dès le début du mois civil qui suit la décision")
oder italienische ("dall'inizio del mese civile che segue la decisione")
Version lassen durchaus auch die Auffassung des Beschwerdeführers als
vertretbar erscheinen. Somit ist nach Sinn und Zweck der Norm, insbesondere
auch nach ihrem Sinn im Kontext zu fragen.

    Wie das kantonale Gericht zutreffend ausführt, knüpft die
Verzugszinspflicht bzw. der Beginn des Zinsenlaufs im Normalfall
grundsätzlich nicht an das Vorliegen einer Verfügung an (vgl. zu dem bis
Ende 1987 gültig gewesenen Art. 41bis Abs. 3 AHVV: BGE 109 V 5 E. 3b;
ZAK 1984 S. 388 E. 3a). Art. 41bis Abs. 2 lit. a und lit. b AHVV, welche
den Ablauf der Zahlungsperiode oder des Kalenderjahres als massgeblich
erklären, erlauben es dabei, den Beginn des Zinsenlaufs auf sehr
einfache Weise festzustellen. Diesem Gesichtspunkt der administrativen
Vereinfachung, den der Verordnungsgeber auch durch das Erfordernis
einer minimalen Beitragsschuld von Fr. 3'000.-- und die Einräumung einer
zweimonatigen "Schonfrist" (Art. 41bis Abs. 1 AHVV; BGE 107 V 205, ZAK
1987 S. 364 f.) in die Verzugszinsregelung hat einfliessen lassen, ist
auch bei der Auslegung von Art. 41bis Abs. 2 lit. c AHVV die notwendige
Beachtung zu schenken. Bezüglich der vorliegend interessierenden Frage
des Zinsenlaufs ist diese Bestimmung nur insofern eine Sondernorm, als
sie in Abweichung zu den in lit. a und lit. b geregelten Tatbeständen
eine Verfügung voraussetzt. Es besteht indessen kein vernünftiger Anlass
dazu, sie auf dem Auslegungswege auch in dem Sinne zum "Sonderfall"
werden zu lassen, dass ihre Anwendung zu administrativen Erschwernissen
führt. Solche träten jedoch ein, wenn es für den Beginn des Zinsenlaufs
auf die Zustellung der Verfügung ankäme. Im Verzugszinsfalle müsste dann
nämlich jeweils noch zusätzlich abgeklärt werden, wann die - in aller Regel
uneingeschrieben versandte - Nachzahlungsverfügung dem Beitragspflichtigen
ausgehändigt worden ist. Praktikabilitätsüberlegungen sprechen deshalb
dafür, bei der Anwendung von Art. 41bis Abs. 2 lit. c AHVV auf den Erlass
der Verfügung und nicht auf den Zeitpunkt ihrer Eröffnung abzustellen.

    Zu beachten ist in diesem Zusammenhang auch die zeitliche Anknüpfung
der weiteren vom Grundsatz abweichenden Sondernorm des Art. 41bis Abs. 2
lit. d AHVV. Danach beginnt der Zinsenlauf "mit dem Kalendermonat, welcher
der Rechnungsstellung durch die Ausgleichskasse folgt". Darunter ist
mit der Vorinstanz die Ausstellung der Rechnung, d.h. deren Erstellung
und nicht deren Zustellung zu verstehen, was - deutlicher - aus dem
französischen Text hervorgeht ("dès le début du mois civil qui suit le
décompte (= Abrechnung) de la caisse de compensation").

    Schliesslich ist darauf hinzuweisen, dass sich die vom Beschwerdeführer
aufgeworfene Frage erst unter der neuen, auf den 1. Januar 1988
in Kraft getretenen Fassung des Art. 41bis AHVV stellen kann. Der
mit Art. 41bis Abs. 2 lit. c AHVV vergleichbare frühere Art. 41bis
Abs. 3 lit. c AHVV liess Verzugszinsen nämlich "von dem Monat an,
der auf den Erlass der Verfügung folgt, aus der sich die Nachzahlung
ergibt", laufen. Es spricht nichts dafür, dass der Verordnungsgeber mit
der Novellierung beim zeitlichen Anknüpfungspunkt etwas habe ändern
wollen. Im Gegenteil, die Neuordnung auf den 1. Januar 1988 stand im
Zeichen einer Verschärfung und Straffung der Verzugszinsregelung (vgl.
ZAK 1988 S. 22, 1987 S. 387 f.). Dafür, dass beim Übergang vom alten
zum neuen Recht keine Änderung beabsichtigt war, sprechen auch die
vom BSV herausgegebenen Verwaltungsweisungen. Bezüglich des Beginns des
Zinsenlaufs lautet die geltende Rz. 1029 des Kreisschreibens über Verzugs-
und Vergütungszinsen (KSVZ) (Fassung 1988) nämlich immer noch gleich wie
früher die entsprechende Rz. 29 KSVZ (Fassung 1986) und weicht inhaltlich
auch nicht von der Rz. 33 KSVZ (Fassung 1979) ab.