Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 119 V 195



119 V 195

28. Auszug aus dem Urteil vom 21. April 1993 i.S. W., W. u. S. gegen
Kanton St. Gallen (Versicherungskasse für das Staatspersonal) und
Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen Regeste

    Art. 73 und 74 BVG, Art. 51 BVG.

    - Der Richter nach Art. 73 Abs. 1 und 4 BVG ist auch im Rahmen der
inzidenten Normenkontrolle jedenfalls dann nicht zur vorfrageweisen
Beurteilung von Verfahrensfehlern beim Erlass reglementarischer oder
statutarischer Bestimmungen zuständig, wenn der Mangel nicht derart schwer
wiegt, dass er die Nichtigkeit der betroffenen Norm zur Folge hat (E. 3a
und b).

    - In casu Zuständigkeit zur Beurteilung einer geltend gemachten
Verletzung des Anhörungsrechts gemäss Art. 51 Abs. 5 BVG verneint (E. 3c).

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 3

    3.- a) Die Beschwerdeführer rügen wie schon im vorinstanzlichen
Verfahren, dass die Übergangsbestimmung von Art. 97 VVK, auf welche
sich das kantonale Finanzdepartement bei der Ablehnung der Forderung
auf Ausrichtung einer Kapitalabfindung nach Art. 41 VVK stützt, in
Verletzung der zwingenden bundesrechtlichen Bestimmung von Art. 51
BVG zustande gekommen sei, indem das in Absatz 5 dieser Bestimmung
festgelegte Anhörungsrecht der paritätischen Verwaltungskommission nicht
gewahrt worden sei. Nach dieser Vorschrift haben öffentlichrechtliche
Vorsorgeeinrichtungen bei Erlass der reglementarischen Bestimmungen das
paritätisch besetzte Organ anzuhören.

    Die Vorinstanz ist auf die Rüge eingetreten mit der Feststellung,
dass mit der Klage nach Art. 73 BVG insbesondere auch ein Verstoss gegen
wesentliche Form- und Verfahrensvorschriften geltend gemacht werden
könne. Darin eingeschlossen sei die Rüge der Rechtswidrigkeit eines
angewandten Rechtssatzes, nicht zuletzt im Lichte des Grundsatzes der
derogatorischen Kraft des Bundesrechts. Bei Zweifeln über die Gültigkeit
eines kantonalen Rechtssatzes seien Gerichte und Verwaltungsbehörden
verpflichtet, vorfrageweise seine Bundesrechtsmässigkeit zu überprüfen und
ihm allenfalls die Anwendung zu versagen. Es sei daher zu untersuchen, ob
die Bestimmung von Art. 97 VVK unter Verletzung von Art. 51 BVG erlassen
worden sei und welche Folgen gegebenenfalls an eine solche Verletzung zu
knüpfen seien.

    b) Nach der Rechtsprechung lässt das in Art. 73 BVG vorgesehene
Klageverfahren mit anschliessender Verwaltungsgerichtsbeschwerde
keine abstrakte Kontrolle von reglementarischen Bestimmungen
der Vorsorgeeinrichtungen im Sinne von Art. 50 Abs. 1 BVG - zu
welchen Bestimmungen auch die von Einrichtungen des öffentlichen
Rechts erlassenen Vorschriften gehören (Art. 50 Abs. 2 BVG) - durch
das Eidg. Versicherungsgericht zu (BGE 115 V 372, 112 Ia 185 E. 2c;
vgl. auch MEYER, Die Rechtswege nach dem BVG, in: ZSR 106 (1987) I
S. 616). Dagegen kann der Richter nach Art. 73 Abs. 1 und 3 BVG bei
der Beurteilung eines konkreten Streitfalles im Rahmen der inzidenten
Normenkontrolle (vorfrageweise) prüfen, ob einzelne reglementarische
oder statutarische Bestimmungen bundesrechtswidrig sind. (BGE 112 Ia 191
E. 4; MEYER, aaO, S. 617 oben). Fraglich ist, ob dies auch dann gilt,
wenn nicht die materielle Bundesrechtswidrigkeit einer reglementarischen
oder statutarischen Bestimmung gerügt wird, sondern der Umstand, dass
bei deren Erlass Verfahrensvorschriften, insbesondere diejenigen über die
paritätische Verwaltung gemäss Art. 51 BVG, nicht eingehalten worden sind.

    aa) Gemäss Art. 62 BVG wacht die nach Art. 61 Abs. 1 BVG vom Kanton
bezeichnete Aufsichtsbehörde darüber, dass die Vorsorgeeinrichtungen die
gesetzlichen Vorschriften einhalten, indem sie u.a. die Übereinstimmung
der reglementarischen Bestimmungen mit den gesetzlichen Vorschriften prüft
(Art. 62 Abs. 1 lit. a BVG). Die Aufsicht umfasst auch die Prüfung der
Frage, ob die Vorsorgeeinrichtung beim Erlass oder bei der Änderung von
Reglementen und Statuten die geltenden Verfahrensvorschriften, insbesondere
diejenigen von Art. 51 BVG, eingehalten hat. Bei öffentlichrechtlichen
Vorsorgeeinrichtungen ist darüber zu wachen, dass die nach Art. 51 Abs. 5
BVG geltende Pflicht zur Anhörung der paritätischen Organe befolgt wird.

    Die Aufsichtsbehörde ist befugt, Massnahmen zur Behebung von Mängeln
zu treffen (Art. 62 Abs. 1 lit. d BVG). Sie kann mit den gesetzlichen
Vorschriften nicht übereinstimmende Reglemente oder Teile davon aufheben
und den Vorsorgeeinrichtungen verbindliche Weisungen über die Ausgestaltung
entsprechender Bestimmungen erteilen. Auf Anzeige oder Beschwerde der von
einem Reglement oder Erlass einer Vorsorgeeinrichtung berührten Personen
hat sie die Gesetzmässigkeit zu prüfen und die erforderlichen Massnahmen
anzuordnen. Sie kann auch prüfen, ob ein Kassenreglement allenfalls
verfassungsmässige Rechte der Arbeitnehmer verletzt oder sonst gegen die
Bundesverfassung verstösst (BGE 112 Ia 187 E. 3b mit Hinweisen).

    Jeder Betroffene hat die Möglichkeit, entsprechende Verfahrensfehler
bei der zuständigen Aufsichtsbehörde zu rügen, wozu ihm das Rechtsmittel
der Aufsichtsbeschwerde offensteht (BGE 112 Ia 188 E. 3d; MEYER, aaO,
S. 621). Die Verfügungen der Aufsichtsbehörde können mit Beschwerde
an die Eidg. Beschwerdekommission weitergezogen werden (Art. 74 Abs. 2
lit. a BVG). Deren Entscheide unterliegen gemäss Art. 74 Abs. 4 BVG der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde beim Bundesgericht.

    bb) Zur Abgrenzung der Rechtswege nach Art. 73 und 74 BVG hat das Eidg.
Versicherungsgericht in BGE 115 V 373 E. 3 festgestellt, dass der vom
Gesetzgeber getroffenen Regelung in der Weise Rechnung zu tragen ist,
dass die Zuständigkeit nach Art. 73 BVG ausgeschlossen und diejenige nach
Art. 74 BVG gegeben ist, wenn der Rechtsstreit ausschliesslich oder doch
überwiegend eine abstrakte Normenkontrolle zum Gegenstand hat. Damit
wird insbesondere vermieden, dass der Rechtsuchende bei Änderungen von
Reglementen oder Statuten praktisch stets die Möglichkeit hat, eine
richterliche Überprüfung auf dem Weg von Art. 73 BVG herbeizuführen,
was sich mit der vom Gesetzgeber gewollten Regelung nicht vereinbaren
liesse. Dabei ist nicht zu übersehen, dass sich zwischen den Verfahren
nach Art. 73 und 74 BVG Überschneidungen ergeben können, indem
beispielsweise eine vom Bundesgericht im Rahmen seiner Kompetenz zur
abstrakten Normenkontrolle nach Art. 74 BVG als gesetzmässig bezeichnete
Reglementsbestimmung vom Eidg. Versicherungsgericht im Rahmen seiner
Kompetenz zur inzidenten Normenkontrolle nach Art. 73 BVG als gesetzwidrig
erachtet und deshalb im Einzelfall nicht angewandt wird (BGE 115 V 374
unten, 112 Ia 191 E. 4).

    Aus der vom Gesetzgeber getroffenen Regelung folgt des weitern
eine Abgrenzung nach der sachlichen Zuständigkeit in dem Sinne,
dass die Beurteilung aufsichtsrechtlicher Fragen und Anordnungen in
die Zuständigkeit der Aufsichtsbehörden und der Rechtsmittelinstanzen
nach Art. 74 BVG fällt (MEYER, aaO, S. 624; SCHWARZENBACH-HANHART, Die
Rechtspflege nach dem BVG, in: SZS 27 (1983) S. 208 f.). Dazu gehört der
Entscheid über Massnahmen zur Behebung von Verfahrensfehlern bei Erlass von
reglementarischen oder statutarischen Bestimmungen (Art. 62 Abs. 1 lit. d
BVG). Während die Aufsichtsbehörde und die Rechtsmittelinstanzen nach
Art. 74 BVG den Vorsorgeeinrichtungen die Einhaltung der entsprechenden
Vorschriften verbindlich vorschreiben können, fehlt dem Richter nach
Art. 73 Abs. 1 und 4 BVG diese Kompetenz. Er hat einzig die Möglichkeit,
die aufgrund eines festgestellten Verfahrensfehlers erlassene Regelung
im konkreten Einzelfall nicht anzuwenden, was im Hinblick darauf, dass
Verfahrensfehler häufig heilbar sind, nicht zu befriedigen vermag. Auch im
Rahmen der inzidenten Normenkontrolle ist es dem Richter nach Art. 73 BVG
daher grundsätzlich verwehrt, darüber zu entscheiden, ob reglementarische
oder statutarische Bestimmungen unter Beachtung der verfahrensrechtlichen
Vorschriften zustande gekommen sind. Ob dies auch dann zu gelten hat,
wenn der Verfahrensfehler derart schwer wiegt, dass er ausnahmsweise
die Nichtigkeit der Rechtsnorm zur Folge hat (ARV 1990 Nr. 23 S. 146;
ZAK 1982 S. 84 E. 3, je mit Hinweisen; vgl. auch IMBODEN/RHINOW,
Schweizerische Verwaltungsrechtsprechung, Band I, Nr. 40 S. 239 ff.),
bedarf im vorliegenden Fall keiner näheren Prüfung.

    c) Das Anhörungsrecht gemäss Art. 51 Abs. 5 BVG beinhaltet ein Recht
auf Mitsprache und nicht auf Mitbestimmung, wie es nach den Absätzen 1 bis
4 dieser Bestimmung für privatrechtliche Vorsorgeeinrichtungen Geltung
hat (RIEMER, Paritätische Verwaltung privat- und öffentlichrechtlicher
Personalvorsorgeeinrichtungen gemäss BVG, in: SZS 29 (1985) S. 18). Die
Verletzung dieser Konsultativpflicht (PFITZMANN, Die öffentlichrechtlichen
Pensionskassen im BVG-Obligatorium, in: SZS 29 (1985) S. 236) wiegt nicht
derart schwer, dass sie die Nichtigkeit der betroffenen Normen zur Folge
hätte. Es handelt sich insofern um einen heilbaren Verfahrensmangel, als
ohne weiteres die Möglichkeit besteht, eine allenfalls mangelhafte Anhörung
auf gesetzeskonforme Weise nachzuholen. Während die Aufsichtsbehörde
gestützt auf Art. 62 Abs. 1 lit. d BVG eine solche Massnahme anordnen
und weitergehende Sanktionen für den Fall vorsehen kann, dass der
Verfahrensfehler nicht innert gesetzter Frist behoben wird, könnte der
Richter nach Art. 73 Abs. 1 und 4 BVG nur auf Nichtanwendbarkeit der
in Frage stehenden Norm erkennen, was indessen ein unbefriedigendes
Ergebnis zur Folge hätte. Würde nämlich der gerügte Verfahrensfehler
zur Nichtanwendbarkeit der Übergangsbestimmung von Art. 97 VVK führen,
so bliebe praktisch nur die Möglichkeit offen, die Beschwerdeführer
vollständig den Leistungsbestimmungen der am 1. Januar 1990 in Kraft
getretenen neuen Verordnung zu unterstellen. Eine allenfalls ersatzweise
anwendbare Übergangsregelung besteht nicht, und es könnte weder auf
anderslautende Verordnungsentwürfe, welche dem paritätischen Organ vor
der Beschlussfassung durch den Regierungsrat vorgelegt worden waren,
noch auf das aufgehobene frühere Verordnungsrecht abgestellt werden. Eine
vollständige Unterstellung unter das neue Verordnungsrecht würde aber
offensichtlich nicht dem Willen des Verordnungsgebers entsprechen. Die
Übergangsbestimmungen dienen u.a. dazu, die erheblichen finanziellen
Mehrbelastungen, die sich aus der Herabsetzung des Rentenalters der
versicherten Männer um zwei Jahre ergibt, zu begrenzen. Es ist daher
anzunehmen, dass diese Bestimmungen einen wesentlichen Bestandteil der
Verordnungsrevision bildeten und die Neuordnung ohne die Übergangsregelung
nicht in Kraft gesetzt worden wäre.