Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 119 V 431



119 V 431

61. Auszug aus dem Urteil vom 17. Dezember 1993 i.S. Z. gegen
Ausgleichskasse Schweizer Wirteverband und AHV/IV-Rekurskommission des
Kantons Thurgau Regeste

    Art. 47 Abs. 2 AHVG, Art. 85 Abs. 2 und Art. 88bis Abs. 2 lit. b IVV:
Rückerstattungspflicht. Im Bereich der Invalidenversicherung erfolgt die
Leistungsanpassung aus IV-spezifischen Gesichtspunkten grundsätzlich
mit Wirkung ex nunc; liegt dagegen eine Meldepflichtverletzung vor,
so geschieht die Leistungsanpassung auch insofern rückwirkend (Erw. 2).

    Art. 47 Abs. 2 Satz 1 AHVG in Verbindung mit Art. 49 IVG:
Verwirkung des Rückforderungsanspruchs. Als Folge der Verpflichtung,
einen Vorbescheid zu erlassen, wird im Invalidenversicherungsrecht die
einjährige Verwirkungsfrist durch den Erlass eines Vorbescheides im Sinne
von Art. 73bis IVV gewahrt (Erw. 3b; Änderung der Rechtsprechung).

    Art. 47 Abs. 2 AHVG, Art. 85 Abs. 2 und Art. 88bis Abs. 2 lit. b IVV:
Dauer der Rückerstattungspflicht. Die Rückerstattungspflicht entfällt in
der Regel ab dem der verspäteten Meldung folgenden Monat (Erw. 4).

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- Nach Art. 47 Abs. 1 Satz 1 AHVG sind unrechtmässig bezogene
Leistungen (Renten- und Hilflosenentschädigungen) zurückzuerstatten.
AHV-rechtlich erfolgt somit die Leistungsanpassung grundsätzlich
rückwirkend (ex tunc). Art. 49 IVG erklärt diese Gesetzesbestimmung im
Bereich der Invalidenversicherung für sinngemäss anwendbar.

    Daneben kennt das Invalidenversicherungsrecht selber Bestimmungen,
welche eine Leistungsanpassung grundsätzlich bloss mit Wirkung ex nunc
et pro futuro vorsehen (Art. 85 Abs. 2 IVV). Eine Ausnahme besteht dann,
wenn der Tatbestand der Verletzung der Meldepflicht gemäss Art. 77 IVV
erfüllt ist; in einem solchen Fall geschieht die Leistungsanpassung
ebenfalls rückwirkend (Art. 85 Abs. 2 und Art. 88bis Abs. 2 lit. b IVV)
mit der Folge, dass zuviel bezogene Leistungen zurückzuerstatten sind. Es
stellte sich daher für die Rechtsprechung die Frage, wie die beiden Gruppen
von Rückerstattungsnormen im Bereich der Invalidenversicherung miteinander
in Einklang zu bringen sind. Das Wort "sinngemäss" in Art. 49 IVG bot die
Grundlage, die Einteilung in AHV-analoge und IV-spezifische Gesichtspunkte
vorzunehmen (BGE 105 V 163, bestätigt in BGE 110 V 14 Erw. 2a, 107 V 81
Erw. 4b und 37 Erw. 2a): Bezüglich der ersten erfolgt eine rückwirkende
Leistungsanpassung (z.B. fehlende Versicherteneigenschaft, falsche
Rentenberechnung usw.); bezüglich der zweiten gilt der Grundsatz der
Leistungsanpassung mit Wirkung ex nunc (alle Tatsachenänderungen, die
im Bereich des Invaliditätsgrades von Bedeutung sind), vorbehältlich der
eben erwähnten Meldepflichtverletzung.

    Vorliegend geht es um einen IV-spezifischen
Leistungsgesichtspunkt. Eine rückwirkende Rentenherabsetzung kommt
daher nur in Frage, wenn der Beschwerdeführer seiner Meldepflicht
nicht nachgekommen ist (Art. 77 IVV in Verbindung mit Art. 88bis
Abs. 2 lit. b IVV). Dieser Tatbestand ist in casu erfüllt, was in der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde, im Unterschied zum vorinstanzlichen
Verfahren, zu Recht nicht mehr bestritten wird.

Erwägung 3

    3.- Der Beschwerdeführer lässt indes geltend machen, der
Rückforderungsanspruch sei verjährt.

    a) Nach Art. 47 Abs. 2 Satz 1 AHVG (im Gebiet der Invalidenversicherung
gestützt auf Art. 49 IVG ebenfalls sinngemäss anwendbar) verjährt
der Rückforderungsanspruch mit dem Ablauf eines Jahres, nachdem die
Ausgleichskasse davon Kenntnis erhalten hat, spätestens aber mit dem
Ablauf von fünf Jahren seit der einzelnen Rentenzahlung. Bei diesen Fristen
handelt es sich um Verwirkungsfristen (BGE 112 V 181 Erw. 4a, 111 V 135;
ZAK 1989 S. 559 Erw. 4b).

    Unter dem Ausdruck "nachdem die Ausgleichskasse davon Kenntnis
erhalten hat" ist der Zeitpunkt zu verstehen, in welchem die Verwaltung bei
Beachtung der ihr zumutbaren Aufmerksamkeit hätte erkennen müssen, dass die
Voraussetzungen für eine Rückerstattung bestehen (BGE 112 V 181 Erw. 4a,
110 V 307; ZAK 1989 S. 559 Erw. 4b). Ist für die Leistungsfestsetzung
das Zusammenwirken mehrerer Behörden notwendig, genügt es, dass die
nach der Rechtsprechung erforderliche Kenntnis bei einer der zuständigen
Verwaltungsstellen vorhanden ist (BGE 112 V 183 Erw. 4c).

    b) Im vorliegenden Fall ist mit dem Beschwerdeführer davon
auszugehen, dass sich die Invalidenversicherungs-Kommission bei Erhalt
des Fragebogens für Arbeitgeber vom 7. August 1991, welcher bei ihr
am 8. August 1991 einging, Rechenschaft über das Vorliegen eines
Rückerstattungstatbestandes geben musste. Dass die Verwaltung über
die nach der Rechtsprechung erforderliche Kenntnis auch tatsächlich
verfügte, dokumentierte sie durch den Vorbescheid vom 19. September 1991;
darin teilte sie dem Beschwerdeführer mit, Abklärungen hätten ergeben,
dass er seit 1. Dezember 1990 als Sachbearbeiter angestellt sei. Da er
diese Arbeitsaufnahme nicht gemeldet habe, müsse ihm eine Verletzung der
Meldepflicht angelastet werden, weshalb die zu Unrecht bezogenen Leistungen
zurückzuerstatten seien (Vorbescheid vom 19. September 1991). Die
Invalidenversicherungs-Kommission hatte demnach im damaligen Zeitpunkt
erkannt, dass mit dem seit Dezember 1990 ununterbrochen bezogenen,
am 8. August 1991 gemeldeten Teilzeiteinkommen von Fr. 2'350.--
die Grundlagen, auf welchen die ursprüngliche Rentenverfügung vom
30. April 1990 fusste, dahingefallen waren. Aus medizinischer Sicht
bestand in bezug auf diese für die Beurteilung des Invaliditätsgrades
letztlich massgebenden erwerblichen Gesichtspunkte kein Abklärungsbedarf,
nachdem keine Anhaltspunkte dafür vorlagen, dass der Beschwerdeführer
mit der Arbeitsaufnahme und -ausübung gesundheitlich überfordert
gewesen wäre. Hatte die Invalidenversicherungs-Kommission somit am
8. August 1991 die nach der Rechtsprechung erforderliche Kenntnis über
den unrechtmässigen Leistungsbezug und stellt man für die Fristwahrung
auf den Zeitpunkt des Erlasses der Verwaltungsverfügung ab, so ist die
am 30. Dezember 1992 ergangene Rückerstattungsverfügung klarerweise
verspätet, der Rückerstattungsanspruch daher verwirkt. Dass die Rente
zwischenzeitlich weiterlief, ändert hieran nichts (unveröffentlichtes
Urteil H. vom 19. Oktober 1992).

    c) Dieses Ergebnis beruht auf der bisherigen Rechtsprechung zu Art. 47
AHVG, welche, wie im Bereich der Verwirkung der Beiträge (Art. 16 AHVG) und
des Schadenersatzanspruches der Ausgleichskasse gegenüber dem Arbeitgeber
(Art. 52 AHVG), davon ausgeht, dass die (einjährige) Verwirkungsfrist
ausschliesslich durch den Erlass einer Verfügung gewahrt werden kann (BGE
119 V 95 Erw. 4c). Diese Betrachtungsweise, wonach die Verwirkungsfrist
einzig und allein durch den Verfügungserlass gewahrt werden kann, darf
auf den vorliegenden rechtlichen Kontext nicht angewendet werden. Bis zur
Einführung des invalidenversicherungsrechtlichen Vorbescheidverfahrens am
1. Juli 1987 durch Art. 73bis IVV erliessen die Ausgleichskassen in solchen
Fällen direkt eine Rückerstattungsverfügung. Damit war die einjährige
Verwirkungsfrist gewahrt. Einwände, wie sie der Beschwerdeführer hier
gegen den Vorbescheid vortrug und die das Verfahren verlängern konnten,
waren früher Prüfungsthema eines allfälligen Beschwerdeverfahrens gegen
die fristwahrende Verfügung. Wenn nun die Verwaltung durch das geltende
Recht - aus Gründen der Entlastung der Verwaltungsrechtspflegeorgane,
vor allem aber auch aus rechtsstaatlichen Überlegungen (Gewährung des
rechtlichen Gehörs) - zum Erlass eines Vorbescheides verpflichtet wird,
muss diesem, fristenrechtlich gesehen, die gleiche Wirkung zugemessen
werden wie der Verfügung selber (vgl. auch RKUV 1990 Nr. 835 S. 83 Erw. 2b,
gemäss welchem im Bereich des KUVG ein formloser Kassenbescheid für die
Fristwahrung bereits genügt). Folglich ist der Rückerstattungsanspruch der
Ausgleichskasse nicht verwirkt, weil mit dem Vorbescheid vom 19. September
1991 die seit 8. August 1991 laufende einjährige Verwirkungsfrist ohne
weiteres gewahrt worden ist.

Erwägung 4

    4.- a) Dieses Ergebnis führt nicht dazu, dass der Beschwerdeführer
die zu Unrecht bezogenen Leistungen für die Zeit vom 1. Januar 1991
bis zum 31. Dezember 1992 zurückzuerstatten hat. Der vorinstanzliche
Entscheid steht nämlich nicht im Einklang mit der durch das Urteil vom
10. Juni 1992 (BGE 118 V 214) geänderten Rechtsprechung zur Wirkung der
Meldepflichtverletzung auf die Rückerstattungspflicht. Das Gesetz statuiert
in Art. 88bis Abs. 2 lit. b IVV klar das Erfordernis der Kausalität
zwischen dem zu sanktionierenden Verhalten (Meldepflichtverletzung)
und dem eingetretenen Schaden (unrechtmässiger Bezug von
Versicherungsleistungen). Die bis zum Eintreffen einer verspäteten Meldung
bezüglich Arbeitsaufnahme unrechtmässig bezogenen Rentenbetreffnisse
unterliegen grundsätzlich der Rückerstattungspflicht. Nicht mehr
rückerstattungspflichtig sind die nach Eingang der verspäteten Meldung
bezogenen Renten (BGE 118 V 220 f.).

    b) Auf den vorliegenden Fall angewendet bedeutet dies, dass die
Rentenbetreffnisse mit Wirkung ab 1. September 1991 nicht zufolge
Meldepflichtverletzung zurückverlangt werden können. Wie dargelegt,
erhielt die Invalidenversicherungs-Kommission am 8. August 1991 den
ordnungsgemäss ausgefüllten Fragebogen des Arbeitgebers zugestellt. Daraus
geht der seit 1. Dezember 1990 bezogene Lohn, welcher gegenüber dem der
Rentenverfügung vom 30. April 1990 zugrunde liegenden Lohn deutlich höher
ist, klar hervor. Wenn sich die Verwaltung dazu entschloss, die bisherige
Rente weiterhin auszurichten, so kann dies nicht mehr auf die Verletzung
der Meldepflicht zurückgeführt werden, zumal die Ausgleichskasse nicht
geltend macht, sie hätte auf die nachfolgenden Abklärungen verzichtet, wenn
der Arbeitsantritt bereits im Dezember 1990 gemeldet worden wäre. Damit
entfällt eine Rückerstattungspflicht ab 1. September 1991, d.h. ab
dem der verspäteten Meldung folgenden Monat (vgl. BGE 118 V 219 Erw. 2b
und 221 Erw. 2b). Hingegen bleibt die Meldepflichtverletzung kausal für
den unrechtmässigen Leistungsbezug für die Zeit von Januar bis und mit
August 1991.