Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 119 V 498



119 V 498

71. Urteil vom 28. September 1993 i.S. Bundesamt für Industrie, Gewerbe
und Arbeit gegen ARGE Bözbergtunnel und Versicherungsgericht des Kantons
Aargau Regeste

    Art. 33 Abs. 1 lit. a AVIG: Normales Betriebsrisiko.

    - Bei der einzelfallweise vorzunehmenden Bestimmung des normalen
Betriebsrisikos kommt dem Gesichtspunkt der Vorhersehbarkeit
rechtsprechungsgemäss entscheidende Bedeutung zu. Nichts anderes
gilt bei Grossbauprojekten, wobei sich von selbst versteht, dass die
Vorhersehbarkeit bestimmter Gefahren nur dann verneint werden darf, wenn
der davon betroffene Unternehmer die ihm zumutbaren Abklärungen getroffen
hat; dabei gilt es dem besonderen Risikogehalt derartiger Werke insofern
Rechnung zu tragen, als an die vorgängigen Erhebungen strenge Anforderungen
zu stellen sind.

    - In casu wurde das trotz entsprechender Vorabklärungen nicht
vorhersehbare Auftreten hochgradig sulfat- und chloridhaltigen Wassers
bei einer auf Tunnelbauten spezialisierten Unternehmung nicht mehr dem
normalen Betriebsrisiko zugerechnet.

Sachverhalt

    A.- Die Arbeitsgemeinschaft (ARGE) Bözbergtunnel erstattete am 2. März
1992 beim Industrie-, Gewerbe- und Arbeitsamt des Kantons Aargau (KIGA)
Voranmeldung von Kurzarbeit ab 9. März 1992 bis voraussichtlich 18. Mai
1992 für 60 bis 90 Arbeitnehmer. Zur Begründung führte sie an, aufgrund
des Auftretens von aggressiven Wassern habe das kantonale Baudepartement im
November 1991 kurzfristig das Ausbau-Konzept revidiert, welcher Entscheid
umfangreiche Änderungen bei der Herstellung von Betonfertigteilen nach
sich gezogen habe; demzufolge habe bis zur Verfügbarkeit entsprechender
Fertigteile auch der Vortrieb der Oströhre des Tunnels eingestellt
werden müssen.

    Nach Einholung einer Stellungnahme des Bundesamtes für Industrie,
Gewerbe und Arbeit (BIGA) erhob das KIGA mit Verfügung vom 14. April 1992
Einspruch gegen die Auszahlung von Kurzarbeitsentschädigung.

    B.- In Gutheissung der dagegen erhobenen Beschwerde stellte das
Versicherungsgericht des Kantons Aargau mit Entscheid vom 12. August 1992
fest, dass die ARGE Bözbergtunnel für die ab 9. März 1992 vorangemeldeten
Arbeitsausfälle Anspruch auf Kurzarbeitsentschädigung hat.

    C.- Das BIGA führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Antrag,
es sei der kantonale Gerichtsentscheid aufzuheben und die Verfügung des
KIGA vom 14. April 1992 zu bestätigen.

    Während die ARGE Bözbergtunnel auf Abweisung der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde schliesst, beantragt das KIGA deren
Gutheissung.

Auszug aus den Erwägungen:

       Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Anspruch auf Kurzarbeitsentschädigung besteht, wenn der
Arbeitsausfall anrechenbar sowie voraussichtlich vorübergehend ist
und erwartet werden darf, dass durch Kurzarbeit die Arbeitsplätze
erhalten werden können (Art. 31 Abs. 1 lit. b und d AVIG). Ein
Arbeitsausfall ist u.a. anrechenbar, wenn er auf wirtschaftliche Gründe
zurückzuführen und unvermeidbar ist (Art. 32 Abs. 1 lit. a AVIG). Ein
auf wirtschaftliche Gründe zurückzuführender und an sich grundsätzlich
anrechenbarer Arbeitsausfall gilt jedoch dann nicht als anrechenbar,
wenn er branchen-, berufs- oder betriebsüblich ist oder durch saisonale
Beschäftigungsschwankungen verursacht wird (Art. 33 Abs. 1 lit. b
AVIG). Ebenfalls nicht anrechenbar ist ein Arbeitsausfall, der durch
Umstände bedingt ist, die zum normalen Betriebsrisiko des Arbeitgebers
gehören (Art. 33 Abs. 1 lit. a 2. Satzteil AVIG).

    Mit dem normalen Betriebsrisiko im Sinne von Art. 33 Abs. 1
lit. a 2. Satzteil AVIG sind die "gewöhnlichen" Arbeitsausfälle
gemeint, mithin jene Ausfälle, die erfahrungsgemäss regelmässig und
wiederholt auftreten, demzufolge vorhersehbar und in verschiedener Weise
kalkulatorisch erfassbar sind (BISCHOF, Der anrechenbare Arbeitsausfall bei
Kurzarbeit, in: Ausgewählte Fragen des Arbeitslosenversicherungsrechts,
Schweiz. Institut für Verwaltungskurse HSG, Tagung vom 13. Mai 1986 in
Luzern, S. 12; GERHARDS, Kommentar zum Arbeitslosenversicherungsgesetz,
Bd. 1, Bern 1987, N. 69 zu Art. 32-33). Was in diesem Sinne noch als
normal gelten soll, darf nach der Rechtsprechung nicht nach einem für alle
Unternehmensarten allgemeingültigen Massstab bemessen werden, sondern ist
in jedem Einzelfall aufgrund der mit der spezifischen Betriebstätigkeit
verbundenen besonderen Verhältnisse zu bestimmen (ARV 1989 Nr. 12 S. 123
Erw. 2b; vgl. ferner BEATRICE BRÜGGER, Die Kurzarbeitsentschädigung als
arbeitslosenversicherungsrechtliche Präventivmassnahme, Berner Diss. 1993,
S. 32 f.).

Erwägung 2

    2.- a) Streitig ist, ob das unvorhersehbare Auftreten hochgradig
sulfat- und chloridhaltigen Wassers bei einer auf Tunnelbauten
spezialisierten Unternehmung zum normalen Betriebsrisiko im Sinne von
Art. 33 Abs. 1 lit. a 2. Satzteil AVIG gehört.

    Nicht mehr bestritten wird, dass die von der Beschwerdegegnerin
gemeldete Kurzarbeit auf wirtschaftliche Gründe (Art. 32 Abs. 1 lit. a
AVIG) zurückzuführen ist. Wie es sich im einzelnen damit verhält,
kann offenbleiben. Denn selbst wenn Gründe jener Art im vorliegenden
Fall verneint würden, ergäbe sich die grundsätzliche Anrechenbarkeit des
Arbeitsausfalles aus Art. 51 Abs. 1 (behördliche Massnahmen) oder Abs. 2
lit. e AVIV (Elementarschadenereignisse). An der zentralen Frage des
vorliegenden Falles ändert dies insofern nichts, als auch die Anwendbarkeit
von Art. 51 AVIV unter dem Vorbehalt des normalen Betriebsrisikos stünde
(ARV 1987 Nr. 8 S. 82 Erw. 1 und 2b).

    b) Während das kantonale Gericht dafürgehalten hat, das unvorhersehbare
Auftreten des aggressiven Wassers könne nicht mehr dem normalen
Betriebsrisiko zugeordnet werden, dem sich mit Risikozuschlägen
oder in der Betriebsstrategie Rechnung tragen liesse, wird in der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde die Auffassung vertreten, dass die auf
Grossprojekte des Tunnelbaus spezialisierten Unternehmungen ein der
Grösse des Projekts entsprechendes Restrisiko - ohne Rücksicht auf dessen
Wahrscheinlichkeit oder vorherige Erkennbarkeit - hinzunehmen und bei
ihrer Kalkulation zu berücksichtigen hätten.

Erwägung 3

    3.- Der vorliegende Fall zeigt, dass Zwischenfälle wie das
Auftreten aggressiven Wassers ebenso wie Unwägbarkeiten geologischer
Art zum Betriebsrisiko einer auf dem Gebiet des Tunnelbaus tätigen
Grossunternehmung gehören. Fraglich ist indes, ob damit noch der Bereich
des normalen Betriebsrisikos beschlagen wird, zumal dann, wenn solche
Geschehnisse trotz durchgeführter Abklärungen nicht voraussehbar sind.

    Diese Frage ist mit der Vorinstanz aus den von ihr aufgezeigten
Gründen zu verneinen. Das beschwerdeführende Amt scheint zu verkennen,
dass bei der einzelfallweise vorzunehmenden Bestimmung des normalen
Betriebsrisikos dem Gesichtspunkt der Vorhersehbarkeit entscheidende
Bedeutung zukommt (ARV 1989 Nr. 12 S. 123 Erw. 2b a.E.; vgl. ferner
BISCHOF, aaO, S. 13, wonach Ausfälle von Rohmateriallieferungen und
Ernteausfälle nicht mehr zum normalen Betriebsrisiko gezählt werden
dürften, sofern sie unüblich und unvorhersehbar seien). Dies kann im
Falle von Grossbauprojekten, mit denen wesensgemäss verschiedenste
Gefahren einhergehen, deren Verwirklichung sich in aller Regel nie mit
Sicherheit zum voraus ausschliessen lässt, nicht anders sein. Denn
von der im wirtschaftlichen Wettbewerb stehenden Unternehmung darf
nicht erwartet werden, dass sie nebst den mehr oder weniger konkreten
zugleich all jene Gefahren in ihre Kalkulation miteinbezieht, die sich
nicht mit letzter Gewissheit negieren lassen und insofern rechnerisch
auch gar nicht erfassbar sind. Freilich versteht sich von selbst, dass
die Vorhersehbarkeit bestimmter Gefahren nur dann verneint werden darf,
wenn der davon betroffene Unternehmer die ihm zumutbaren Abklärungen
vorgenommen hat. Dabei gilt es dem besonderen Risikogehalt derartiger Werke
mit Bezug auf Art. 33 Abs. 1 lit. a 2. Satzteil AVIG immerhin in der Weise
Rechnung zu tragen, als an die vorgängigen Erhebungen entsprechend strenge
Anforderungen zu stellen sind. Dass es die Beschwerdegegnerin in diesem
Zusammenhang an der aufzuwendenden Sorgfalt hätte fehlen lassen oder ihr
sonstige Versäumnisse irgendwelcher Art vorzuwerfen wären, wird nicht
behauptet und ist nicht ersichtlich. Im Gegenteil, die Verwaltung räumt
ein, die Arbeitsgemeinschaft habe alles getan, um die Durchführbarkeit des
Projektes zu prüfen; dies wird auch durch die Angaben des Kantonsingenieurs
vom 12. November 1991 und den von der Beschwerdegegnerin aufgelegten
Bericht des Geologisch-Paläontologischen Instituts der Universität Basel
(Dr. H.) vom 14. November 1991 hinlänglich bestätigt.

    Unter diesen Umständen und nachdem auch die anderen
Anspruchsvoraussetzungen zu bejahen sind, hält der angefochtene
Gerichtsentscheid stand.