Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 119 V 347



119 V 347

49. Auszug aus dem Urteil vom 4. August 1993 i.S. S. gegen Schweizerische
Unfallversicherungsanstalt und Verwaltungsgericht des Kantons Luzern
Regeste

    Art. 105 Abs. 1 UVG.

    - Das Rügeprinzip gilt grundsätzlich auch im Einspracheverfahren.

    - Soweit die Verfügung in der Einsprache unangefochten bleibt und
nicht von Amtes wegen überprüft wird, tritt sie in Teilrechtskraft.

Sachverhalt

    A.- Der 1933 geborene Arthur S. arbeitete seit dem 23. März 1989 als
gelernter Heizungs- und Lüftungsmonteur für die Firma T. AG und war in
dieser Eigenschaft bei der Schweizerischen Unfallversicherungsanstalt
(SUVA) gegen Berufs- und Nichtberufsunfall obligatorisch versichert. Am
13. Juli 1989 erlitt er bei einem Sturz auf einer Baustelle eine
Patellafraktur links, welche am 18. Juli 1989 in der Klinik A. mit einer
Zuggurtungs-Cerclage operativ behandelt wurde. Am 23. August 1989 musste
er sich einer Sehnennaht-Operation unterziehen und am 30. Mai 1990
wurde wegen Reruptur der Quadrizepssehne links eine sekundäre Sehnennaht
vorgenommen bei gleichzeitiger Drahtentfernung an der Patella.

    Die SUVA kam für die Heilungskosten auf, richtete ein Taggeld aus und
ordnete einen Aufenthalt in der Rehabilitationsklinik B. vom 10. Januar
bis 16. Februar 1990 an. Nach einer kreisärztlichen Abschlussuntersuchung
vom 4. Juli 1991 hob sie die Heilungskosten- und Taggeldleistungen
auf und sprach dem Versicherten mit Verfügung vom 6. Dezember 1991
eine Invalidenrente von 50% ab 1. Dezember 1991 bei einem versicherten
Jahresverdienst von Fr. 43'512.-- sowie eine Integritätsentschädigung
von Fr. 16'320.-- aufgrund eines Integritätsschadens von 20% zu.

    Mit Einsprache vom 11. Dezember 1991 liess Arthur S. beantragen,
es sei ihm eine Invalidenrente von 100% zuzusprechen und es sei der
versicherte Jahresverdienst - wie beim Taggeld - auf Fr. 63'367.20,
zuzüglich Teuerung, festzusetzen. Die SUVA hiess die Einsprache insoweit
teilweise gut, als sie Arthur S. mit Wirkung ab 1. Dezember 1991 eine
Invalidenrente aufgrund einer Erwerbsunfähigkeit von 75% zusprach; im
übrigen wies sie die Einsprache mit Entscheid vom 5. Februar 1992 ab.

    B.- Arthur S. liess beim Verwaltungsgericht des Kantons Luzern
Beschwerde einreichen mit dem Antrag, die Invalidenrente sei aufgrund
eines Invaliditätsgrades von 100% und eines versicherten Jahresverdienstes
von Fr. 74'918.-- festzusetzen; zudem sei eine Integritätsentschädigung
von Fr. 32'640.-- bei einem Integritätsschaden von 100% zuzusprechen.

    Das Verwaltungsgericht des Kantons Luzern trat auf die Beschwerde
nicht ein, soweit sie die Integritätsentschädigung zum Gegenstand hatte,
und bestätigte den Einspracheentscheid bezüglich des Rentenanspruchs
(Entscheid vom 10. August 1992).

    C.- Mit der vorliegenden Verwaltungsgerichtsbeschwerde lässt Arthur S.
beantragen:

    "1. Das Urteil des Verwaltungsgerichtes des Kantons Luzern,

    Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, III. Kammer, vom

    10. August 1992 sei aufzuheben.

    2. Die Sache sei zur materiellen Beurteilung der

    Integritätsentschädigung an die Vorinstanz zurückzuweisen.

    ..."

    Die SUVA lässt sich mit dem Antrag auf Abweisung der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde vernehmen. Das Bundesamt für
Sozialversicherung äussert sich zur Frage des Streitgegenstandes, enthält
sich jedoch eines Rechtsbegehrens.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- Die Vorinstanz ist auf die Beschwerde, soweit damit eine höhere
Integritätsentschädigung beantragt wurde, nicht eingetreten mit der
Begründung, der Beschwerdeführer habe im Einspracheverfahren gegen die
Bemessung des Integritätsschadens nichts vorgebracht, weshalb die Verfügung
vom 6. Dezember 1991 in diesem Punkt in Rechtskraft erwachsen sei. Der
Beschwerdeführer macht demgegenüber geltend, mit der Einspracheerhebung
habe die ganze Verfügung als angefochten zu gelten, soweit sie nicht
ausdrücklich anerkannt werde; zudem habe er sinngemäss auch die Bemessung
des Integritätsschadens beanstandet.

    a) Die SUVA unterliegt als verfügende Instanz dem
Untersuchungsgrundsatz und hat das Recht von Amtes wegen anzuwenden
(Art. 96 UVG in Verbindung mit Art. 12 und Art. 62 Abs. 4 VwVG). Der
Untersuchungsgrundsatz besagt, dass Verwaltung und Richter von sich aus für
die richtige und vollständige Abklärung des rechtserheblichen Sachverhalts
zu sorgen haben (BGE 117 V 263 E. 3b und 282 E. 4a, 116 V 26 E. 3c,
115 V 142 E. 8a mit Hinweisen). Das Prinzip der Rechtsanwendung von
Amtes wegen verpflichtet Verwaltung und Richter auf den festgestellten
Sachverhalt jenen Rechtssatz anzuwenden, den sie als den zutreffenden
erachten, und ihm jene Auslegung zu geben, von der sie überzeugt sind
(Gygi, Bundesverwaltungsrechtspflege, 2. Aufl., S. 212).

    Die beiden erwähnten Grundsätze gelten allerdings nicht
uneingeschränkt. Sie finden ihr Korrelat in den verschiedenen
Mitwirkungspflichten der Parteien (Art. 13 VwVG) und namentlich in der
in Art. 52 Abs. 1 VwVG aufgestellten Begründungspflicht. Zu beachten ist
sodann das Rügeprinzip, wonach die Beschwerdeinstanz nicht zu prüfen hat,
ob sich die angefochtene Verfügung unter schlechthin allen in Frage
kommenden Aspekten als korrekt erweist, sondern im Prinzip nur die
vorgebrachten Beanstandungen untersucht. Von den Verfahrensbeteiligten
nicht aufgeworfene Rechtsfragen werden von der Beschwerdeinstanz nur
geprüft, wenn hierzu aufgrund der Parteivorbringen oder anderer sich aus
den Akten ergebender Anhaltspunkte hinreichender Anlass besteht (BGE 110
V 53 mit Hinweisen).

    b) Das Einspracheverfahren gemäss Art. 105 Abs. 1 UVG gehört nicht
zur streitigen Verwaltungsrechtspflege im eigentlichen Sinn, weist jedoch
wesentliche Elemente eines streitigen Verfahrens auf (BGE 117 V 409 E. 5b).
Auch stellt die Einsprache nicht bloss ein Wiedererwägungsgesuch (vgl.
Botschaft zum UVG vom 18. August 1976, Separatausgabe S. 85, sowie
MAURER, Schweizerisches Unfallversicherungsrecht, S. 610), sondern eine
rechtsmittelmässige Anfechtung der Verfügung dar (GYGI, aaO, S. 33). Es
ist im Sinne des Rügeprinzips daher auch im Einspracheverfahren in
erster Linie Sache des Versicherten, den zu überprüfenden Gegenstand zu
bestimmen. SUVA oder Privatversicherer haben die streitige Verfügung
in der Regel nur insoweit zu überprüfen, als sie angefochten ist und
aufgrund der Parteivorbringen oder anderer sich aus den Akten ergebender
Anhaltspunkte Anlass zur Überprüfung besteht. Hieran ändert nichts, dass
der Einspracheentscheid an die Stelle der vorgängig erlassenen Verfügung
tritt (auch soweit er diese lediglich bestätigt) und Anfechtungsgegenstand
des nachfolgenden Beschwerdeverfahrens allein der Einspracheentscheid
bildet (RKUV 1992 Nr. U 152 S. 199 E. 3b, 1991 Nr. U 86 S. 94, 1988
Nr. U 38 S. 104). Damit wird lediglich gesagt, was nach Art. 106 Abs.
1 UVG Anfechtungsgegenstand im kantonalen Beschwerdeverfahren bildet
(vgl. RKUV 1991 Nr. U 86 S. 94). Dagegen ergibt sich hieraus nicht, dass
der Einspracheentscheid die angefochtene Verfügung stets als Ganzes ersetzt
und der Versicherungsträger auf Einsprache hin sämtliche durch die primär
ergangene Verfügung geregelten Rechtsverhältnisse (auch soweit sie mit
der Einsprache nicht angefochten wurden) zu überprüfen und hierüber neu
zu entscheiden hätte. Die genannte Rechtsprechung ist somit in dem Sinne
zu verdeutlichen, dass der Einspracheentscheid die angefochtene Verfügung
nur im Umfang des durch die Einsprache bestimmten Streitgegenstandes und
der effektiv neu beurteilten Rechtsverhältnisse ersetzt. Dementsprechend
schliesst das Einspracheverfahren eine Teilrechtskraft der Verfügung,
soweit sie unangefochten geblieben ist, nicht aus, in welchem Sinn das
Eidg. Versicherungsgericht bereits in den nicht veröffentlichten Urteilen
G. vom 7. Mai 1991 (vgl. dazu Rechtsprechungsbericht der SUVA, 1991, Nr. 2)
und V. vom 27. Juli 1992 entschieden hat. Soweit das Gericht im ebenfalls
unveröffentlichten Urteil De G. vom 19. August 1992 etwas anderes gesagt
hat, kann daran nicht festgehalten werden.

    c) Mit der Einsprache vom 11. Dezember 1991 gegen die
Verfügung vom 6. Dezember 1991 beantragte der Beschwerdeführer
die Zusprechung einer Rente aufgrund einer Invalidität von 100%
und eines versicherten Jahresverdienstes von Fr. 63'367.20 zuzüglich
Teuerungsausgleich. Hinsichtlich der mit der angefochtenen Verfügung
zugesprochenen Integritätsentschädigung enthält die Einsprache kein
Rechtsbegehren. Der Beschwerdeführer macht indessen geltend, aus der
Beschwerdebegründung gehe hervor, dass die Überprüfung der gesamten
Verfügung beantragt worden sei, indem die allgemeinen Ausführungen über
den schlechten Gesundheitszustand "sinngemäss auch die Unzufriedenheit
über den festgesetzten Integritätsschaden" beinhalteten.

    Entgegen den Ausführungen in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde ergeben
sich aus der Einsprache vom 11. Dezember 1991 keine Anhaltspunkte dafür,
dass der Beschwerdeführer auch die Bemessung des Integritätsschadens
anfechten wollte. Seinen Vorbringen ist entgegenzuhalten, dass
die Integritätsentschädigung abstrakt und egalitär aufgrund des
medizinischen Befundes und ohne Berücksichtigung von besondern Umständen
des Einzelfalles bemessen wird (BGE 113 V 221 E. 4b mit Hinweisen),
wogegen der Rentenspruch sich nach den erwerblichen Auswirkungen des
Gesundheitsschadens im konkreten Einzelfall richtet (Art. 18 Abs. 2
UVG). Im Hinblick auf diese Unterschiede bestand für die SUVA kein
Grund, die nicht ausdrücklich angefochtene Integritätsentschädigung
von Amtes wegen in die Beurteilung einzubeziehen, auch wenn sie mit dem
Einspracheentscheid den Invaliditätsgrad von 50 auf 75% heraufgesetzt
hat. Es muss folglich bei der Feststellung bleiben, dass die Verfügung
vom 6. Dezember 1991 bezüglich der Integritätsentschädigung in Rechtskraft
erwachsen ist, weshalb die Vorinstanz in diesem Punkt auf die Beschwerde
zu Recht nicht eingetreten ist.